EuGRZ 2003 |
26. Februar 2003
|
30. Jg. Heft 1-3
|
Informatorische Zusammenfassung
Bardo Fassbender, Berlin, arbeitet als zentralen Inhalt des völkerrechtlichen Gemeinwohls den Schutz der Menschenrechte heraus
«Die in der Antike geprägten Begriffe „Gemeinwohl“ und „Gemeinsinn“ sind in der Moderne zu politisch-sozialen Leitbegriffen avanciert – und dies gerade wegen ihrer inhaltlichen Unschärfe (…), und zwar vor dem Hintergrund des Umstands, dass der Staat seine lange Zeit über behauptete Monopolstellung als Hüter, Interpret und Durchsetzungsinstanz des Gemeinwohls verloren, gleichzeitig aber ein ausgeprägter gesellschaftlicher Pluralismus die Verständigung auf allgemeinverbindliche Gemeinwohlinhalte als identitätsstiftende Merkmale des „Gemeinwesens“ zunehmend erschwert hat.»
Der Autor setzt Schwerpunkte beim Völkerrecht im Dienste der Staatsräson, bei Koexistenz und Kooperation als „altem“ und „neuem“ Völkerrecht; er vertieft das von der Wissenschaft entwickelte Bild der „internationalen Gemeinschaft“ mit einer Klärung der völkerrechtlichen Gemeinwohlterminologie, der verschiedenen Positionen in der Lehre (international community school) und der Konstitutionalisierung des Völkerrechts sowie der entsprechenden Normen vom ius cogens bis zum Völkerstrafrecht. Sodann skizziert er den hier interessierenden materiellen Gehalt der UN-Charta sowie völkerrechtlicher Verträge und Erklärungen:
«Sucht man nach einem verbindenden Merkmal der verschiedenen Inhaltsbestimmungen des Gemeinwohls der internationalen Gemeinschaft, so ist es der Schutz des einzelnen Menschen – vor kriegerischer Gewalt, vor Verletzungen seines Lebens, seiner Gesundheit, Freiheit und Würde im Frieden und im Krieg, vor schweren Gefährdungen seiner natürlichen Umwelt.»
Fassbender lenkt bei der Bewertung der Perspektiven die Aufmerksamkeit allerdings auch auf die Problemlagen, die sich aus der Langsamkeit des Völkerrechts ergeben: «Auch wohlmeinende Staaten sind hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, eine möglichst große rechtliche Selbständigkeit zu bewahren, und der Einsicht, dass die Menschheit einer wirkungsvolleren internationalen Organisation dringend bedarf.» (Seite 1)
Dieter Kugelmann, Mainz/Bielefeld, untersucht in der jüngeren Rechtsprechung des EGMR die private Individualkommunikation als Schutzgut der EMRK
«Der Nutzer moderner Kommunikationsmittel befindet sich in einer Situation gefährdeter Vertraulichkeit. Menschenrechtliche Relevanz gewinnt sie dadurch, dass die Unbefangenheit im Rahmen des Kommunizierens grundsätzlich dem Schutz der Menschenrechte unterliegt. (…) Das Erstellen von Persönlichkeitsprofilen unterschiedlichen Ausmaßes kann öffentlichen Zwecken ebenso dienen wie privaten Zwecken.»
Der Beitrag gewichtet in der Auseinandersetzung mit der Straßburger Rechtsprechung die Gewährleistungen von Art. 10 EMRK (Meinungsäußerungsfreiheit) und Art. 8 EMRK (Anspruch auf Achtung des Privatlebens) und ihr Verhältnis zueinander.
