EuGRZ |
4. September 2024
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51. Jg. Heft 10-17
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Informatorische Zusammenfassungen
Lucius Caflisch, Genf, befasst sich mit dem vom EGMR Ende 2023 erstellten Gutachten gem. ZP 16 zu Grundsatzfragen präventiver Einschränkungen der Religionsfreiheit bei Berufsausübung in sicherheitsrelevanten Bereichen, wenn es um Nähe zum „wissenschaftlichen“ Salafismus geht
Einleitend wird der Gesamtzusammenhang dargelegt: «In Anbetracht terroristischer Bedrohungen stellen sich der Justiz europaweit Auslegungsfragen von grundsätzlicher Bedeutung, die u.a. den Umfang der Gewährleistung der Religionsfreiheit des Einzelnen im Berufsleben im Verhältnis zum Schutz der öffentlichen Sicherheit betreffen. Diese Konstellation war Gegenstand einer Gutachtenanfrage des belgischen höchsten Verwaltungsgerichts, Conseil d’État, an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.»
Das am 14.12.2023 erstattete Gutachten wird vom Autor im Detail in der Weise ausgewertet, dass er – der Struktur des Gutachtens folgend – dessen Quintessenz absatzweise zusammenfasst. Es schließt sich ein Kommentar an, der nicht nur das Gutachten selbst in den Blick nimmt, sondern auch darstellt, wie das Urteil des belgischen Conseil d’État vom 17. Mai 2024 einzuordnen ist, das fünf Monate nach dem EGMR- Gutachten ergangen ist.
Der Hintergrund des Falles lässt sich kurz wie folgt zusammenfassen: S.B. ist Moslem, ihm wird vorgeworfen, wegen seiner Nähe zum „wissenschaftlichen“ Salafismus eine Gefahr für die innere oder äußere Sicherheit oder die öffentliche Ordnung darzustellen. S.B. hat diese Vorwürfe stets zurückgewiesen. Für seine Berufsausübung als Sicherheitsbeauftragter von privaten Wachunternehmen braucht S.B. eine Identitätskarte, die ihm am 15. Oktober 2021 vom Innenministeriumaus den vorstehend genannten Gründen entzogen wurde. Mit selbigem Bescheid verweigert das Ministerium S.B. für eine geplante neue Berufsausübung als Wachperson die Erteilung einer speziellen Identitätskarte. Das Innenministerium hatte die Ablehnung der Identitätskarte auf Informationen des Geheimdienstes gestützt, ohne selbst Kenntnis von der Geheimdienstakte zu haben.
S.B. hat den Conseil d’État angerufen, der das Verfahren ausgesetzt und dem EGMR folgende Gutachtenanfrage vorgelegt hat:
„Ist die Nähe zu einer religiösen Bewegung oder die Mitgliedschaft in einer solchen Bewegung, die von der zuständigen Behörde aufgrund ihrer charakteristischen Merkmale als auf mittlere oder längere Sicht staatsgefährdend angesehen wird, im Sinn von Artikel 9 Abs. 2 EMRK [Einschränkungen der Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit] hinreichend, um eine einschränkende Maßnahme gegen eine Person zu treffen und dieser ein Verbot der Tätigkeit als Wachperson (agent de gardiennage) aufzuerlegen?“
Caflisch stellt in seinem Kommentar u.a. fest: «Von besonderem Interesse sind die Erwägungen des EGMR über vorbeugende Maßnahmen im Rahmen von Art. 9 Abs. 2 der Konvention. (…) Wie der Gerichtshof in Ziff. 111 seines Gutachtens ausführt (s.o. S. 201 [iv.]), liegt die Kontrolle solcher Einschränkungen bei den richterlichen Instanzen des Staates, die Zugang zu allen, auch vertraulichen Informationen haben.
Diese letzte Erwägung ist ein springender Punkt des Gutachtens. Einschränkungen von Verfahrensrechten sind nur dann möglich, wenn sie diese Rechte nicht aushöhlen. Wenn einer Partei Beweise vorenthalten werden, weil eine Offenlegung dem öffentlichen Interesse widerspricht, muss die Einschränkung insbesondere durch eine richterliche Kontrolle der vertraulichen Informationen kompensiert werden. Deshalb sollte der Staatsrat, so der EGMR, diese Informationen nachprüfen und – soweit mit der Vertraulichkeit vereinbar – die erhobenen Vorwürfe der betroffenen Person mitteilen.»
Nachdem das EGMR-Gutachten seit Dezember 2023 vorlag, war es von besonderem Interesse, wie der belg. Staatsrat darauf reagieren würde. Das innerstaatliche Urteil erging zeitnah, am 17. Mai 2024.
