EuGRZ
28. Mai 2024
51. Jg. Heft 1-9

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Informatorische Zusammenfassungen

Juliane Kokott, St. Gallen/Luxemburg, und David Hummel, Leipzig/Luxemburg, hinterfragen die Gleichheit der EU-Mitgliedstaaten als neuartigen Begründungsansatz der Einschränkung einer Ultra-vires-Kontrolle durch die Gerichte der Mitgliedstaaten / Der Vorrang des Unionsrechts als Ausdruck des Gleichheitsprinzips?

 Der Beitrag baut auf einem Vortrag auf, den die Erstverfasserin bei einer gemeinsamen Arbeitssitzung anlässlich eines Besuchs des Bundesverfassungsgerichts beim Gerichtshof der Europäischen Union am 13. November 2023 in Luxemburg gehalten hat.

 Zu Sinn und Zweck des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts heißt es u.a.: «Ursprünglich ist der Anwendungsvorrang des Unionsrechts – der hier nicht in Frage gestellt wird – nämlich als eine Kollisionsnorm entwickelt worden. Das zeigt schon die oben zitierte Entscheidung Costa/ENEL [1964]. Völlig zu Recht betont daher auch der Präsident des Gerichtshofs, Koen Lenaerts, seinen Charakter als Kollisionsregel. Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts setzt daher zwei (gültige, kompetenzgemäß erlassene und unmittelbar anwendbare) Regelungen – davon eine aus dem Unionsrecht – voraus, die sich in der Rechtsfolge widersprechen. Nur dann ist überhaupt eine Entscheidung nötig, welche Rechtsfolge vorrangig anzuwenden ist.»

 Zur Gleichheit der Mitgliedstaaten wird ausgeführt: «Es ist keine Privilegierung eines Mitgliedstaates, wenn dieser – möglicherweise anders als andere Mitgliedstaaten – bestimmte Kompetenzen aufgrund seiner Verfassung schlichtweg nicht übertragen durfte und daher enger gebunden war und ist, als andere Mitgliedstaaten dies sind. Es ist auch keine Privilegierung, wenn ein Mitgliedstaat über ein Verfassungsgericht verfügt, welches seine Aufgabe –Wahrung der Verfassung – ernst nimmt und andere Mitgliedstaaten ein solches Verfassungsgericht nicht kennen. Aus der Gleichheit der Mitgliedstaaten, die zu achten eine Verpflichtung der Union ist (vgl. Art. 4 Abs. 2 EUV), eine Pflicht der einzelnen Mitgliedstaaten herzuleiten, auf eine Kontrolle ihres Zustimmungsgesetzes zu verzichten, ist schon eine bemerkenswerte Argumentation. (…)

 Eine Argumentation, die einen absoluten Anwendungsvorrang des Unionsrechts aufgrund der Gleichheit der Mitgliedstaaten herleitet, ist zumindest in rechtsdogmatischer Hinsicht – etwas Anderes mag in politischer Hinsicht gelten – eine neue Dimension und nicht überzeugend. Gerichtsurteile müssen aber auch dogmatisch und methodisch überzeugen. Dogmatik und die Methodik begrenzen und legitimieren die richterliche Macht und sind Grundlage ihrer Akzeptanz.»

 Kokott/Hummel sehen folgende Konsequenzen: «Die Lösung von Konflikten zwischen dem vorrangig anzuwendenden Unionsrecht und innerstaatlichen Vorbehalten zum Geltungsgrund des Unionsrechts (mithin zur wirksamen Kompetenzübertragung) ist unabhängig von einem Prinzip der Gleichheit der Mitgliedstaaten. Daher kann dieses Prinzip zur Lösung nicht viel beitragen.

 Wichtiger ist hingegen ein kooperativer Umgang der betroffenen Akteure miteinander, um das dem derzeitigen System inhärente Konfliktpotential zu minimieren. Dies bedingt ein vorheriges Vorabentscheidungsersuchen der mitgliedstaatlichen Gerichte, die auf das Risiko der Annahme eines Ultra-vires- Aktes dezidiert hinweisen. Notwendig ist aber auch ein sensibler Umgang mit den Bedenken des betreffenden Mitgliedstaates auf Seiten des Gerichtshofs, bei der Beantwortung dieses Vorabentscheidungsersuchens. Das Beharren auf einem absoluten Anwendungsvorrang des Unionsrechts unter Berufung auf das Prinzip der Gleichheit der Mitgliedstaaten ist für den Bestand einer stabilen Union hingegen genauso gefährlich, wie eine großzügige oder leichtfertige Annahme von Ultra-vires- Akten durch die mitgliedstaatlichen Gerichte.

