EuGRZ
30. Dezember 2024
51. Jg. Heft 22-23

Print + Online
Neu für die Abonnenten der EuGRZ: Online steht zur Verfügung Details

 

Informatorische Zusammenfassungen

Mattias Wendel und Noah Thomas Seyller, Leipzig, begründen, warum sie das von ihnen besprochene EuGH-Urteil – (GK v. 20.2.2024, Rs. C-715/20, K.L./X = EuGRZ 2024, 76) – es geht um effektiven Rechtsschutz unter Privaten durch unmittelbare Horizontalwirkung von Art. 47 Abs. 1 GRCh (Grundrecht auf einen wirksamen Rechtsbehelf) – für eine der «wohl wichtigsten Leitentscheidungen der jüngeren Zeit» halten

 «So erscheint es auf den ersten Blick kontraintuitiv, dass der EuGH (…) dem Art. 47 GRCh in alleiniger Anwendung unmittelbare Horizontalwirkung zuerkannt hat. Die Entscheidung geht auf einen arbeitsrechtlichen Ausgangsstreit zurück, der die Reichweite der arbeitgeberseitigen Pflicht zur Begründung ordentlicher Kündigungen zum Gegenstand hatte. Dem EuGH zufolge verletze das nationale Recht das Grundrecht auf einen wirksamen Rechtsbehelf, indem es ermögliche, befristet beschäftigten Arbeitnehmern zentrale Informationen in Gestalt der Kündigungsgründe vorzuenthalten – Informationen, die gerade für die Frage, ob die Kündigung gerichtlich angefochten werden sollte, entscheidend seien. Kurzum, durch die Ermöglichung eines arbeitnehmerseitigen Informationsvakuums hebele die innerstaatliche Regelung die Einlegung eines wirksamen Rechtsbehelfs bereits im Vorfeld eines etwaigen Gerichtsverfahrens aus (dazu II.).

 Die Entscheidung ergeht in dem rechtsdogmatisch komplexen Kontext der unmittelbaren Horizontalwirkung von Unionsgrundrechten und damit in einem Feld, das nach wie vor in zentralen Teilen umstritten und klärungsbedürftig ist. Das gilt deskriptiv für die Klassifizierung der unterschiedlichen Wirkungsdimensionen ebenso wie normativ im Hinblick auf Voraussetzung, Begründung und Bewertung der unmittelbaren Horizontalwirkung von Grundrechten zwischen Privaten (dazu III.).

 Dass der EuGH dem Grundrecht auf einen wirksamen Rechtsbehelf aus Art. 47 GRCh in alleiniger Anwendung unmittelbare Horizontalwirkung zuerkennt, wirft grundlegende Fragen auf. Sie betreffen zum einen das Verhältnis von Primärrecht und Sekundärrecht und ganz konkret die grundrechtliche Effektuierung von sekundärrechtlich konkretisierten Grundrechtsgehalten in Privatrechtsverhältnissen, zum anderen aber auch das Verhältnis des (an sich akzessorischen) Grundrechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf aus Art. 47 Abs. 1 GRCh zu materiell-rechtlichen Unionsgrundrechten, wie etwa dem Diskriminierungsverbot des Art. 21 Abs. 1 GRCh. Welche Rolle kann Art. 47 GRCh künftig als Garantie wirksamer Rechtsbehelfe im Verhältnis zwischen Privaten und hier ggf. im Vorfeld der potenziellen Einlegung gerichtlicher Rechtsbehelfe spielen? Bahnt die Horizontalwirkung des Art. 47 GRCh gar einer weitreichenden Vergrundrechtlichung der Rechtsbeziehungen von Privaten den Weg (zu alldem IV.)?»

 Unter Gliederungspunkt IV. führen die Autoren aus: «Zunächst einmal ist festzuhalten, dass der EuGH im konkreten Fall von einer negativen unmittelbaren Wirkung ausgeht, was für sich genommen noch keinen Neuigkeitswert hat (…). Ungleich bedeutsamer und potenziell folgenreicher aber ist der Umstand, dass der Gerichtshof über Art. 47 Abs. 1 GRCh auch dort die Garantie eines wirksamen Rechtsbehelfs einzufordern scheint, wo es an der unmittelbaren Wirkung des verletzten materiellen Rechts fehlt. Art. 47 Abs. 1 GRCh könnte so potenziell zu einem Türöffner für eine breite judikative Effektivierung auch von solchen unionsrechtlichen Rechtspositionen werden, die selbst nicht unmittelbar anwendbar sind.»