Caflisch beschreibt dieses Urteil vom 17. Mai 2024 und fasst zusammen: Die Kammer des Staatsrats kommt zu dem Ergebnis: «… die Zugehörigkeit des Beschwerdeführers zur Bewegung des „wissenschaftlichen“ Salafismus am Tag der strittigen Entscheidung sei nicht genügend erwiesen und der Einzug der Karte als Sicherheitsbediensteter und die Weigerung, eine weitere Karte auszustellen aufgrund des Risikos, welches S.B. für die innere und äußere Sicherheit des Staates und die öffentliche Ordnung darstelle, seien ungerechtfertigte Maßnahmen.» Deshalb annulliert die Kammer den Entscheid des Innenministers vom 15. Oktober 2021.
Schlussbemerkung: «Der Entscheid des belgischen Innenministeriums vom 15. Oktober 2021, welcher zum vorgehend besprochenen Gutachten des EGMR und zum darauffolgenden Urteil des belgischen Staatsrats vom 17. Mai 2024 geführt hat, ist verständlich, wenn man ihn – so wie seinerzeit das Innenministerium – ohne Kenntnis der ihn begründenden vertraulichen Dokumente und angesichts der angespannten Sicherheitslage in Belgien betrachtet. Die mit dem Fall befasste Kammer des Staatsrats ist dem Gutachten des Gerichtshofs gefolgt; insbesondere haben die Mitglieder der Kammer die vertraulichen Dokumente eingesehen, die zum strittigen Entscheid führten. Diese Dokumente sind und bleiben vertraulich, doch hat sich aus ihnen offensichtlich ergeben, dass der vom belgischen Innenministerium gefällte Entscheid die von Art. 9 Abs. 2 der Konvention geforderten Bedingungen nicht erfüllte. Daraus ist zu schließen, dass der Staatsrat die im Gutachten des EGMR vorgebrachten Erwägungen berücksichtigt hat. Der Beschwerdeführer hat somit keine weiteren Gründe, den Straßburger Gerichtshof mit einer Individualbeschwerde zu befassen, denn einer Anstellung von S.B. als Wachperson oder Sicherheitsbediensteter steht nichts mehr im Weg. Des Weiteren beweist der hier besprochene Fall die Nützlichkeit des durch EMRK-Zusatzprotokoll Nr. 16 eingeführten Gutachtenverfahrens auf europäischer Ebene. In gewissen Situationen werden es die Vertragsparteien vorziehen, einen Fall selbst und ohne bindende Entscheidung des EGMR, aber mit dessen Hilfe, zu erledigen. Für den Gerichtshof, der viele Einzelbeschwerden zu behandeln hat, ist es zweifellos eine Erleichterung, gewisse Fälle nicht in allen Einzelheiten untersuchen zu müssen.» (Seite 193)
András Jakab, Salzburg, prüft und bewertet „Sechs Alternativen zur Verhältnismäßigkeitsprüfung in der Grundrechtsdogmatik“
«Die Verhältnismäßigkeitsprüfung ist zwar heutzutage tatsächlich universell verbreitet, sie ist allerdings nicht alternativlos. » Der Autor analysiert «was die Tugenden der Verhältnismäßigkeitsprüfung in der Grundrechtsdogmatik sind, welche Schwächen sie hat und welche grundrechtsdogmatischen Alternativen überhaupt existieren». (…)
«Im Folgenden werde ich unter einer Verhältnismäßigkeitsprüfung bloß eine mehrschrittige Argumentation bei der Anwendung von Grundrechten verstehen, die mehrere Elemente aus der folgenden Liste beinhaltet: legitimes Ziel (legitimer Zweck, öffentliches Interesse), legitimes Mittel, Geeignetheit („Zwecktauglichkeit“, „rational connection“ oder „rational nexus“), Erforderlichkeit („less/least restrictive means“, „minimal impairment“), Angemessenheit (Adäquanz, Zumutbarkeit, Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne).Wenn man zum letzten Schritt (der Angemessenheit) gelangen möchte, müssen die anderen Schritte (wie viele dies auch letztlich sein mögen) als vorbereitende Kontrollschritte durchgespielt werden.»
Welche Argumente pro und contra – für die Stärken der Verhältnismäßigkeitsprüfung (hier: sechs Gruppen) bzw. ihre Schwächen (hier: vier Hauptkritikpunkte) ins Feld geführt werden, belegt der Autor im Abschnitt A. mit einer Vielzahl von Quellen. Dasselbe gilt für die im Abschnitt B. dargestellten sechs Alternativen.