 Im Ergebnis lebt die EU von der Akzeptanz ihrer Handlungen. Bestehende verfassungsrechtliche Grenzen der Mitgliedstaaten bei der Übertragung der Kompetenzen auf die EU sind jedoch in einem System der begrenzten Kompetenzübertragung genauso zu akzeptieren, wie möglicherweise für falsch gehaltene Entscheidungen des EuGH zur Auslegung des Unionsrechts.» (Seite 1)

 Theodor Schilling, Aix-en-Provence, untersucht die EMRK als „living instrument“ sowie die Funktion des europäischen Kosenses in der Rechtsprechung des EGMR und knüpft an ein Goethe- Zitat an: „Vom Rechte, das mit uns geboren ist“ / Überlegungen aus Anlass von EGMR, Fedotova gegen Russland (2023)

 «Menschliche Gesellschaften entwickeln sich, ihre Werte wandeln sich. Mit den Werten wandelt sich in der Moderne regelmäßig auch das Recht, zumeist im Wege der Gesetzgebung. Für die völkerrechtlichen Menschenrechte ist hingegen kennzeichnend, dass der Entwicklung der Gesellschaft eine gleichbleibende rechtliche Quellenlage gegenübersteht. Ihre juridischen Quellen in völkerrechtlichen Verträgen, hier: der EMRK, sind nur schwer zu ändern, wenn sie auch punktuell durch Protokolle ergänzt worden sind. So haben etwa grundstürzende Umwertungen im Bereich der Sexualmoral im weitesten Sinne, die sich seit Aushandlung und Ratifizierung der Konvention namentlich in westlichen Gesellschaften ergeben haben, bisher nicht zu Vertragsänderungen geführt. Im Völkerrecht der Menschenrechte haben stattdessen die Vertragsorgane, für Europa, UN-AMR und EGMR, die Verträge dynamisch ausgelegt, zu „living instruments, instruments vivants“ erklärt: Die Verträge leben.

 Der EGMR hat das für die EMRK jüngst [17.1.2023] im Urteil Fedotova der Großen Kammer (Anlassfall) bekräftigt. Er hat zunächst geprüft, ob der ihm unterbreitete Sachverhalt in den Schutzbereich des Art. 8 EMRK fällt. Dann hat er Art. 8 dahin konkretisiert, dass alle Vertragsstaaten verpflichtet seien, gleichgeschlechtlichen Paaren für ihre Partnerschaft einen rechtlichen Rahmen zur Verfügung zu stellen, der ihnen Anerkennung und Schutz bietet (im Folgenden: geschützte Rechtsposition). Er hat damit eine relativ konkrete generelle Norm (Maßstabsnorm) gefunden, die so zuvor nicht galt, also nicht existierte, und die über den entschiedenen Einzelfall hinaus für alle Vertragsstaaten verbindlich ist, also generelle, objektive Wirkung hat. Schließlich hat er geprüft, ob der Vertragsstaat dieser Norm gerecht wurde. Mit seiner Entscheidung hat er, wie Richter es generell tun, eine individuelle, also ganz spezifische Norm gesetzt, mit der er die ihm grundsätzlich vorgegebene Norm, hier: die von ihm selbst gefundene Maßstabsnorm, anwendet, nämlich – hier – die bindende Feststellung der Verletzung einer dem Vertragsstaat von der EMRK – der Maßstabsnorm – auferlegten Pflicht.

 Dieses Urteil sowie die abweichende Meinung von Richter Wojtyczek geben Anlass, der Metapher vom „Leben“ der EMRK – die besagen will, dass diese nach den Umständen der jeweiligen Jetztzeit auszulegen ist und damit heute auch manche Interessen Einzelner schützt, die zur Zeit ihrer Aushandlung oder Ratifizierung allgemein nicht als schutzwürdig betrachtet wurden – nachzugehen. Paradigmatisch wird dabei die Frage von „positive obligations“ unter Art. 8 EMRK betrachtet.

 Im Folgenden wird zunächst festgestellt, dass der Text der EMRK, namentlich ihres Art. 8, regelmäßig durch Rückgriff auf „andere Quellen“ konkretisiert werden muss. Als solche „andere Quelle“ bietet sich in erster Linie das Recht der Vertragsstaaten als der Herren der Konvention an. Dabei verdient deren jeweils zeitgenössisches Recht, soweit es von dem historischen abweicht, den Vorzug gegenüber diesem. Anschließend wird die Rechtsprechung des EGMR zum „Leben“ der Konvention erörtert, die wesentlich mit den beiden Konzepten des Beurteilungsspielraums und des europäischen Konsenses arbeitet. Diese Rechtsprechung ist zunächst zu rekapitulieren. Sie wirft Fragen auf, die namentlich die Erstreckung von Gewährleistungspflichten auf Vertragsstaaten betreffen, die entgegen einem neuen europäischen Konsens an überkommenen Regelungen festhalten wollen. Diese Fragen lassen sich unter Rückgriff auf soziologische Erwägungen beantworten. Die gefundene Antwort weckt Zweifel an der Rolle, die die Rechtsprechung des EGMR dem europäischen Konsens regelmäßig zuweist. Vielmehr sollte der europäische Konsens, wie auch die Anlassentscheidung nahelegt, als quasilegislatorischer Vorgang begriffen werden.» (Seite 7)

 Florian Kriener, Heidelberg, zu den Grenzen der Völkermordkonvention – „Das Urteil des Internationalen Gerichtshofs vom 2. Februar 2024 zur Zulässigkeit der Klage der Ukraine gegen die Russische Föderation wegen Verletzungen der Völkermordkonvention“