 Die Autoren geben abschließend zu bedenken: « In der Gesamtschau hat der EuGH in der Rechtssache K.L./X eine Entscheidung vorgelegt, deren Ambivalenz und Mehrdeutigkeit Raum (und Anreiz!) für unterschiedlichste Deutungen und Extrapolationen schafft. Wenig aufsehenerregend ist zunächst der Umstand, dass der EuGH dem Art. 47 GRCh unmittelbare Horizontalwirkung zuspricht. Spektakulär sind dagegen zum einen die fehlende normative Kopplung an den an sich unproblematisch einschlägigen und wohl auch verletzten (allgemeinen) Gleichheitssatz sowie zum anderen die potenziellen Auswirkungen des Urteils, die je nach Lesart von der horizontalen Effektivierung nicht unmittelbar anwendbaren materiellen Unionsrechts bis hin zu einem unmittelbar in Art. 47 GRCh wurzelnden privatrechtlichen Vorfeldschutz wirksamer gerichtlicher Rechtsbehelfe rangieren. Nicht zuletzt wird die stetige Erweiterung der horizontalen Wirkungsdimension der Charta auch die Frage nach einem Staatshaftungsanspruch derjenigen Vertragspartei wieder aufwerfen, die darauf vertraut hat, das nationale Recht definiere ihre Pflichten abschließend und vorhersehbar. Es bleibt zu hoffen, dass der EuGH durch entsprechende Vorlagen die Möglichkeit einer baldigen Folgeentscheidung bekommt, um seiner neuen Rechtsprechungslinie weitere Konturen zu verleihen.» (Seite 545)

 Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Straßburg – Große Kammer – entscheidet im April 2024 erstmals über Individualbeschwerden gegen Klimawandel und setzt neue Maßstäbe:

 – Der Fall Duarte Agostinho u.a. ./. Portugal und 32 andere Staaten ist die neue Leit-Entscheidung zur Jurisdiktion (Beschwerde wird für unzulässig erklärt), voller Wortlaut der Entscheidung s.u. S. 559-595; Zusammenfassung s. hier nachstehend.

 – Der Fall Verein KlimaSeniorinnen Schweiz u.a. ./. Schweiz ist das Leit-Urteil zu Fragen der Opfereigenschaft: Schwelle zur individuellen Betroffenheit (hier: vier beschwerdeführende Frauen) wird sehr hoch angesetzt mit der Folge, dass die Beschwerde insoweit unzulässig ist. Kriterien für die Zulässigkeit der Vertretungsbefugnis für Personenvereinigungen werden klimawandelbezogen neu definiert: der locus standi des beschwerdeführendenVereins wird bejaht. Maßgebliche Auszüge des Urteils s.u. S. 595-618; mit Sondervotum des Richters Eicke (voller Wortlaut), s.u. S. 618-630; Zusammenfassung s. hier nachstehend.

 Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Straßburg, erklärt Beschwerde von sechs jungen Portugiesen gegen bestehende und gravierende künftige Auswirkungen des Klimawandels für unzulässig / Duarte Agostinho u.a. gegen Portugal und 32 andere Staaten (GK)

 Die Bf., sechs junge Leute aus Portugal (zwischen 8 und 21 Jahre alt), rügen eine Verletzung ihrer Rechte aus den Art. 2, 3, 8, und 14 EMRK, weil durch den Klimawandel insbesondere im Zusammenhang mit Hitzewellen, Waldbränden und Waldbrandrauch ihr Leben, ihr Wohlergehen, ihre psychische Gesundheit und die uneingeschränkte Nutzung ihrer Wohnung beeinträchtigt würden.

 Da neben Portugal 32 weitere Staaten beklagt waren, hatte sich der Gerichtshof zunächst mit der Frage der Hoheitsgewalt i.S.v. Art. 1 der Konvention zu befassen.

 Die Argumente der Bf., die die Jurisdiktion für gegeben halten, fasst der EGMR u.a. wie folgt zusammen: Es «bestehe eine hinreichende Verbindung zwischen den beklagten Staaten und den Bf., um die Hoheitsgewalt dieser Staaten zu begründen. Diese Annahme beruhe jedoch nicht schlicht auf einem kausalen Verständnis von Hoheitsgewalt. Grundlage seien vielmehr die besonderen Merkmale des Klimawandels und die Faktoren Vorhersehbarkeit, Kenntnis, Dauer und (Handlungs-)Fähigkeit. Die Prüfung des Vorliegens „besonderer Merkmale“ gelte sowohl für die materiellrechtlichen als auch verfahrensrechtlichen Verpflichtungen. Der Gerichtshof habe erst kürzlich in der Rechtssache H. F. u.a. ./. Frankreich [Urteil vom 14.9.2022 = HRLJ 2022, 183 (Repatriierung aus Syrien)] die generelle Relevanz der Prüfung des Vorliegens „besonderer Merkmale“ anerkannt. Im vorliegenden Fall beruhten die Überlegungen zu der Prüfung des Vorliegens „besonderer Merkmale“ auf folgenden Elementen: a) Die beklagten Staaten übten Kontrolle über die Konventionsinteressen der Bf. aus, was das maßgeblich zu berücksichtigende Kriterium sein sollte. b) Es bestehe ein Kausalzusammenhang zwischen den Aktivitäten der beklagten Staaten und den Auswirkungen auf die Bf., da die Emissionen der Staaten und ihre Versäumnisse bei der Regulierung/Begrenzung dieser Emissionen wesentlich zur Gefahr der Erderwärmung beitrügen. (…) f) Der Schutz der Interessen der Bf. erfordere, dass alle beklagten Staaten im Rahmen ihrer Befugnisse Maßnahmen zur Regulierung/Begrenzung ihrer Emissionen ergriffen. g) Die Feststellung von Hoheitsgewalt werde durch die einschlägigen Vorschriften des Völkerrechts und durch die von anderen internationalen Menschenrechtsgremien verfolgten Ansätze gestützt und stehe im Einklang mit diesen.»