Als Beispiel für die Stärken der Verhältnismäßigkeitsprüfung wird u.a. auf die „Kompromisskultur“ verwiesen, d.h., dass auch «die Perspektive der Verliererseite ernst genommen wurde». Als Beispiel für die Schwächen des Prüfungsmaßstabs wird u.a. ein Übermaß an richterlicher Gewalt benannt.
Die sechs zu prüfenden Alternativen lauten: (1) Verhältnismäßigkeitsprüfung ohne Angemessenheitskotrolle, (2)Wesensgehaltsschutz, (3) konkrete Regeln (spezifische Gebote und Verbote), (4) absolute Grundrechte, (5) Wednesbury unreasonableness, (6) tiered scrutiny.
Jakab fasst zusammen: «Die Verhältnismäßigkeitsprüfung ist nicht perfekt, sie weist auch einige bedeutende Schwächen auf. Ihre Alternativen sind allerdings letztlich keine attraktiven bzw. keine echten Alternativen, die die Verhältnismäßigkeitsprüfung ablösen könnten. (…) Unsere Suche nach attraktiveren Alternativen ist hiermit gescheitert. Die Verhältnismäßigkeitsprüfung in der Grundrechtsdogmatik ist also letztlich doch alternativlos.» (Seite 204)
Im Anhang findet sich ein tabellarischer Vergleich der Alternativen (Seiten 214-216) und Abbildungen zum Zusammenspiel der tendenziellen Größe des Schutzbereichs und der Kontrollintensität mit Erläuterungen. (Seiten 217-218)
Markus Vordermayer-Riemer, München, behandelt „Die Beschränkung ritueller Schlachtungen aus Tierschutzgründen im Fokus von EuGH und EGMR“
«Nationale Vorschriften über die Vornahme von rituellen Schlachtungen berühren unzweifelhaft die Verbürgungen der Religionsfreiheit. Zu belgischen Vorschriften über das Schächten sind der EuGH (Centraal Israëlitisch Consistorie van België u.a., 2020) und nun auch der EGMR (Executief van de Moslims van België u.a., 2024) in der Sache zu ähnlichen Ergebnissen gekommen und haben dem Tierwohl den Vorrang eingeräumt.»
Der Autor gelangt nach detaillierter Analyse zu dem Schluss: «Nach hiesiger Auffassung haben der EuGH wie der EGMR die konfligierenden Rechtspositionen in weitgehend umsichtiger Weise in Bezug gesetzt. (…)
Über die Lösung der konkreten Fallfragen hinaus legen die Entscheidungen nahe, dass sich beide Gerichte in ihrer Grundrechtsjudikatur weiter annähern. In materieller Hinsicht ist die Nähe („Kohärenz“) der Charta- und Konventionsrechte ohnehin durch insbesondere Art. 52 Abs. 3 GRCh vorgegeben. In Centraal Israëlitisch Consistorie van België (2020) unternimmt der EuGH darüber hinaus erste Schritte, um diverse allgemeine Auslegungsgrundsätze aus der Rechtsprechung des EGMR zu übernehmen. Namentlich betrifft dies die Auslegung der Charta als „living instrument“, die Anerkennung eines Beurteilungsspielraums der Mitgliedstaaten sowie den Einsatz der „Konsensmethode“. Die Frage, ob trotz der strukturellen Verschiedenheit der beiden Gerichte und der unterschiedlichen Verfahrensarten solche Grundsätze auch in sinnvoller Weise übertragbar sind, wurde vom EuGH entweder stillschweigend bejaht oder zunächst aufgeschoben. Auf der anderen Seite lässt der EGMR in Executief van de Moslims van België (2024) keinen Zweifel daran, bei der Bestimmung ungeschriebener legitimer Ziele wie dem Tierschutz dem EuGH nicht nachstehen zu wollen und auch die Prüfung der Verhältnismäßigkeit an der bekannten Struktur zu orientieren, wie sie üblicherweise auch der EuGH verfolgt. Ein wesentliches Alleinstellungsmerkmal des EGMR ist eigentlich nur darin zu erkennen, dass der Straßburger Gerichtshof seine Tendenz zur zunehmenden Fokussierung auf eine prozedurale Kontrolle fortsetzt.» (Seite 219)
Die nachstehend erwähnten Beiträge von Juliane Kokott, Georg Nolte und Anja Seibert-Fohr haben ihren Ursprung in der Gedenkveranstaltung: In memoriam Judge Thomas Buergenthal am 13. Oktober 2023 an der Universität Göttingen. Buergenthal, der am 29. Mai 2023 verstorben ist, hatte eine besondere Beziehung zu Göttingen (seine Mutter ist dort geboren) und zur Göttinger Universität, die ihm im Jahr 2007 die Ehrendoktorwürde verliehen hat (vgl. EuGRZ 2007, 518 [Laudatio von Luzius Wildhaber], Dankesworte des Geehrten, ebd. S. 520). Ein Nachruf von Christian Tomuschat auf Thomas Buergenthal ist bereits erschienen in EuGRZ 2023, S. 185.