 «Vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) sind Verfahren unter der Völkermordkonvention derzeit auf einem Höchststand. Gambia erhob bereits 2017 Klage gegen Myanmar wegen des Vorwurfs des Genozids an der Volksgruppe der Rohingya im Bundesstaat Rakhine. Ende 2023 hat Südafrika Klage gegen Israel mit dem Vorwurf erhoben, Völkermord im Rahmen seiner Verteidigungsmaßnahmen in Gaza zu begehen. Am 1. März 2024 erhob zudem Nicaragua Klage gegen Deutschland wegen der deutschen Unterstützung für Israel in dem Konflikt. Diese Klagen spiegeln das Bedürfnis der internationalen Gemeinschaft wider, Streitigkeiten über militärische Konflikte einer friedlichen Streitbeilegung zuzuführen. Vor diesem Hintergrund ist auch das Verfahren zwischen der Ukraine und Russland unter der Völkermordkonvention von höchster Bedeutung. Der IGH hat durch Urteil vom 2. Februar 2024 in diesem Verfahren seine Zuständigkeit in acht von neun Punkten mit großer Mehrheit angenommen. Was zunächst wie ein umfassender Erfolg für die Ukraine aussieht, ist bei genauerer Betrachtung nur bedingt als Erfolg zu werten. Der IGH hat sich für die eigentlich relevante Frage – ob Russland durch seine Aggression seit dem 24. Februar 2022 die Völkermordkonvention verletzt – unzuständig erklärt. Das weitere Verfahren wird daher weitestgehend unbedeutend sein, da die schweren Rechtsverletzungen Russlands gegenüber der Ukraine (völkerrechtswidrige „Annexion“ der Krim, völkerrechtswidrige Unterstützung bewaffneter Gruppen, völkerrechtswidrige „Annexion“ von vier ukrainischen Provinzen und die völkerrechtswidrige Aggression seit dem 24. Februar 2022) nicht Gegenstand des Verfahrens sein können. Damit hat der IGH seine bisherige Rechtsprechung bestätigt und dem Versuch, durch die Völkermordkonvention militärische Auseinandersetzungen zur Anklage zu bringen, erneut einen Riegel vorgeschoben.

 Das Urteil vom 2. Februar 2024 soll hier kritisch bewertet werden. Nach einem kurzen Überblick der Prozessgeschichte (II.) wird der wesentliche Inhalt des Urteils wiedergegeben (III.). Darauf folgt eine Auseinandersetzung mit den Sondervoten (IV.) und der Bedeutung der 32 Drittstaateninterventionen in dem Verfahren (V.). Abschließend wird die Bedeutung des Urteils für die Völkermordkonvention erörtert und ein Ausblick auf das weitere Verfahren gegeben (VI.).» (Seite 20)

 Julia Hänni, Lausanne, erarbeitet aus dem EGMR-Urteil Verein KlimaSeniorinnen gegen die Schweiz vom 9. April 2024 „Essentialia und Leitlinien zum Klimaschutz für die Mitgliedstaaten des Europarats“

 «[1] Der EGMR hat die Konvention erstmals im Bereich der negativen Auswirkungen des Klimawandels zur Anwendung gebracht. Dies, nachdem drei Rechtssachen (…) von unterschiedlichen Kammern (…) an die Große Kammer abgegeben worden waren. Für Grundsatzfragen neue Weichen zu stellen, ist auch für den EGMR keine Routineaufgabe.

 [2] Auch wenn die Begründungen in den am 9. April 2024 entschiedenen drei Fällen [Verein KlimaSeniorinnen Schweiz u.a. ./. Schweiz, Duarte Agostinho u.a. ./. Portugal u.a., Carême ./. Frankreich] umfangreich und komplex sind, bringen sie Klärung in Bezug auf dringende Fragen zur Tragweite der Konvention für den Bereich der Menschenrechtsverletzungen infolge Klimawandels. Der EGMR entwickelt konkrete Kriterien, die inskünftig in den 46 Mitgliedstaaten der EMRK maßgebend sind. So grenzt der Gerichtshof die Opfereigenschaft und den locus standi von der Popularklage im Bereich der Klimaklagen ab [Rz. 60 bzw. Rz. 67 ff.]. Für die Opfereigenschaft der Individuen statuiert er hohe Hürden, die er zugleich anhand zweier Gesichtspunkte konturiert (Rz. 60-64). Innovativ mutet der locus standi von Organisationen an, auch hierfür werden die anzuwendenden Voraussetzungen umschrieben (Rz. 71-74). Im materiellen Hauptteil werden die positiven Pflichten der Vertragsstaaten unter Art. 8 EMRK mit Bezugnahme auf die im Rahmen des Klimaabkommens von Paris zugesicherten nationalen Reduktionsbeiträge bestimmt (Rz. 105 ff. und 115 ff.). Verfahrensrechtlich bedeutsam ist schließlich der Zugang zu einem Gericht im Sinne von Art. 6 EMRK, der sich auf das bestehende nationale Gesetzesrecht stützt (Rz. 157 ff.).

 [3] Im Folgenden geht es darum, die Überlegungen des Gerichtshofs nachzuskizzieren und die Leitlinien herauszuarbeiten. Vorangestellt werden für das Gesamtverständnis – in aller Kürze – die für das Urteil relevanten wissenschaftlichen Grundlagen und die rechtlichen Rahmenbedingungen.»