Kugelmann kommt zu dem Schluss: «Privatheit entfaltet sich im gesellschaftlichen Raum durch Kommunikation. In diesem Zusammenhang wirkt Art. 8 EMRK parallel zu Art. 10 GG und zu Ausprägungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts. Sofern Art. 10 EMRK nicht greift, erfolgt die Sicherung der Individualkommunikation aufgrund des Schutzes der Privatsphäre nach Art. 8 EMRK. Die Menschenrechte erzwingen eine weitestgehende Verminderung des Risikos, durch den bloßen Umstand des Kommunizierens Einblicke oder gar Eingriffe in die Privatsphäre zuzulassen.» (Seite 16)
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Straßburg, erachtet 10jährige Verfahrensdauer vor dem Bundesverfassungsgericht als nicht angemessen / Becker gegen Deutschland
Im zivilgerichtlichen Ausgangsverfahren ist die Höhe der von der Deutschen Bundespost geschuldeten Vergütung – über die gezahlten 51.038,95 DM hinaus – für eine Arbeitnehmererfindung zum Induktionsschutz von Fernmeldekabeln strittig. Das BVerfG hatte die Verfassungsbeschwerde gegen die Klage abweisenden Urteile wegen mangelnder Erfolgsaussicht nicht zur Entscheidung angenommen. (Seite 26)
Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH), Luxemburg, billigt Aufenthaltsbeschränkungen ausländischer EU-Bürger aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit (hier: Terrorismusverbindungen, ETA) / Rs. Oteiza Olazabal
Die gemeinschaftsrechtliche Grundfreiheit der Arbeitnehmerfreizügigkeit ist nicht verletzt, wenn für die Beschränkung des Aufenthaltsrechts des betroffenen Arbeitnehmers (1.) auf sein individuelles Verhalten gestützte Gründe der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit vorliegen, (2.) die aufenthaltsbeschränkenden Maßnahmen verhältnismäßig sind und (3.) der Staat gegen eigene Staatsbürger in vergleichbarer Lage repressive oder andere effektive Maßnahmen ergreift.
Der EuGH führt aus: «Der Beklagte des Ausgangsverfahrens wurde … in Frankreich wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung, die sich zum Ziel gesetzt hat, die öffentliche Ordnung durch Einschüchterung oder Terror zu erschüttern, zu 18 Monaten Freiheitsstrafe und zu vier Jahren Aufenthaltsverbot verurteilt. Aus den Akten ergibt sich, dass die ihm gegenüber [nach Ablauf des vierjährigen Aufenthaltsverbots] getroffenen ordnungsbehördlichen Maßnahmen, um deren Rechtmäßigkeit es im Ausgangsverfahren geht, dadurch veranlasst wurden, dass er einer bewaffneten und organisierten Gruppe angehörte, deren Tätigkeit die öffentliche Ordnung im französischen Hoheitsgebiet beeinträchtigt. (…)
Im Übrigen ist es Sache der nationalen Gerichte zu kontrollieren, ob sich die im konkreten Fall getroffenen Maßnahmen tatsächlich auf ein individuelles Verhalten beziehen, das eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit darstellt, und ob sie zudem den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachten.»
Um den in Frankreich arbeitenden spanischen Staatsangehörigen baskischer Herkunft von der spanischen Grenze fernzuhalten, hatte der Innenminister Aufenthaltsverbote für 31 Departements verfügt. Der Präfekt des in der Nachbarschaft von Paris gelegenen Départements Hauts-de-Seine hatte ihm zudem verboten, dieses Département ohne Erlaubnis zu verlassen. (Seite 28)
Gericht erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften (EuG), Luxemburg, erklärt Nichtigkeitsklage gegen die Genehmigung der EU-Kommission des Programms zum Erwerb agrar- und forstwirtschaftlicher Flächen in der ehemaligen DDR für zulässig / Rs. Aktionsgemeinschaft Recht und Eigentum
«Im vorliegenden Fall ist die Klage dahin auszulegen, dass mit ihr der Kommission zur Last gelegt wird, trotz der ernsthaften Schwierigkeiten bei der Vereinbarkeitsprüfung der fraglichen Beihilfen nicht das förmliche Verfahren des Artikels 88 Abs. 2 EG eingeleitet zu haben, so dass mit ihr letztlich eine Durchsetzung der in dieser Bestimmung verliehenen Verfahrensgarantien bezweckt wird.»
Im Kern geht es darum, dass die in der sowjetischen Besatzungszone bzw. in der Deutschen Demokratischen Republik enteigneten oder sonst vermögensrechtlich geschädigten Alteigentümer sich beim Wiedererwerb land- oder forstwirtschaftlicher Flächen gegenüber den Nachfolgebetrieben der ehemaligen landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften des SED-Regimes empfindlich zurückgesetzt fühlen und deren Bevorzugung als unzulässige Beihilfen angreifen.