Die anlässlich der Gedenkveranstaltung in Göttingen präsentierten Beiträge wurden für die EuGRZ überarbeitet und durch Fußnoten ergänzt. Im Einzelnen:
Juliane Kokott, Luxemburg
Thomas Buergenthal: Menschenrechte und Versöhnung im Schatten von Unrechtsregimen (Seite 230)
Georg Nolte, Den Haag
Thomas Buergenthal als Richter am Internationalen Gerichtshof (Seite 238)
Anja Seibert-Fohr, Straßburg
Thomas Buergenthal: Sein Vermächtnis als Lehrer, Wissenschaftler und Richter (Seite 241)
Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH, Plenum), Luxemburg, ändert Rspr.: Allgemeine und unterschiedslose Vorratsdatenspeicherung nicht mehr zwangsläufig ein schwerer Eingriff in Grundrechte / Diese Lockerung dient der Vermeidung systemischer Straflosigkeit von online begangenen Verletzungen geschützter Urheberrechte / La Quadrature du Net (Nr. 2)
Die Mitgliedstaaten können den Internetzugangsanbietern mit dem Ziel der Bekämpfung von Straftaten im Allgemeinen eine Pflicht zur allgemeinen und unterschiedslosen Vorratsspeicherung von IP-Adressen auferlegen, sofern eine solche Speicherung keine genauen Schlüsse auf das Privatleben der betroffenen Person zulässt.
Die Mitgliedstaaten können zudem unter bestimmten Bedingungen der zuständigen nationalen Behörde Zugang zu den Identitätsdaten gewähren, die IP-Adressen zuzuordnen sind, sofern die strikte Trennung der verschiedenen Datenkategorien gewährleistet ist.
Für den Fall, dass in atypischen Situationen die Besonderheiten des einen solchen Zugang regelnden nationalen Verfahrens es ermöglichen, durch die Verknüpfung der gesammelten Daten und Informationen genaue Schlüsse auf das Privatleben der betreffenden Person zu ziehen, muss der Zugang zu ihnen einer vorherigen Kontrolle durch ein Gericht oder eine unabhängige Verwaltungsstelle unterworfen werden. (Seite 246)
EuGH (GK) setzt sich kritisch mit den weitreichen Eingriffsmöglichkeiten des kroatischen Evidenzrichters in Entscheidungen einzelner Spruchkörper auseinander / Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUVund Art. 47 GRCh / Rs. Hann-Invest u.a.
Bei den zweitinstanzlichen Gerichten in Kroatien ist ein Evidenzrichter vorgesehen, der in der Praxis über die Befugnis verfügt, die Verkündung eines Urteils auszusetzen, den Spruchkörpern Weisungen zu erteilen und die Einberufung einer Abteilungssitzung zu beantragen, in der „Rechtsauffassungen“ festgelegt werden können, die auch für Rechtssachen verbindlich sind, über die bereits beraten wurde. (Seite 264)
EuGH (GK) akzeptiert „Verwestlichung“ als Verfolgungsgrund wegen Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe bei Frauen, die sich aufgrund ihres langjährigen Aufenthalts (15 Jahre) in einem EU-Mitgliedstaat (Niederlande) mit demGrundwert derGleichheit von Frauen undMännern identifizieren / Je nach den Gegebenheiten im Herkunftsland (Irak) Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft möglich / Rs. K.L.