 Einen Schwerpunkt bildet die Frage der Kausalität zwischen staatlicher Unterlassung und Beeinträchtigung der Konventionsrechte sowie die Zurechenbarkeit der Verantwortung.

 «[46] Der Gerichtshof weist darauf hin, dass er die Form von staatlicher Zurechenbarkeit, die man geteilte Verantwortung nennen könnte, auch bereits in anderen Zusammenhängen herangezogen hat. Das Konzept stehe namentlich in Einklang mit den Grundsätzen zur Staatenverantwortlichkeit, das sich gerade dadurch auszeichnet, dass die Verantwortung jedes Staates individuell – auf der Grundlage seines eigenen Verhaltens und unter Bezugnahme auf seine eigenen internationalen Verpflichtungen – bestimmt wird. In ähnlicher Weise lägen Beeinträchtigungen der Konventionsrechte infolge Handlungen oder Unterlassungen zur Bekämpfung negativer Auswirkungen des Klimawandels in der Verantwortung jeder Vertragspartei, vorbehaltlich ihrer Zuständigkeit im Sinne von Art. 1 der Konvention. Der Gerichtshof folgert: „Da die Zuständigkeit gemäß Artikel 1 grundsätzlich territorial ist, hat jeder Staat im Rahmen seiner eigenen territorialen Zuständigkeit seine eigenen Verantwortlichkeiten in Bezug auf den Klimawandel“. (…) [49] Der Gerichtshof hält dabei nochmals die Relevanz der obigen Ausführungen zur Kausalität und Zurechenbarkeit im Rahmen der Konvention fest: Er ist ausschließlich dazu befugt, die Einhaltung der Konvention sicherzustellen. Es obliegt dem Gerichtshof demgegenüber nicht, die Einhaltung anderer internationaler Verträge oder Verpflichtungen sicherzustellen.

 [50] Gleichermaßen kann der Gerichtshof im Rahmen der Auslegung und Anwendung der Konvention jedoch, so betont er, weder die tatsächlichen Entwicklungen ignorieren, welche menschenrechtliche Ansprüche beeinträchtigen, noch die rechtlichen Instrumente, welche die Staaten geschaffen haben, um den Beeinträchtigungen entgegenzuwirken.

 [51] Der Gerichtshof bezieht sich dabei vor allem auf den Konsens, der sich „aus den völkerrechtlichen Instrumenten ergibt, denen die Mitgliedstaaten freiwillig beigetreten sind, und auf die damit einhergehenden Verpflichtungen, zu deren Respektierung sie sich vertraglich gebunden haben“. Dazu gehören für den Gerichtshof auch die Klimaverträge, namentlich die sich von den Staaten selbst auferlegten Verpflichtungen im Rahmen des Klimaübereinkommens von Paris. Der Gerichtshof muss sich diese Erwägungen vergegenwärtigen (bear in mind), wenn er „seine Beurteilung im Rahmen der Konvention vornimmt“.»

 Zum Problem der Zulässigkeit stellt Hänni fest: «[67] Auch für die Frage, ob Organisationen für ihre Mitglieder im Bereich des Klimarechts postulieren können, entwickelt der EGMR neue Kriterien. Dabei geht es nicht um die Frage, ob die Organisation selbst ein Opfer ist (das ist sie im Zusammenhang mit Art. 8 nicht), sondern vielmehr um den locus standi von Organisationen, die in Vertretung von anderen potenziellen Opfern von Konventionsverletzungen die Beschwerdebefugnis wahrnehmen.»

 Abschließend hält Hänni fest: «[177] Insofern kann und darf das Urteil auch nicht demokratische Prozesse ausschließen, sondern ist subsidiär zu verstehen: Der EGMR knüpft an die von den Mitgliedstaaten selbst zugesicherten Reduktionsbeiträge an, die der betroffene Staat nun unter den im Urteil entwickelten Voraussetzungen gewährleisten muss. Im Ergebnis läuft dies darauf hinaus, dass nationales Recht soweit es im Rahmen der Konvention relevant ist, einfacher einklagbar sein muss. Damit wird zweifelsohne, jedenfalls soweit es für die Konvention relevant ist, auch die Bindungswirkung des Klimaabkommens von Paris gestärkt, das in seiner Präambel die Verknüpfung der Klimakrise mit den Menschenrechten enthält. Die Aufgabe der innerstaatlichen Gerichte und des Gerichtshofs ist daher komplementär zum demokratischen Prozess: Die Rolle der Justiz besteht darin, die notwendige Kontrolle über die Einhaltung der gesetzlichen Bestimmungen zu gewährleisten.» (Seite 25)

 Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR, GK), Straßburg, billigt Streikverbot für beamtete Lehrerinnen und Lehrer / Disziplinarmaßnahmen (Verweis; 100,– bis 300,– Euro Buße) wegen Teilnahme an einem Streik während der Arbeitszeit kein Verstoß gegen Art. 11 EMRK (Vereinigungsfreiheit) / Humpert u.a. gegen Deutschland