 Dieser Argumentation tritt der EGMR unter Berufung auf seine jüngste Rechtsprechung entschieden entgegen: «Drittens stützt sich das (…) Vorbringen der Bf. auf die Faktoren Vorhersehbarkeit, Kenntnis, Dauer und (Handlungs-) Fähigkeit der Staaten im Bereich des Klimawandels. Sie machen geltend, dass das maßgebliche Kriterium für die Begründung der Hoheitsgewalt die „Kontrolle über die Konventionsinteressen der Bf.“ sein sollte. Die Bf. verweisen auch auf die multilaterale Dimension des Klimawandels und auf die jüngsten Entwicklungen im Bereich des Völkerrechts. Der Gerichtshof wird sich diesen Fragen nacheinander zuwenden, obgleich sie in engem Zusammenhang zueinander stehen.

 Was ihre Bezugnahme auf das Kriterium der „Kontrolle über die Konventionsinteressen der Bf.“ angeht, so erfordert die extraterritoriale Hoheitsgewalt i.S.d. Art. 1 EMRK nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs Kontrolle über die Person selbst und nicht über die Interessen der Person (siehe Ukraine und die Niederlande ./. Russland, Ziff. 571 [Entscheidung der GK v. 30.11.2022]). Abgesehen von der besonderen Rechtsprechung zu Art. 2 in Bezug auf die vorsätzliche Tötung durch staatliche Organe findet sich in der Rechtsprechung keine Unterstützung für ein Kriterium wie „Kontrolle über die Konventionsinteressen“ als Grundlage für die Feststellung extraterritorialer Hoheitsgewalt. Der Gerichtshof ist nicht der Auffassung, dass der Umfang der extraterritorialen Hoheitsgewalt in einer solchen Weise erweitert werden könnte, die eine radikale Abkehr von den etablierten Grundsätzen nach Art. 1 bedeuten würde.

 Würde Kontrolle über die Interessen der betroffenen Person als Kriterium für die Begründung der extraterritorialen Hoheitsgewalt des betreffenden Staates herangezogen, würde dies insbesondere zu einem erheblichen Mangel an Vorhersehbarkeit hinsichtlich der Reichweite der Konvention führen. Angesichts der multilateralen Dimension des Klimawandels, die die Bf. selbst anerkennen, könnte praktisch bei jeder Person, die irgendwo auf der Welt unter den nachteiligen Auswirkungen des Klimawandels leidet, davon ausgegangen werden, dass sie in Bezug auf die Handlungen und Unterlassungen einer beliebigen Vertragspartei im Zusammenhang mit der Bekämpfung des Klimawandels der Hoheitsgewalt eben dieser Vertragspartei i.S.d. Art. 1 EMRK untersteht. Eine solche Position ließe sich mit der Konvention nicht vereinbaren (siehe Georgien ./. Russland (II), Ziff. 134 [Urteil der GK v. 21.1.2021]). (…) Eine Ausweitung des Umfangs in der von den Bf. geforderten Weise findet keinen Rückhalt in der Konvention. »

 Nachdem der EGMR somit festgestellt hatte, dass Hoheitsgewalt, von Portugal abgesehen, in Bezug auf die übrigen beklagten Staaten nicht bestand, war dieser Teil der Beschwerde für unzulässig zu erklären.

 Es blieb die Frage, ob die Bf., die in Bezug auf ihre Rügen in Portugal keine rechtlichen Schritte unternommen hatten, zur Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs verpflichtet waren. Der EGMR bejaht das und weist darauf hin, dass das nationale Recht eine ganze Reihe von Beschwerdemöglichkeiten vorsieht, wozu auch die actio popularis gehört. Der EGMR lässt keinerlei Zweifel aufkommen, dass Rechtswegerschöpfung hier zwingend geboten war:

 «Schließlich fällt es dem Gerichtshof schwer, das Subsidiaritätsverständnis der Bf. zu akzeptieren, wonach der Gerichtshof ein Urteil zur Frage des Klimawandels erlassen solle, bevor den Gerichten der beklagten Staaten die Gelegenheit dazu gegeben wird (…). Dies steht in krassem Widerspruch zum Subsidiaritätsprinzip, das dem Konventionssystem als Ganzem zugrunde liegt (…). Wie der Gerichtshof in der Rechtssache Demopoulos u.a. ([s.o. Ziff. 88, Entscheidung der GK vom 1.3.2010], Ziff. 69) erläutert hat, ist er kein erstinstanzliches Gericht. Er ist weder in der Lage, noch wäre es seiner Funktion als internationalem Gerichtshof angemessen, über eine große Zahl von Fällen zu entscheiden, die die Feststellung grundlegender Tatsachen erfordern; dies sollte grundsätzlich und praktisch in die Zuständigkeit der innerstaatlichen Gerichte fallen (…).»