Die Klägerinnen des Ausgangsverfahrens vor dem Bezirksgericht Den Haag sind zwei irakische Mädchen, die 2015 in Begleitung ihrer Eltern und einer Tante in die Niederlande eingereist sind. Asylanträge und Folgeanträge blieben erfolglos. K. und L. gelangten an das vorlegende Gericht und argumentierten, sie hätten Normen, Werte und Verhaltensweisen ihrer Altersgenossen in der niederländischen Gesellschaft angenommen und wären bei einer Rückkehr in den Irak nicht in der Lage, sich den Regeln der dortigen Gesellschaft anzupassen, in der Frauen und Mädchen nicht dieselben Rechte haben wie Männer. Sie würden deshalb befürchten, wegen ihrer Identität, die sich in den Niederlanden geformt habe, verfolgt zu werden. Außerdem stellt der EuGH fest: Art. 24 Abs. 2 GRCh verwehrt es den zuständigen nationalen Behörden, über einen von einem Minderjährigen gestellten Antrag auf internationalen Schutz zu entscheiden, ohne das Wohl des Minderjährigen im Rahmen einer individuellen Prüfung konkret bestimmt zu haben. (Seite 271)
EuGH befürwortet grundsätzlich die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in der EU an Staatenlose palästinensischer Herkunft, wenn der Schutz oder Beistand des UNRWA (UN-Hilfswerk für Palästinaflüchtlinge im Nahen Osten), bei dem sie registriert sind, als nicht länger gewährt angesehen wird / Rs. SN und LN
Es geht um die Verhältnisse im Gazastreifen nach den Ereignissen vom 7. Oktober 2023, die zum Krieg zwischen Israel und der Hamas geführt haben. Wenn das UNRWA menschenwürdige Lebensbedingungen und ein Mindestmaß an Sicherheit nicht mehr gewährleisten kann, ist der Schutz oder Beistand des UNRWA gegenüber dem Antragsteller als nicht länger gewährt anzusehen.
Der Gerichtshof stellt insoweit fest, dass sich die Lebensbedingungen im Gaza-Streifen sowie auch die Fähigkeit des UNRWA, seine Aufgaben zu erfüllen, in noch nie dagewesener Weise verschlechtert haben. (Seite 280)
EuGH (GK) verneint die Pflicht eines Mitgliedstaats (Deutschland) die in einem anderen Mitgliedstaat (Griechenland) einer Syrerin zuerkannte Flüchtlingseigenschaft automatisch anzuerkennen / Die der Frau in Griechenland trotz Flüchtlingsstatus ernsthaft drohende Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung verpflichtet Deutschland zu erneuter, individualisierter und aktualisierter Prüfung sämtlicher Umstände / Rs. QY
Im Rahmen dieser Prüfung der zuständigen Behörde muss diese jedoch die Entscheidung des anderen Mitgliedstaats, dieser Antragstellerin internationalen Schutz zu gewähren, und die Anhaltspunkte, auf denen diese Entscheidung beruht, in vollem Umfang berücksichtigen. Zu diesem Zweck müssen die deutschen Behörden unverzüglich einen Informationsaustausch mit der griechischen Behörde einleiten, die diese Entscheidung erlassen hat.
Der Gerichtshof gelangt zu dem Ergebnis: Erfüllt der Antragsteller die Voraussetzungen für die Anerkennung als Flüchtling, muss diese Behörde [in Deutschland] ihm diese Eigenschaft zuerkennen, ohne hierbei über ein Ermessen zu verfügen. (Seite 290)
EuGH (GK) stellt fest, dass die Anerkennung als Flüchtling in einem EU-Mitgliedstaat (Italien) der Auslieferung des Betroffenen durch den Aufenthaltsmitgliedstaat (Deutschland) an sein Herkunftsland (Türkei) entgegensteht / Rs. A
Der Betroffene wurde im Jahr 2010 in Italien als Flüchtling anerkannt, weil ihm wegen seiner Unterstützung der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) politische Verfolgung durch die türkischen Behörden drohte. Die Türkei stützt ihr Auslieferungsersuchen auf den Verdacht des Totschlags.
Die zuständige deutsche Behörde muss nach dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit mit der italienischen Behörde, die die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt hat, Kontakt aufnehmen. Für den Fall, dass die italienische Behörde daraufhin die Flüchtlingseigenschaft aberkennt, ist es außerdem erforderlich, dass die deutsche Behörde selbst zu dem Ergebnis gelangt, dass der Betroffene die Flüchtlingseigenschaft nicht oder nicht mehr besitzt. Sie muss sich außerdem vergewissern, dass im Fall der Auslieferung an die Türkei für den Betroffenen dort kein ernsthaftes Risiko der Todesstrafe, der Folter oder einer anderen unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung besteht. (Seite 297)
EuGH (GK) hält bei Feststellung schwerer und erheblicher Gefahren für Umwelt und menschliche Gesundheit (RL über Industrieemissionen) die Aussetzung des Betriebs des Stahlwerks Ilva für geboten / Rs. C.Z. u.a.