 Die Große Kammer (GK) stellt zu den mit dem Streikverbot für Beamte verfolgten Zielen u.a. fest: «Der Gerichtshof wiederholt, dass er das Vorbringen der Regierung anerkennt, wonach das Streikverbot für Beamte, das in Verbindung mit verschiedenen komplementären, gerichtlich durchsetzbaren Grundrechten (…) zu sehen ist, das übergeordnete Ziel verfolgt, eine gute Verwaltung zu gewährleisten. Dieses wechselseitige System von aufeinander bezogenen Rechten und Pflichten (…) garantiert die wirksame Erfüllung der dem Beamtentum übertragenen Aufgaben und gewährleistet so den Schutz der Bevölkerung, die öffentliche Daseinsvorsorge und den Schutz der in der Konvention verankerten Rechte durch eine leistungsfähige öffentliche Verwaltung in unterschiedlichsten Lebensbereichen (…). Der Gerichtshof stellt in diesem Zusammenhang ganz allgemein fest, dass Einschränkungen des Streikrechts dem Schutz der Rechte anderer dienen können, was sich nicht nur auf die Arbeitgeberseite in einem Arbeitskonflikt beschränkt, und dass sie der Erfüllung positiver Verpflichtungen eines Vertragsstaates nach seinem Verfassungsrecht, der Konvention und anderen Menschenrechtsverträgen dienen können (…).

 Im Falle der Beschwerdeführerinnen und des Beschwerdeführers wurde mit der angegriffenen Einschränkung wie erwähnt das Ziel verfolgt, eine gute Verwaltung zu gewährleisten. Die Disziplinarverfügungen sollten die durchgängige Bereitstellung von Bildung an öffentlichen Schulen gewährleisten und das durch Art. 7 Abs. 1 GG (…) sowie Art. 2 ZP 1 EMRK und andere internationale Instrumente (…) geschützte Recht anderer auf Bildung sichern. Der Gerichtshof möchte unterstreichen, dass dem Recht auf Bildung, das für die Verwirklichung der Menschenrechte unverzichtbar ist, in einer demokratischen Gesellschaft eine wesentliche Rolle zukommt (…). Wenngleich die Konvention keine Vorgaben dazu macht, wie Bildung bereitzustellen ist, und erst recht keinen speziellen Status für Lehrkräfte vorschreibt, unterstreicht der Gerichtshof dennoch, wie enorm wichtig aus staatspolitischer Sicht ein leistungsfähiges Bildungswesen ist, in dem Kinder in einer glaubhaften Art und Weise über Freiheit, Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit unterrichtet werden können.»

 In der Gesamtbewertung heißt es: «In Anbetracht der vorstehenden Ausführungen wiederholt der Gerichtshof, dass die angegriffene Einschränkung des Streikrechts von Beamten, beamtete Lehrkräfte wie die Beschwerdeführerinnen und der Beschwerdeführer in der vorliegenden Rechtssache eingeschlossen, schwerwiegend war (…). Zwar ist das Streikrecht ein wichtiges Element der Gewerkschaftsfreiheit, aber nicht das einzige Mittel, mit dem Gewerkschaften und ihre Mitglieder ihre entsprechenden beruflichen Interessen schützen können, und den Vertragsstaaten steht es grundsätzlich frei zu entscheiden, welche Maßnahmen sie ergreifen wollen, um die Einhaltung des Art. 11 zu gewährleisten, solange sie dabei sicherstellen, dass die Gewerkschaftsfreiheit durch die möglicherweise vorgenommenen Einschränkungen nicht inhaltsleer wird (…). In diesem Zusammenhang hebt der Gerichtshof hervor, dass im beschwerdegegnerischen Staat verschiedenste institutionelle Garantien geschaffen wurden, die den Beamten und ihren Gewerkschaften die Verteidigung der beruflichen Interessen ermöglichen. (…).

 Der Gerichtshof kommt daher zu dem Ergebnis, dass der dem beschwerdegegnerischen Staat eingeräumte Beurteilungsspielraum unter den Umständen des vorliegenden Falles mit den gegen die Beschwerdeführerinnen und den Beschwerdeführer ergangenen Maßnahmen nicht überschritten wurde und die Maßnahmen in Bezug auf die verfolgten wichtigen legitimen Ziele erwiesenermaßen verhältnismäßig waren. Eine Verletzung von Art. 11 EMRK liegt folglich nicht vor.»

 Die auf Art. 6 Abs. 1 EMRK gestützte Rüge weist der EGMR zurück: «Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass Art. 6 Abs. 1 die Gerichte zwar verpflichtet, ihre Entscheidungen zu begründen, er jedoch nicht so verstanden werden kann, dass er von ihnen fordert, auf jedes Vorbringen detailliert einzugehen (…). Das Bundesverfassungsgericht hat sich ausführlich mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Gewerkschaftsfreiheit auseinandergesetzt und dabei erklärt, dass der Gerichtshof bei der Auslegung von Art. 11 EMRK auch andere internationale Instrumente berücksichtigt habe (…). Der Gerichtshof ist daher der Ansicht, dass das Bundesverfassungsgericht die Frage der internationalen Verpflichtungen Deutschlands im Hinblick auf ein mögliches Streikrecht, einschließlich der Verpflichtungen nach dem Arbeitsvölkerrecht, hinreichend behandelt und seine Zurückweisung der Auffassung der Beschwerdeführerinnen und des Beschwerdeführers, dass ihnen ein Streikrecht zustehe, konkret und explizit begründet hat.» (Seite 40)

 Sondervoten der Richter Ravarani und Serghides auf S. 67 und 69)

 Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH, GK), Luxemburg, zu Diskriminierung von befristet beschäftigten Arbeitnehmern in Polen durch fehlende Informationspflicht des Arbeitgebers über Gründe einer ordentlichen Kündigung des Arbeitsvertrags / Anspruch auf Information über Kündigungsgründe bisher nur für Dauerbeschäftigte / K.L. gegen X

 Das Urteil der Großen Kammer (GK) beschäftigt sich mit der unmittelbaren Wirkung von RL-Bestimmungen zwischen Privaten kraft Art. 47 GRCh.