 Angesichts des vorstehenden Ergebnisses – Beschwerde gegen Portugal wegen Nichterschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs unzulässig und nach Art. 35 Abs. 1 und 4 EMRK zurückzuweisen – konnte der Gerichtshof die Frage offen lassen, ob die Bf. die bei Klimawandelklagen besonders strengen Kriterien bzgl. Opfereigenschaft (Art. 34 EMRK) erfüllt hätten. (Seite 559)

 EGMR, Straßburg, befasst sich im Fall Verein KlimaSeniorinnen Schweiz u.a. gegen Schweiz (GK, Urteil vom 9.4.2024) mit Fragen des Klimawandels und legt neue Maßstäbe betr. Opfereigenschaft fest

 Zur angemessenen Einordnung der neuen Rechtsprechung stellt der EGMR fest: «Die vorliegende Rechtssache und die beiden anderen vor der Großen Kammer in derselben Besetzung verhandelten Rechtssachen [Carême ./. Frankreich, Nr. 39371/20 sowie Duarte Agostinho u.a., s. in diesem Heft S. 559-595], werfen Fragen auf, die der Gerichtshof nie zuvor behandelt hat. (…) [Es bestehen] zwischen den vom Klimawandel aufgeworfenen Rechtsfragen und den Rechtsfragen, die bisher behandelt wurden [Rspr. zu Umweltfragen, s. Ziff. 538], wichtige Unterschiede. (…) Der Gerichtshof hält es für angemessen, einen Ansatz zu wählen, der sowohl die Besonderheiten des Klimawandels anerkennt und berücksichtigt als auch auf dessen spezifische Merkmale zugeschnitten ist. In der vorliegenden Rechtssache wird sich der Gerichtshof daher zwar in gewissem Maße an den Grundsätzen seiner bestehenden Rechtsprechung orientieren, sich jedoch im Hinblick auf die verschiedenen konventionsrechtlichen Fragen, die sich im Kontext des Klimawandels stellen können, um die Entwicklung eines geeigneteren, besser passenden Ansatzes bemühen.»

 Wesentlicher Ansatzpunkt ist dabei, welche Anforderungen an die Opfereigenschaft der vier Beschwerdeführerinnen und an die Vertretungsbefugnis des beschwerdeführenden Vereins zu stellen sind. Dazu führt der EGMR aus:

 «Im Sinne der methodischen Klarheit und unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die Frage der Opfereigenschaft eine der zentralen Fragen in klimawandelbezogenen Rechtssachen ist, hält es der Gerichtshof an dieser Stelle für erforderlich, die allgemeinen Grundsätze hinsichtlich der Opfereigenschaft einzeln zu erläutern. Aufgrund des engen Zusammenhangs zwischen der Opfereigenschaft und der Anwendbarkeit der einschlägigen Konventionsbestimmungen (s.u. Ziff. 513 und 519) wird die Frage, ob die Bf. in der vorliegenden Rechtssache für sich Opfereigenschaft beanspruchen können, zusammen mit der Beurteilung der Anwendbarkeit der Art. 2 und 8 EMRK vom Gerichtshof geprüft werden. (…) Im vorliegenden Fall stellt sich dem Gerichtshof die Frage, wie und inwieweit Rügen wegen mit staatlichen Handlungen und/oder Unterlassungen in Verbindung stehenden Schäden, die Konventionsrechte von Personen (wie das Recht auf Leben nach Art. 2 und/oder das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens nach Art. 8) berühren, geprüft werden können, ohne den Ausschluss der Popularklage aus dem Konventionssystem zu untergraben (…). Die Notwendigkeit, einerseits einen wirksamen Schutz der Konventionsrechte zu gewährleisten, und andererseits sicherzustellen, dass die Kriterien für die Opfereigenschaft nicht in eine faktische Zulassung der Popularklage münden, ist im vorliegenden Kontext besonders ausgeprägt.»

 Um der vorstehend erwähnten Gefahr entgegenzuwirken, entwickelt der Gerichtshof neue Kriterien, die erfüllt sein müssen, um individuelle Opfereigenschaft zu bejahen. Für die vier Beschwerdeführerinnen im vorliegenden Verfahren wird die Opfereigenschaft verneint. Der EGMR begründet das wie folgt:

 «Für die Anerkennung der Opfereigenschaft von natürlichen Personen im Zusammenhang mit dem Klimawandel wurden zwei Schlüsselkriterien festgelegt: a) die beschwerdeführende Person muss den nachteiligen Auswirkungen des Klimawandels in hohem Maße ausgesetzt sein und b) es besteht eine dringende Notwendigkeit, den individuellen Schutz der Beschwerdeführenden sicherzustellen (s.o. Ziff. 487-488 [s. S. 606]). Die Schwelle für das Erfüllen dieser Kriterien ist besonders hoch (s.o. Ziff. 488).»