Das Stahlwerk Ilva, in Betrieb genommen 1965, befindet sich in Süditalien und ist mit 11.000 Arbeitnehmern eines der größten Stahlwerke Europas. Maßnahmen, um die schädlichen Auswirkungen des Betriebs zu verringern, sind seit 2012 vorgesehen, doch haben die Behörden nicht auf deren Umsetzung gedrungen, sondern die Fristen für ihre Umsetzung immer wieder verlängert.
Das vorlegende Mailänder Gericht möchte wissen, ob die besonderen Ausnahmeregelungen, die für das Stahlwerk Ilva gelten, um seinen Fortbestand zu gewährleisten, der RL über Industrieemissionen zuwiderlaufen.
Die Kläger des Ausgangsverfahrens vor dem Mailänder Gericht beziehen sich auf ein Urteil des EGMR vom 24. Januar 2019 (Cordella u.a. gegen Italien, RUDH 2018-2019, 171-182), in dem der EGMR wegen erheblicher nachteiliger Auswirkungen auf Umwelt und Gesundheit der Anwohner Verletzung von Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privatlebens) und von Art. 13 EMRK (Recht auf eine wirksame Beschwerde) festgestellt und jedem der 161 Bf. 5.000,– Euro Entschädigung zugesprochen hatte.
Der EuGH (GK) gelangt zu dem Ergebnis, die Frist für die Umsetzung der vorgesehenen Schutzmaßnahmen dürfe nicht wiederholt verlängert werden; der Betrieb der Anlage sei dann auszusetzen. (Seite 303)
EuGH (GK): Ungarn wird wegen nicht vollständiger Durchführung des Urteils Kommission/Ungarn vom 17. Dezember 2020 zur gemeinsamen Asylpolitik zur Zahlung von 200 Mio. Euro und einem Zwangsgeld von 1 Mio. Euro für jeden Tag des Verzugs verurteilt / Rs. Kommission/Ungarn
«Dass ein Mitgliedstaat die Anwendung einer gemeinsamen Politik insgesamt bewusst umgeht, stellt eine ganz neue und außergewöhnlich schwere Verletzung des Unionsrechts dar, die eine erhebliche Bedrohung für die Einheit dieses Rechts und den in Art. 4 Abs. 2 EUV genannten Grundsatz der Gleichheit der Mitgliedstaaten darstellt.» Es handelt sich um einen Verstoß gegen die Grundsätze der loyalen Zusammenarbeit und der Solidarität. (Seite 315)
EuGH bestätigt unionsrechtliches Wolfsjagdverbot in Österreich / HabitatRL / Bedingungen für eine Ausnahme nicht erfüllt / Bescheid der Tiroler Landesregierung zur Tötung eines Wolfs rechtswidrig / Rs. Umweltverband WWF Österreich u.a.
Eine Ausnahme von diesem Verbot zur Vermeidung wirtschaftlicher Schäden kann nur gewährt werden, wenn sich die Wolfspopulation in einem günstigen Erhaltungszustand befindet, was in Österreich nicht der Fall ist.
Die Tiroler Landesregierung hatte vorübergehend die Tötung eines Wolfs genehmigt, nachdem dieser etwa 20 Schafe auf Weideland getötet hatte. (Seite 326)
EuGH (GK) wertet die Verlängerung der Mindestdauer der Wohnsitzvoraussetzung von fünf Jahren (RL 2003/109/EG) langfristig aufenthaltsberechtigter Drittstaatsangehöriger in Italien auf zehn Jahre für den Zugang zu Sozialhilfeleistungen zur Sicherung des Existenzminimums als mittelbare Diskriminierung / Rs. CU und ND
Eine strafrechtliche Ahndung falscher Angaben zur Wohnsitzvoraussetzung ist nicht zulässig. (Seite 333)
EuGH (GK) verneint Anspruch eines nach Ablauf der sechsjährigen Amtszeit ausscheidenden EuG-Richters auf einen Vorschlag seiner Regierung zur Wiederernennung für eine weitere Amtszeit / Rs. Valancius
Die Regierung ist frei, einen Bewerber zu benennen, der auf einer im Auftrag der Regierung von Sachverständigen erstellten Rangliste nicht der bestplatzierte Bewerber ist. Wird, wie im vorliegenden Fall, nicht der bestplatzierte bisherige Richter, sondern die drittplatzierte Person benannt, ist das unbedenklich, unter der Voraussetzung, dass der Kandidat die Qualifikationsvoraussetzungen für das Richteramt (Art. 255 AEUV) erfüllt. (Seite 340)
Schweizerisches Bundesgericht (BGer), Lausanne, zur Auslegung des BÖG (Bundesgesetz über das Öffentlichkeitsprinzip der Verwaltung) / Unterscheidung zwischen Strafakten im engeren Sinne (i.e.S.) und solchen im weiteren Sinn / hier: Recht auf Zugang zu einem umstrittenen Beschaffungsdossier über Mengen und Preise von Corona-Masken, die an die Armee geliefert wurden
«Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Dokumente des Beschaffungsdossiers, insbesondere auch der E-Mailverkehr, nicht zu den Strafakten i.e.S. gehören und damit nicht gemäss Art. 3 Abs. 1 lit. a Ziff. 2 BGÖ vom sachlichen Geltungsbereich des BGÖ ausgenommen sind. Damit sprechen vorliegend weder das laufende Entsiegelungsverfahren noch das hängige Strafverfahren gegen die Herausgabe der entsprechenden amtlichen Dokumente.» (Seite 346)
Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe: Das für Beamte geltende Lebenszeitprinzip kann für „politische“ Beamte durchbrochen werden (jederzeitige Versetzung in den einstweiligen Ruhestand möglich / Einstufung der Polizeipräsidenten als „politische“ Beamte gem. Beamtengesetz für Nordrhein-Westfalen verfassungswidrig
Der Zweite Senat entscheidet in seinem Beschluss, § 37 Abs. 1 Nummer 5 des Beamtengesetzes für NRW ist mit Art. 33 Abs. 5 GG unvereinbar und nichtig: «Wann die Einstufung eines Amtes als „politisch“ (…) anzunehmen ist, hängt von Faktoren ab, die in jedem Einzelfall im Rahmen einer Gesamtbetrachtung Anhaltspunkte dafür bieten müssen, dass eine fortdauernde Übereinstimmung des Amtsträgers mit den politischen Zielen der Regierung für die wirksame Aufgabenerfüllung unerlässlich ist.
Die Einstufung der Polizeipräsidenten in Nordrhein-Westfalen als politische Beamte stellt einen Eingriff in das Lebenszeitprinzip dar, der nicht durch besondere Sacherfordernisse des betroffenen Amtes gerechtfertigt ist. Weder ihr Aufgabenbereich oder der ihnen zugemessene Entscheidungsspielraum noch ihre organisatorische Stellung, der Umfang der ihnen auferlegten Beratungspflichten gegenüber der Landesregierung oder andere Gesichtspunkte weisen ihr Amt als ein „politisches“ im oben genannten Sinne aus.» (Seite 351)
BVerfG erklärt Auslieferung eines Türken an die Türkei zur Strafvollstreckung für unzulässig / hier: Suizidgefahr / Fehlende eigene Gefahrenprognose des OLG Braunschweig
«Eine Zusicherung entbindet das über die Zulässigkeit einer Auslieferung befindende Gericht jedoch nicht von der Pflicht, zunächst eine eigene Gefahrenprognose anzustellen, um die Situation im Zielstaat [hier: Türkei] und so die Belastbarkeit einer Zusicherung einschätzen zu können. (…) Das Oberlandesgericht hat das Recht des Beschwerdeführers aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG verletzt, indem es nicht ausreichend aufgeklärt hat, ob sein Gesundheitszustand Maßnahmen zur Verhinderung eines erneuten Suizidversuchs gebieten könnte.»
Denn: «Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG enthält ein Grundrecht auf effektiven und möglichst lückenlosen richterlichen Rechtsschutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt (…) Dabei gewährleistet Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG nicht nur das formelle Recht und die theoretische Möglichkeit, die Gerichte anzurufen, sondern verleiht dem Einzelnen einen substantiellen Anspruch auf eine wirksame gerichtliche Kontrolle.»
Zu den Folgen des Suizidversuchs mit schweren Brandwunden, die einer täglichen (in der Türkei kaum möglichen) komplizierten Behandlung der Brandwunden bedürfen, heißt es: «Die vorgelegten ärztlichen Stellungnahmen enthielten gewichtige Gründe im Sinne der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte für die Annahme, dass im Falle der Durchführung der Auslieferung tatsächlich die Gefahr eines erneuten Suizidversuchs bestehe.»
Die 1. Kammer des Zweiten Senats kritisiert nachdrücklich, dass das OLG keinen eigenen Sachverständigen hinzugezogen hat, um auch die medizinischen Fragen zu klären. (Seite 361)
Alain Berset (Schweizer) neuer Generalsekretär des Europarats / Amtsantritt am 18. September 2024
Der 1972 geborene Berset hatte zuletzt das Amt des Bundespräsidenten inne (gewählt von der Bundesversammlung für das Jahr 2023). Zuvor war er u.a. Bundesrat und Chef des eidgenössischen Departements des Inneren. (Seite 368)
EGMR – Gerichtsinterne Wahlen: Marko Bošnjak (Slowene) neuer Präsident des EGMR seit 2. Juli 2024. Er gehört dem Gerichtshof seit 30. Mai 2016 an (EuGRZ 2016, 319). Im Präsidentenamt folgt er der Irin Síofra O’Leary nach, die den Gerichtshof nach Ablauf ihrer neunjährigen Amtszeit am 1. Juli 2024 verlassen hat.