 Zur Diskriminierung heißt u.a.: «Wenn der betreffende Arbeitnehmer also Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Kündigungsgrundes hat, hat er – sofern der Arbeitgeber den Kündigungsgrund nicht freiwillig mitteilt – keine andere Wahl, als die Kündigung beim zuständigen Arbeitsgericht anzufechten. Nur im Weg dieser Klage kann der Arbeitnehmer erreichen, dass das Gericht seinen Arbeitgeber anweist, den oder die Kündigungsgründe preiszugeben. Die Erfolgsaussichten dieser Klage kann er vorab jedoch nicht beurteilen. Gemäß den Erläuterungen der Republik Polen in der mündlichen Verhandlung ist dieser Arbeitnehmer verpflichtet, in seiner Klage das Vorbringen, mit dem dargetan werden soll, dass seine Kündigung diskriminierend oder missbräuchlich erfolgt sei, prima facie zu untermauern, obwohl ihm die Gründe für die Kündigung nicht bekannt sind. Außerdem können, auch wenn die Erhebung einer solchen Klage durch einen befristet beschäftigten Arbeitnehmer vor dem Arbeitsgericht gemäß den Ausführungen der Republik Polen in der mündlichen Verhandlung gebührenfrei ist, die Vorbereitung und das Verfahren zur Prüfung dieser Klage dem Arbeitnehmer Ausgaben oder sogar Kosten verursachen, die er im Fall des Scheiterns der Klage zu tragen hat.» (Seite 76)

 EuGH zur Überprüfung der Erteilung einer anwaltlichen Vollmacht für eine (maltesische) Bank nach Entzug von deren Zulassung durch die EZB / Pilatus Bank

 Der EuGH weist die Klage der Bank als unzulässig ab. (S. 83)

 EuGH (GK) äußert sich zur Zulässigkeit eines Asylfolgeantrags (in Deutschland) nach einem EuGH-Urteil als neuem Umstand / Rs. C-216/22

 Die Große Kammer (GK) entscheidet: «Art. 33 Abs. 2 Buchst. d und Art. 40 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2013/32/EU (…) sind dahin auszulegen, dass jedes Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union, und zwar auch ein Urteil, das sich auf die Auslegung einer Vorschrift des Unionsrechts beschränkt, die bei Erlass einer Entscheidung über einen früheren Antrag bereits in Kraft war, unabhängig von seinem Verkündungsdatum einen neuen Umstand bzw. ein neues Element im Sinne dieser Bestimmungen darstellt, wenn es erheblich zu der Wahrscheinlichkeit beiträgt, dass der Antragsteller als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz anzuerkennen ist.» (Seite 88)

 EuGH (GK) sieht in der lebenslangen, allgemeinen und unterschiedslosen Speicherung biometrischer und genetischer Daten strafrechtlich verurteilter (auch rehabilitierter) Personen (hier: in Bulgarien) einen Verstoß gegen Unionsrecht / Rs. C-118/22

 «Art. 4 Abs. 1 Buchst. c und e RL (EU) 216/680 im Licht der Art. 7 und 8 GRCh (…) ist dahin auszulegen, dass er nationalen Rechtsvorschriften entgegensteht, die vorsehen, dass die Polizeibehörden zum Zweck der Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten oder der Strafvollstreckung personenbezogene und insbesondere biometrische und genetische Daten, die wegen einer vorsätzlichen Offizialstraftat rechtskräftig verurteilte Personen betreffen, speichern, und zwar bis zum Tod der betroffenen Person und auch im Fall ihrer Rehabilitierung, ohne den Verantwortlichen zu verpflichten, regelmäßig zu überprüfen, ob diese Speicherung noch notwendig ist, und ohne dieser Person das Recht auf Löschung dieser Daten, sobald deren Speicherung für die Zwecke, für die sie verarbeitet worden sind, nicht mehr erforderlich ist, oder gegebenenfalls das Recht auf Beschränkung der Verarbeitung dieser Daten zuzuerkennen.» (Seite 95)

 EuGH (GK) zu Frauen als Opfer häuslicher Gewalt / Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (hier: in Bulgarien) bzw. Anspruch auf subsidiären Schutz / Rs. C-621/21