Die Kommission hatte in einer ersten Entscheidung (vom 20. Januar 1999) die gesetzliche Regelung über den Flächenerwerb gem. Ausgleichsleistungsgesetz nach einem förmlichen Prüfungsverfahren als gegen Gemeinschaftsrecht verstoßend beanstandet. Der Entwurf für das nachbessernde Vermögensrechtsergänzungsgesetz wurde von der Kommission ohne Einleitung eines förmlichen Prüfungsverfahrens mit Entscheidung vom 22. Dezember 1999 genehmigt, worauf das Gesetz verabschiedet wurde. DieseEntscheidung der Kommission greift die Aktionsgemeinschaft an.
Das EuG stellt fest, die Klägerin sei durch die angefochtene Entscheidung der EU-Kommission individuell und unmittelbar betroffen, Verfahrensmissbrauch könne ihr nicht vorgeworfen werden. Die Nichtigkeitsklage ist deshalb zulässig. (Seite 31)
Schweizerisches Bundesgericht (BGer), Lausanne, bestätigt die Verordnung des Grossen Rates von Graubünden über die Kantonspolizei
«Die angefochtene Regelung über die Ordnungs- und Sicherheitspolizei ist, wie sich aus der Botschaft der Regierung ergibt, vor dem Hintergrund der Durchführung des Weltwirtschaftsforums und der hierfür erforderlichen Sicherheitsmassnahmen entstanden. Die vorgeschlagenen Massnahmen mit Fernhalteanordnungen, Errichtung von Sperrzonen und Sicherstellen von Gegenständen sollen die Sicherheit bei Grossanlässen gewährleisten. Den neuen Bestimmungen der Kantonspolizei-Verordnung kommt indessen darüber hinaus eine weit allgemeinere Bedeutung zu. Sie erlauben in genereller Weise, konkreten Gefährdungslagen zu begegnen.»
Das BGer kommt zu dem Ergebnis, dass die angefochtenen Regelungen vor den Grundrechtsgewährleistungen und den Anforderungen an Einschränkungen in Freiheitsrechten standhält, und weist die staatsrechtliche Beschwerde ab. (Seite 39)
BGer bekräftigt Anspruch für betroffene Medienschaffende auf Einsicht in medienrelevante Polizei-interne Dienstanweisungen der Stadt Zürich auch außerhalb eines förmlichen Verfahrens
Es handelt sich erstens um eine Dienstanweisung betr. „Orientierung der Massenmedien bei unfriedlichem Ordnungsdienst“ und zweitens betr. „Bildaufnahmen von Polizeibeamtinnen/-beamten“. Der Medienschaffende R. war wegen des Verdachts festgenommen worden, er erstelle Portraitaufnahmen von einzelnen Polizeiangehörigen im Einsatz. Er und die comedia-Mediengewerkschaft haben nach Erschöpfung des kommunalen Instanzenzuges gegen den negativen Entscheid des Regierungsrats mit Erfolg staatsrechtliche Beschwerde erhoben. (Seite 45)
Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, erachtet die Entscheidung des Gesetzgebers, das nichteheliche Kind bei seiner Geburt sorgerechtlich grundsätzlich der Mutter zuzuordnen, für verfassungsgemäß
«Das Kindeswohl verlangt, dass das Kind ab seiner Geburt eine Person hat, die für das Kind rechtsverbindlich handeln kann. Angesichts der Unterschiedlichkeit der Lebensverhältnisse, in die nichteheliche Kinder hineingeboren werden, ist es gerechtfertigt, das Kind bei seiner Geburt sorgerechtlich grundsätzlich der Mutter und nicht dem Vater oder beiden Eltern gemeinsam zuzuordnen. (…)
Auch den Eintritt einer gemeinsamen Sorgetragung an das Vaterschaftsanerkenntnis zu knüpfen, machte es nicht entbehrlich, zunächst der Mutter die Alleinsorge für das nichteheliche Kind zuzuweisen. Denn angesichts des Umstandes, dass nur für ein Drittel der nichtehelichen Kinder bei deren Geburt die Vaterschaft anerkannt ist, sichert allein die Regelung des § 1626 a Abs. 2 BGB dem Kind zu diesem Zeitpunkt einen feststehenden Sorgerechtsträger. (…) Zum derzeitigen Zeitpunkt ist nicht ersichtlich, dass das Regelungskonzept der gemeinsamen Sorgetragung nicht miteinander verheirateter Eltern in § 1626 a Abs. 1 Nr. 1 BGB das Elternrecht des Vaters eines nichtehelichen Kindes aus Art. 6 Abs. 2 GG verletzt.» (Seite 48)