 Weiter heißt es:

 «Auch wenn die genannten Feststellungen zweifelsohne darauf hindeuten, dass die Bf. einer Gruppe angehören, die in Bezug auf die Auswirkungen des Klimawandels besonders anfällig ist, so genügt dies allein nicht, um ihnen im Sinne der oben in den Ziff. 487 bis 488 dargelegten Kriterien die Opfereigenschaft zuzuerkennen. Es muss für jede einzelne Bf. festgestellt werden, ob die Anforderung eines bestimmten Mindestmaßes und eines besonderen Schweregrads der nachteiligen Auswirkungen auf sie erfüllt ist, wozu auch gehört, dass ihre individuelle Verletzlichkeit eine dringende Notwendigkeit begründen kann, ihren individuellen Schutz zu gewährleisten. (…) Aus den genannten Erwägungen ergibt sich, dass die Bf. zu 2. bis 5. die Kriterien der Opfereigenschaft nach Art. 34 EMRK nicht erfüllen. Diese Feststellung reicht aus, um den Gerichtshof zu der Schlussfolgerung gelangen zu lassen, dass ihre Rügen gemäß Art. 35 Abs. 3 wegen Unvereinbarkeit ratione personae mit der Konvention für unzulässig erklärt werden sollten.»

 Für die Beschwerdebefugnis von Vereinigungen hält der EGMR folgende Faktoren für maßgeblich:

 «Um als berechtigt angesehen zu werden, wegen des behaupteten Versäumnisses eines Vertragsstaates, angemessene Maßnahmen zu ergreifen, um Personen vor den nachteiligen Auswirkungen des Klimawandels auf das Leben und die Gesundheit von Menschen zu schützen, eine Beschwerde nach Art. 34 EMRK einzureichen, muss die betreffende Vereinigung (a) rechtmäßig in dem betreffenden Hoheitsgebiet errichtet oder dort klagebefugt sein; (b) nachweisen können, dass sie in Übereinstimmung mit ihren satzungsmäßigen Zielen den Zweck verfolgt, die Menschenrechte ihrer Mitglieder oder anderer betroffener Personen in dem betreffenden Hoheitsgebiet zu verteidigen, entweder nur oder auch mittels kollektiver Maßnahmen zum Schutz dieser Rechte gegen die Bedrohungen durch den Klimawandel; und (c) nachweisen können, dass sie als tatsächlich qualifiziert und repräsentativ angesehen werden kann, im Namen ihrer Mitglieder oder anderer betroffener Personen zu handeln, weil deren Leben, Gesundheit oder Wohlergehen, wie sie von der Konvention geschützt sind, spezifischen Gefahren oder nachteiligen Auswirkungen des Klimawandels innerhalb des Hoheitsgebiets ausgesetzt sind.

 In diesem Zusammenhang berücksichtigt der Gerichtshof Faktoren wie den Zweck, zu dem die Vereinigung gegründet wurde, die Tatsache, dass sie keinen Erwerbszweck verfolgt, die Art und den Umfang ihrer Tätigkeiten in dem betreffenden Hoheitsgebiet, ihre Mitgliederschaft und Repräsentativität, ihre Grundsätze und die Transparenz ihrer Führung sowie die Frage, ob die Anerkennung einer solchen Beschwerdebefugnis unter den konkreten Umständen eines Falles insgesamt im Interesse einer ordnungsgemäßen Rechtspflege liegt.

 Im Einklang mit den besonderen Merkmalen der Beschreitung des Rechtswegs durch Vereinigungen in diesem Kontext (s.o. Ziff. 497-499) unterliegt die Befugnis einer Vereinigung, im Namen ihrer Mitglieder oder anderer betroffener Person innerhalb des betreffenden Hoheitsgebiets zu handeln, keiner gesonderten Erfordernis, nachzuweisen, dass diejenigen, in deren Namen die Rechtssache anhängig gemacht wurde, selbst die im Klimawandelkontext für Einzelpersonen geltenden Anforderungen an die Opfereigenschaft, wie oben in den Ziff. 487 bis 488 dargelegt, erfüllt haben müssen.» (Seite 595)

 Richter Eicke hat zu dem KlimaSeniorinnen-Urteil ein Sondervotum verfasst (teilw. zustimmend, teilw. ablehnend)

 Eicke kritisiert, dass «die Mehrheit insbesondere den Begriff der „Opfer“-Eigenschaft bzw. der Beschwerdebefugnis nach Art. 34 EMRK unnötig erweitert (…)».

 Eicke kommt zu dem Ergebnis, «dass die Mehrheit in diesem Urteil über das hinausgegangen ist, was der Gerichtshof legitimerweise tun darf (…).» (Seite 618)

 Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH), Luxemburg, Große Kammer, bekräftigt die Pflicht zur Beachtung völkerrechtlicher Grundsätze bei Vertragsschlüssen der EU / hier: Fischereiabkommen EU-Marokko von 2019 / Selbstbestimmungsrecht des „Volkes“ der Westsahara / Rsn. Kommission und Rat/Front Polisario

 Die Westsahara ist ein Gebiet im Nordwesten Afrikas, das an Marokko, Algerien und Mauretanien grenzt und an dessen Westküste sich der Atlantik befindet. Der größte Teil dieses Gebiets wird derzeit von Marokko kontrolliert, ein kleinerer, sehr dünn besiedelter östlicher Teil vom Front Polisario, eine 1973 gegründete Bewegung, die sich nach ihrer Satzung als „nationale Freiheitsbewegung“ versteht, deren Mitglieder „für die völlige Unabhängigkeit und die Wiedererlangung der Souveränität des sahrauischen Volkes über das gesamte Gebiet der Demokratischen Arabischen Republik Sahara kämpfen“.