 Art. 15 Buchst. a und b der RL 2011/95 ist dahin auszulegen, dass «der Begriff „ernsthafter Schaden“ die tatsächliche Drohung gegenüber der antragstellenden Person umfasst, durch einen Angehörigen ihrer Familie oder ihrer Gemeinschaft wegen eines angenommenen Verstoßes gegen kulturelle, religiöse oder traditionelle Normen getötet zu werden oder andere Gewalttaten zu erleiden, und dieser Begriff daher zur Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus im Sinne von Art. 2 Buchst. g dieser Richtlinie führen kann.» (Seite 102)

 EuGH stellt Regeln für die Versteigerung von personenbezogenen Daten zu Werbezwecken auf / Rs. IAB Europe

 Die Vorlage kommt vom Appellationshof Brüssel.Den Maßstab bildet die Datenschutz-GrundVO (DSGVO). (Seite 111)

 Schweizerisches Bundesgericht (BGer), Lausanne, erklärt die Neueinführung einer obligatorischen vorschulischen Sprachförderung im Kanton Thurgau insoweit für verfassungswidrig, als die Erziehungsberechtigten sich an den Kosten beteiligen und für den Transport der Kinder aufkommen müssen

 Das kantonale Volksschulgesetz 2022 richtet sich an Kinder ab Vollendung des dritten Altersjahres, bei denen eine solche Sprachförderung angebracht ist, damit sie sich später am Unterricht in der Volksschule angemessen beteiligen können. Das BGer stützt sein Urteil auf Art. 19 Bundesverfassung (BV), der einen Anspruch auf ausreichenden und unentgeltlichen Grundschulunterricht gewährleistet.

 In dem Urteil heißt es u.a.: «Der Anspruch auf ausreichenden Unterricht umfasst einen Unterricht, der für die Einzelne und den Einzelnen angemessen und geeignet sein muss und der genügt, um die Schülerinnen und Schüler angemessen auf ein selbstverantwortliches Leben im modernen Alltag vorzubereiten.» (Seite 118)

 BGer entwickelt Kriterien für den Entscheid zwischen Regelschule oder Sonderschule bei der Einschulung eines Schülers mit Trisomie 21

 Im vorliegenden Fall sprechen sachliche Gründe für eine Sonderschule. Der durch seine Eltern vertretene Beschwerdeführer wurde mit Trisomie 21 geboren, leidet an einem angeborenen Herzfehler, verschiedenen Störungen des Sehvermögens sowie einer Sprachstörung. (Seite 122)

 Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, führt Grundsätzliches zum Wahlrecht aus und ordnet teilweise Wiederholung der Bundestagswahl 2021 im Land Berlin an / Beschluss des Bundestags vom 10. November 2022 im Ergebnis überwiegend rechtmäßig / Wahlprüfungsbeschwerde der CDU/ CSU-Bundestagsfraktion teilweise erfolgreich

 Das Urteil hat über die inzwischen durchgeführte Wiederholungswahl [11.2.2024] hinaus maßstabsetzende Bedeutung. Die Leitsätze des Zweiten Senats lauten: «(1) Hat der Deutsche Bundestag gemäß § 5 Abs. 3 Satz 2 WahlPrüfG von weiteren Ermittlungen abgesehen, besteht für das Bundesverfassungsgericht weder die Veranlassung noch die Befugnis, weitergehende Ermittlungen anzustellen. Nur wenn sich die Beweiserhebung des Deutschen Bundestages als lückenhaft oder in sonstiger Weise als unzureichend erweist, kann das Bundesverfassungsgericht insoweit tätig werden.

 (2) (a) Eine Wartezeit vor der Stimmabgabe ist als solche kein Wahlfehler. Treten ungewöhnlich lange Wartezeiten auf, kann dies allerdings ein Indiz dafür sein, dass die zuständigen Behörden oder Wahlorgane bei der Vorbereitung der Wahl das Gebot, die Stimmabgabe möglichst zu erleichtern (§ 46 Abs. 1 Satz 3 BWahlO), unzureichend beachtet haben.

 (b) Die Stimmabgabe nach Ende der Wahlzeit gemäß § 60 Satz 2 BWahlO stellt keinen Wahlfehler dar. Dies schließt nicht aus, dass dem Überschreiten des Endes der Wahlzeit indizielle Wirkung hinsichtlich des Vorliegens sonstiger Wahlfehler zukommen kann.

 (3) Unabhängig von der Schwere des Wahlfehlers ist Mandatsrelevanz nur gegeben, wenn sich eine Auswirkung des Wahlfehlers auf die Sitzverteilung als eine nach der allgemeinen Lebenserfahrung konkrete und nicht ganz fernliegende Möglichkeit darstellt. Hierbei ist das potentielle Wahlverhalten zwar nicht im Sinne einer exakten Übertragung des Wahlergebnisses, wohl aber im Sinne einer groben Orientierung zu berücksichtigen.

 (4) Nach dem Gebot des geringstmöglichen Eingriffs hat eine nur teilweise Wiederholung der Wahl Vorrang vor der Ungültigerklärung der Wahl in Gänze.