BVerfG erklärt Ausschluss eines Vaters von der Hauptverhandlung gegen seinen minderjährigen Sohn wegen Verletzung des elterlichen Erziehungsrechts aus Art. 6 Abs. 2 GG für verfassungswidrig und § 51 Abs. 2 des Jugendgerichtsgesetzes für nichtig
«Es gehört zu dem von Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG geschützten Verantwortungsbereich der Eltern, die Rechte ihrer Kinder dem Staat oder Dritten gegenüber zu schützen.» (Seite 58)
BVerfG erklärt das Zuwanderungsgesetz wegen der uneinheitlichen, demzufolge ungültigen Stimmabgabe des von einer SPD/CDU-Koalition regierten Landes Brandenburg und der daraus resultierenden fehlenden Zustimmung des Bundesrates für nichtig
Das Zuwanderungsgesetz war am 1. März 2002 mit der Regierungsmehrheit im Bundestag von SPD und Grünen verabschiedet worden. Diese Koalition hat auf Länderebene keine Mehrheit. So kam es bei der Abstimmung im Bundesrat am 22. März 2002 zu einem Eklat. Das Bundesland Brandenburg hätte mit einem zustimmenden Votum den Ausschlag für die Zustimmung des Bundesrates gegeben. Es wird jedoch von einer Koalition aus SPD und CDU regiert. Innenminister Jörg Schönbohm (CDU) kündigte in einer detaillierten Rede an, dass und warum er mit Nein stimmen werde. Beim Aufruf der Länder zur Abstimmung stimmten Minister Alwin Ziel (SPD) mit Ja und Minister Schönbohm (CDU) mit Nein. Bundesratspräsident Klaus Wowereit (Berlin, SPD) fragt sodann Ministerpräsident Manfred Stolpe (SPD), wie das Land abstimme. Dieser erklärt, Brandenburg stimme mit Ja.
Die Landesregierungen des Saarlandes und von Baden-Württemberg, Bayern, Hessen, Sachsen und Thüringen stellen Antrag auf Normenkontrolle. Das BVerfG gibt dem statt: «Der Bundesratspräsident durfte die Stimmabgabe für das Land Brandenburg nicht als Zustimmung werten.» (Seite 67)
Die Richterinnen Osterloh und Lübbe-Wolf argumentieren in ihrer abweichenden Meinung: «Die Auffassung der Senatsmehrheit läuft darauf hinaus, dass der Bundesratspräsident das Recht eines Landes zur Korrektur seiner Stimmabgabe für den konkreten Fall beseitigt, wenn er dem Land unveranlasst die Gelegenheit dazu anbietet. Das ist ein staatsrechtliches Unikat.» (Seite 75)
Konvent der Europäischen Union, Brüssel – Präsidium legt Entwurf der Art. 1-16 des Verfassungsvertrags vor
Titel I (Art. 1-4) definiert Gründung, Werte, Ziele und Rechtspersönlichkeit der Union, Titel II (Art. 5-7) Grundrechte und Unionsbürgerschaft. Die Charta der Grundrechte soll integraler Bestandteil der Verfassung werden. Die Union kann der EMRK beitreten.
Titel III (Art. 8-16) regelt die Zuständigkeiten der Union. Dem Text sind Erläuterungen beigegeben. (Seiten 79/82)
BVerfG-Präsident Hans-Jürgen Papier plädiert in Luxemburg für Subsidiarität einer eventuellen EU-Grundrechtsbeschwerde, d. h. «eine sinngemäße Heranziehung der „Solange-Rechtsprechung“ des Bundesverfassungsgerichts – in umge kehrter Richtung». (Seite 85)
EuGH / Generalanwalt Antonio Tizzano kommt in seinen Schlussanträgen über die Erhebung und Veröffentlichung von namentlichen Daten zur Einkommenshöhe von Arbeitnehmern staatlicher Unternehmen durch den Rechnungshof in Österreich zu dem Ergebnis, dies unterfalle nicht dem gemeinschaftsrechtlichen Datenschutz. (Seite 85)