 In Bezug auf das Statut der Westsahara besteht seit den 1970er Jahren ein Konflikt zwischen Marokko und dem Front Polisario. Außerdem betrifft der Konflikt seit einer Reihe von Jahren die Rechtmäßigkeit von Wirtschaftsabkommen, die insbesondere von Marokko geschlossen wurden und u.a. die Nutzung der natürlichen Ressourcen der Westsahara und der an sie angrenzenden Gewässer umfassen. In diesem Kontext wendet sich der Front Polisario gegen das Fischereiabkommen zwischen der EU und Marokko und erhob im Jahr 2019 vor dem EuG Klage auf Nichtigerklärung des Beschlusses des Rates, mit dem dieses Abkommen genehmigt worden war.

 Das EuG erklärte den streitigen Beschluss für nichtig. Gegen dieses Nichtigkeitsurteil haben die Kommission und der Rat Rechtsmittel beim EuGH eingelegt.

 Der EuGH (Große Kammer) entscheidet endgültig und weist die Rechtsmittel in vollem Umfang zurück. Verfahrensfehler beim Abschluss des Fischereiabkommens hatten zu einem Verstoß gegen die Grundsätze der Selbstbestimmung und der relativen Wirkung von Verträgen geführt.

 Der EuGH weist darauf hin, «dass zu den einschlägigen Regeln, die im Rahmen der Beziehungen zwischen den Parteien eines Abkommens zwischen der Union und einem Drittland geltend gemacht werden können, der völkerrechtliche Grundsatz der relativen Wirkung von Verträgen gehört, wonach die Verträge Dritten weder schaden noch nutzen dürfen (pacta tertiis nec nocent nec prosunt). Dieser völkerrechtliche Grundsatz findet eine besondere Ausprägung in Art. 34 des Wiener Übereinkommens, wonach ein Vertrag für einen Drittstaat ohne dessen Zustimmung weder Pflichten noch Rechte begründet. (…)

 Der genannte Grundsatz (…) geht über eine bloße Regel für die Auslegung internationaler Übereinkünfte hinaus. Auch wenn, wie die Rechtsmittelführer zutreffend geltend machen, eine Übereinkunft, die die Rechte oder Pflichten eines Dritten berührt, diesem Dritten nach dem Völkervertragsrecht ohne seine Zustimmung nicht entgegengehalten werden kann, kann er nämlich gleichwohl von ihrer Durchführung betroffen sein, wenn in ihren Geltungsbereich ein Gebiet einbezogen wird, das von ihm beherrscht wird oder für das er der Inhaber des Rechts auf Selbstbestimmung ist. Eine solche Durchführung ist insoweit geeignet, entweder die Souveränität eines Staates über sein Hoheitsgebiet oder das Recht eines Volkes auf Selbstbestimmung über das Gebiet, auf das sich dieses Recht bezieht, zu verletzen. Wie der Gerichtshof in der oben genannten Rn. 106 ausgeführt hat, muss das Volk der Westsahara daher der Durchführung eines internationalen Abkommens zwischen der Union und dem Königreich Marokko über das Gebiet der Westsahara zustimmen.

 Folglich ist die fehlende Zustimmung dieses Volkes zu einem solchen Abkommen, dessen Durchführung sich auf das genannte Gebiet oder die daran angrenzenden Gewässer erstreckt, geeignet, die Gültigkeit eines Rechtsakts der Union zu berühren, der wie der streitige Beschluss den Abschluss dieses Abkommens betrifft. Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 3 Abs. 5 und Art. 21 Abs. 1 EUV das Handeln der Union auf internationaler Ebene einen Beitrag namentlich zur strikten Einhaltung und Weiterentwicklung des Völkerrechts, insbesondere zur Wahrung der Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen, leistet.»

 Zur Situation in der Westsahara teilt der EuGH folgende Fakten mit:

 «Insoweit ist erstens darauf hinzuweisen, dass nach dem Ausbruch des bewaffneten Konflikts zwischen u.a. dem Königreich Marokko und dem Front Polisario in den 1970er Jahren ein großer Teil der Bevölkerung der Westsahara vor diesem Konflikt floh und Zuflucht im algerischen Hoheitsgebiet fand (…). Der Vertreter des Front Polisario hat hierzu in der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof unwidersprochen angegeben, dass bis heute etwa 250.000 von insgesamt etwa 500.000 Sahrauis in Flüchtlingslagern in Algerien lebten, ein Viertel in der unter marokkanischer Kontrolle stehenden Zone der Westsahara und der Rest von etwa einem Viertel über die übrige Welt verteilt. Daraus folgt, dass der überwiegende Teil der aktuellen Bevölkerung der Westsahara nicht zu dem Volk gehört, das Inhaber des Rechts auf Selbstbestimmung ist, und zwar dem Volk der Westsahara. Letzteres, das zum großen Teil vertrieben wurde, ist aber der alleinige Inhaber des Rechts auf Selbstbestimmung für das Gebiet der Westsahara. Das Recht auf Selbstbestimmung steht nämlich dem betreffenden Volk zu und nicht der Bevölkerung dieses Gebiets im Allgemeinen, die nach den von der Kommission in der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof vorgelegten Schätzungen nur zu 25 % sahrauischer Herkunft ist.»