 (5) Bei der Wiederholung der Wahl ist nicht zwischen Erstund Zweitstimme zu unterscheiden. Die Wiederholungswahl findet als Zweistimmenwahl statt.» (Seite 127)

 BVerfG fordert gesetzliche Regelung für leiblichen Vater eines nichtehelich geborenen Kindes, die rechtliche Vaterschaft eines anderen Mannes für sein Kind anzufechten / Gesetzliche Neuregelung der beanstandeten Vorschriften des BGB bis 30. Juni 2025 erforderlich

 Der Bf. ist leiblicher Vater eines (…) 2020 nichtehelich geborenen Kindes, mit dessen Mutter der Bf. von April 2019 bis kurz nach der Geburt eine Beziehung führte und in einem gemeinsamen Haushalt lebte. Nach der Trennung der Mutter von dem Bf. Mitte 2020 ging diese eine neue Beziehung ein und stimmte zu, dass ihr neuer Partner im August 2020 standesamtlich als rechtlicher Vater des Kindes eingetragen wurde.

 In den Leitsätzen des Ersten Senats heißt es: «Eltern im Sinne von Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG muss es grundsätzlich möglich sein, Elternverantwortung für ihre Kinder erhalten und ausüben zu können. Das gibt nicht zwingend vor, das Innehaben von Elternverantwortung und die Anzahl der Träger des Elterngrundrechts von vornherein auf zwei Elternteile zu beschränken; Träger können daher auch Mutter, leiblicher Vater und rechtlicher Vater nebeneinander sein (anders noch BVerfGE 108, 82 [102 ff.]; 133, 59 [78 Rn. 52] = EuGRZ 2013, 79 [85]). Aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG folgt aber schon aufgrund seiner Kindeswohlorientierung eine enge Begrenzung der Zahl der Elternteile (insoweit Fortführung von BVerfGE 108, 82 [103]).

 Sieht der Gesetzgeber im Rahmen seiner Ausgestaltungspflicht eine rechtliche Elternschaft von drei Elternteilen im Sinne von Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG vor, ist er nicht gehalten, allen diesen Elternteilen gleiche Rechte im Verhältnis zu ihrem Kind einzuräumen, sondern er kann die jeweilige Rechtsstellung der Elternteile differenzierend ausgestalten.

 Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG garantiert einem leiblichen Vater die Möglichkeit, auch rechtlicher Vater seines Kindes zu werden. Schließt das Fachrecht – verfassungsrechtlich im Ausgangspunkt zulässig – eine rechtliche Vaterschaft von mehr als einem Vater aus, muss dem leiblichen Vater ein hinreichend effektives Verfahren zur Verfügung stehen, das ihm die Erlangung der rechtlichen Vaterschaft ermöglicht. Dem Elterngrundrecht des leiblichen Vaters wird nicht hinreichend Rechnung getragen, wenn dabei seine gegenwärtige oder frühere sozial-familiäre Beziehung zum Kind, das frühzeitige und konstante Bemühen um die rechtliche Vaterschaft oder der Wegfall einer sozial-familiären Beziehung des Kindes zu seinem bisherigen rechtlichen Vater nicht berücksichtigt werden können.» (Seite 160)

 BVerfG wertet die gerichtliche Umdeutung der kritischen Meinungsäußerung (eines Journalisten) zu einer unwahren Tatsachenbehauptung als Verletzung der Freiheit der Meinungsäußerung

 Stichwort: Entwicklungshilfe für Afghanistan. Die erfolgreiche Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen eine vom Kammergericht erlassene einstweilige Verfügung, durch die dem Bf. eine kritische Äußerung gegenüber der Bundesregierung untersagt wurde. (Seite 179)

 EGMR – Meinungsaustausch der EGMR-Präsidentin O’Leary mit dem Ministerkomitee / Acht Schwerpunktthemen

 (1) Die im November 2023 nach langer Zeit erstmalig erfolgte Erhöhung des Budgets des Gerichtshofs um 20 Mio. Euro mache sich schon jetzt bei der Einstellung neuer Mitarbeiter in der Kanzlei bemerkbar. (2) Die Hauptlast der anhängigen Fälle komme aus fünf Staaten: Türkei, Russland, Ukraine, Rumänien und Griechenland. (3) Arbeit der Großen Kammer (u.a. die Klima- Fälle); (4) die dem Gerichtshof obliegende Verantwortung; (5) Verfahrensrechtliche Reformen (u.a. Art. 39 VerfO einstweilige Maßnahmen betreffend); (6) Außenbeziehungen des Gerichtshofs: «Der richterliche Dialog ist eine Lebensader des Konventionssystems. » (7) Angemessene Anschlussverwendung von ausscheidenden Richtern. (8) Warnung vor den Bestrebungen, die Autorität und die Daseinsberechtigung des Gerichtshofs und des Konventionssystems zu untergraben. (Seite 184)

 Jahrespressekonferenz der EGMR-Präsidentin incl. Statistik

 Ende 2023 waren insgesamt 68.450 Beschwerden anhängig. Im Vorjahr waren es noch 74.650 Beschwerden. (Seite 185)

 EGMR — Richterwahlen: Diana Petrova Kovacheva (Bulgarin), Gediminas Sagatys (Litauer), Stéphane Pisani (Luxemburger), neuer liechtensteinischer Richter Alain Chablais (Schweizer und Franzose), Úna Ní Raifeartaigh (Irin), Arturs Kučs (Lette). (Seite 186)

 BVerfG – Übersicht über die im Jahr 2024 u.a. zur Entscheidung anstehenden Verfahren (Seite 188)