 Vor diesem Hintergrund ergibt sich folgende Zusammenfassung: Die Zustimmung des Volkes der Westsahara dazu, dass das Fischerei-Abkommen EU-Marokko von 2019 in diesem Hoheitsgebiet ohne Selbstregierung umgesetzt wird, ist eine Voraussetzung für die Gültigkeit des fraglichen Beschlusses, mit dem der Rat ihn im Namen der Union genehmigt hat. Vor dem Erlass dieses Beschlusses wurden zwar von der Kommission gemeinsam mit dem Europäischen Auswärtigen Dienst (EAD) Konsultationen durchgeführt. Diese Konsultationen zielten aber nicht auf das Volk der Westsahara ab, sondern auf die Bevölkerungsgruppen, die sich gegenwärtig im Gebiet der Westsahara befinden, unabhängig davon, ob sie zum Volk dieses Gebiets gehören oder nicht. Da sich ein erheblicher Teil dieses Volkes derzeit außerhalb des betreffenden Gebiets befindet, waren die Konsultationen nicht geeignet, dessen Zustimmung zu belegen.

 Die Zustimmung muss allerdings nicht in jedem Fall ausdrücklich erteilt werden. Sie kann vermutet werden, wenn das Abkommen keine Verpflichtungen für das daran nicht beteiligte Volk schafft und wenn dem betreffenden Volk durch das Abkommen ein präziser, konkreter, substanzieller und überprüfbarer Vorteil aus der Nutzung der natürlichen Ressourcen des Gebiets erwächst, der in angemessenem Verhältnis zum Ausmaß der Nutzung steht. Da das fragliche Fischerei- Abkommen offenkundig keinen solchen Vorteil vorsah, bestätigt der EuGH die Nichtigerklärung des fraglichen Beschlusses des Rates durch das EuG. (Seite 631)

 Verfassungsgerichtshof (VfGH), Wien, billigt Abschiebung nach Afghanistan

 Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger Afghanistans und Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen. Er verließ sein Land im Jahr 2022 und begehrte internationalen Schutz in Österreich, anschließend stellte er einen Asylantrag in der Schweiz, von wo aus er nach Österreich rücküberstellt wurde. Österreich erteilte keinen Aufenthaltstitel; die dagegen erhobene Beschwerde wurde vom Bundesverwaltungsgericht (BVwG) abgewiesen. Der VfGH bestätigt die Entscheidung des BVwG, das unter Berücksichtigung neuester Länderinformationen zu Afghanistan (Dokumente der Asylagentur der EU) und nach ausführlicher Einzelfallprüfung (Vortrag des Bf. sei widersprüchlich) unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des EGMR zu dem Ergebnis kommt, dass das «öffentliche Interesse an der Beendigung des Aufenthalts von Fremden ohne Aufenthaltstitel das Interesse am Verbleib aus Gründen des Art. 8 EMRK überwiegt». (Seite 650)

 Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, erklärt die ausnahmslos bestehende Verpflichtung, ärztliche Zwangsmaßnahmen stationär in einem Krankenhaus durchzuführen (Krankenhausvorbehalt), für teilweise verfassungswidrig

 Das Urteil ergeht auf Vorlage des Bundesgerichtshofs. Zu prüfen war die Verfassungsmäßigkeit von § 1906a Abs. 1 Satz Nr. 7 BGB a.F., d.h. in der Fassung, die bis zum 31.12.2022 galt (seit 1. Januar 2023 gilt die wortgleiche Fassung des § 1832 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB).

 Der sog. Krankenhausvorbehalt gilt für ärztliche Zwangsmaßnahmen, in die ein Betreuer mit entsprechendem Aufgabenkreis einwilligen kann, allerdings nur mit Genehmigung des Betreuungsgerichts. Im Gesetz heißt es:

 «Widerspricht eine Untersuchung des Gesundheitszustands, eine Heilbehandlung oder ein ärztlicher Eingriff dem natürlichen Willen des Betreuten (ärztliche Zwangsmaßnahme), so kann der Betreuer in die ärztliche Zwangsmaßnahme nur einwilligen, wenn (…).»

 In dem der Vorlage zugrunde liegenden Ausgangsverfahren wendet sich eine psychisch schwer erkrankte Frau gegen die Versagung der betreuungsgerichtlichen Genehmigung, ihre zwangsweise ärztliche Behandlung mit einem Neuroleptikum statt in einem Krankenhaus in dem von ihr bewohnten Wohnverbund durchzuführen.

 «Der Erste Senat des BVerfG stellt seinem Urteil fünf Leitsätze voran:

 1. Ärztliche Zwangsmaßnahmen gegenüber nicht einwilligungsfähigen Betreuten in Erfüllung der staatlichen Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG sind an strenge Voraussetzungen gebunden und nur als letztes Mittel zulässig.

 2. Die mit den fachrechtlichen Anforderungen an ärztliche Zwangsmaßnahmen verbundenen Eingriffe in das Grundrecht der nicht einwilligungsfähigen Betreuten aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 GG unterliegen einer strengen Verhältnismäßigkeitsprüfung.

 3. Die Bindung einer ärztlichen Zwangsmaßnahme an einen stationären Aufenthalt in einem Krankenhaus mit näher bestimmtem Versorgungsniveau ist grundsätzlich zulässig.

 4. Die mit dem Krankenhausvorbehalt verfolgten Zwecke des Schutzes vor Zwangsmaßnahmen im privaten Wohnumfeld, der Prüfung der Voraussetzungen ärztlicher Zwangsmaßnahmen durch multiprofessionelle Teams, der Verhinderung von auf Fehlanreizen beruhendem Ergreifen nicht erforderlicher ärztlicher Zwangsmaßnahmen und der Sicherstellung einer angemessenen fachlichen Versorgung sind legitim und grundrechtlich fundiert.

 5. Eine ausnahmslose Bindung der ärztlichen Zwangsmaßnahme an einen stationären Krankenhausaufenthalt ist allerdings unangemessen. Eine Ausnahme ist geboten, soweit Betreuten im Einzelfall nach einer Betrachtung ex ante aufgrund der ausnahmslosen Vorgabe, ärztliche Zwangsmaßnahmen im Rahmen eines stationären Aufenthalts in einem Krankenhaus durchzuführen, erhebliche Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit zumindest mit einiger Wahrscheinlichkeit drohen und zu erwarten ist, dass diese Beeinträchtigungen bei einer Durchführung in der Einrichtung, in der die Betreuten untergebracht sind und in welcher der Krankenhausstandard im Hinblick auf die konkret erforderliche medizinische Versorgung einschließlich der Nachversorgung voraussichtlich nahezu erreicht wird, vermieden oder jedenfalls signifikant reduziert werden können, ohne dass andere Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit oder einer anderen grundrechtlich geschützten Position mit vergleichbarem Gewicht drohen.»

 Dem Gesetzgeber räumt das BVerfG eine 2-jährige Frist für die gesetzliche Neuregelung ein; den großzügig bemessenen Zeitrahmen (bis 31.12.2026) begründet das Gericht mit «der Bandbreite der in Betracht kommenden Gestaltungsmöglichkeiten und der Komplexität der bei der Gestaltung zu berücksichtigenden rechtlichen und tatsächlichen Erwägungen».

 Das Urteil ist mit 5 : 3 Stimmen ergangen. (Seite 653)

 Richter Wolff hat dem Urteil ein Sondervotum beigefügt. Er sieht den Gesetzgeber nicht in der Pflicht, eine Neuregelung vorzunehmen:

 «Der Auffassung des Senats, aus dem Abwehrrecht des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 GG (Urteil Rn. 100 ff.) ergebe sich die Notwendigkeit der Schaffung einer gesetzlichen Grundlage für eine ambulante Zwangsbehandlung, vermag ich mich nicht anzuschließen.

 1. Ich stimme der Senatsmehrheit insoweit zu, als Fallgestaltungen denkbar sind, in denen die vom Gesetzgeber als zwingende gesetzliche Voraussetzung für eine medizinische Zwangsbehandlung gemäß § 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB a.F. vorgesehene Behandlung in einem Krankenhaus (mit entsprechender vorausgehender Verbringung dorthin) eine Belastung beim Betroffenen auslöst, die den Eingriff im Einzelfall unverhältnismäßig werden lassen kann. Die Zahl der Fälle dürfte, die Ergebnisse der Evaluierung zugrunde gelegt (Urteil Rn. 17), nicht groß sein (…). 2. Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 GG fordert als Abwehrrecht aber zunächst nur, dass der unverhältnismäßige Eingriff – hier die Behandlung in einem Krankenhaus – unterbleiben muss. Als Abwehrrecht fordert Art. 2Abs. 2 Satz 1Alt. 2GG nicht, dass der Gesetzgeber die Rechtsgrundlage für einen Eingriff schaffen muss, der diese Unverhältnismäßigkeit vermeidet. Unterbleibt der Eingriff insgesamt, entfällt auch die mit ihm verbundene Unverhältnismäßigkeit. Die Abwehrfunktion der Grundrechte verbürgt das Recht, einen unverhältnismäßigen Eingriff abzuwehren, nicht aber das Recht, an seiner Stelle einen verhältnismäßigen Eingriff verlangen zu können (…).» (Seite 676)

 BVerfG verhilft einem Strafgefangenen zu effektivem Rechtsschutz gegen die grob fehlerhafte Ablehnung eines Eilantrags, mit dem die Rückgängigmachung einer Verlegung in eine andere Justizvollzugsanstalt begehrt wurde (Seite 677)

 BVerfG stellt klar, dass eine beim BVerwG anhängige „Tatsachenrevision“ (§ 78 Abs. 8 AsylG) – z. B. zur Frage der abschiebungsrelevanten Lage für international Schutzbedürftige in Griechenland – keine „Sperrwirkung“ für anderweit anhängige Verfahren hat (Seite 681)

 EGMR – Richterwahlen: Anna Adamska-Gallant neue polnische Richterin (Seite 684)

 EGMR – Mündliche Verhandlung vor der Großen Kammer: Verhängung einer Disziplinarmaßnahme gegen einen Richter wegen Meinungsäußerung auf Facebook / 5%ige Gehaltskürzung während zwei Monaten / Fall Danilet¸ gegen Rumänien (Seite 684)