Ebenfalls gewählt wurden: Gabriele Kucsko-Stadlmayer (Österreicherin), Vize-Präsidentin seit dem 2. Mai 2024. Sie gehört dem Gerichtshof seit dem 1. November 2015 an (EuGRZ 2015, 351). Arnfinn Bårdsen (Norweger), Vize-Präsident seit dem 2. Juli 2024. Er gehört dem Gerichtshof seit dem 1. Januar 2019 an (EuGRZ 2018, 700).
Das Mandat für Präsident und Vize-Präsidenten beträgt jeweils drei Jahre innerhalb der normalen richterlichen Amtszeit von neun Jahren. Möglicherweise deutet die jetzt erfolgte Wahl des norwegischen Richters zum Vize-Präsidenten des EGMR auf eine Tendenzwende hin. In der Vergangenheit hatten sich die Richter bei der Wahl des Präsidenten und der Vize-Präsidenten vermehrt auf Kandidaten geeinigt, die das Mandat nicht in der vollen Amtszeit würden ausschöpfen können.
Neuwahl von drei EGMR-Richtern am 26. Juni 2024 / hier: Finnland, Österreich und Serbien
• Der neue finnische Richter am EGMR ist Juha Lavapuro (geb. 29.2.1968). Lavapuro wird sein Amt in Straßburg am 1. Januar 2025 antreten.
• Der neue österreichische Richter am EGMR ist András Jakab (geb. 2.3.1978 in Budapest, ungarischer Nationalität). Jakab wird sein Amt in Straßburg am 1. November 2024 antreten.
• Der neue serbische Richter am EGMR ist Mateja Durovic (geb. 26.9.1984). Durovic wird sein Amt in Straßburg innerhalb von drei Monaten nach seiner Wahl antreten. (Seite 369)
BVerfG präzisiert in einstweiliger Anordnung Kriterien für die Rechtmäßigkeit der Auslieferung im Rahmen eines Europäischen Haftbefehls einer non-binären Person nach Ungarn / hier: Anforderungen an Aufklärungspflichten bzgl. der Haftbedingungen und Gewährleistung von Rechtsschutzmöglichkeiten vor Überstellung
Das Kammergericht, das die Auslieferung für zulässig erklärt hatte, benennt die Gefährdungen von LGBT-Personen in Ungarn, ohne die im Sinne des BVerfG notwendigen Konsequenzen der eigenen Sachaufklärung zu ziehen. Es führt aus: «Auch die Selbstbezeichnung des Antragstellers als nonbinär hindere die Auslieferung nicht. Der Senat [des Kammergerichts] verkenne hierbei nicht, dass die Politik der aktuellen ungarischen Regierung als gender-, homo- und transfeindlich bezeichnet werden müsse und früher in Ungarn erreichte Maßnahmen zur Gleichbehandlung von Homosexuellen und Transpersonen in diskriminierender Weise wieder abgebaut würden. Die Politik der ungarischen Regierung folge damit dem Muster auch anderer populistischer Regime, durch die Stigmatisierung von Homosexuellen und Transpersonen ein innergesellschaftliches Feindbild zu schaffen und so die Geschlossenheit ihrer Anhänger zu stärken.»
Das BVerfG stellt in diesem Zusammenhang fest: «Überdies bedarf es der näheren Überprüfung, ob das Kammergericht auf der Grundlage der vorliegenden Auskünfte der ungarischen Behörden davon ausgehen durfte, dass der Schutz des Antragstellers, der sich als non-binär identifiziert, hinreichend gewährleistet werden wird. Dies erscheint zumindest zweifelhaft.»
Aufgrund dieser Einschätzung weist das BVerfG in seiner einstweiligen Anordnung die Generalstaatsanwaltschaft Berlin an, die Übergabe an die ungarischen Behörden zu verhindern, «damit eine verfassungsgerichtliche Überprüfung der Zulässigkeitsentscheidung des Kammergerichts vor dem Vollzug der Übergabe möglich bleibt». (Seite 370)
Diese Überprüfung wurde durch Schaffung vollendeter Tatsachen vereitelt. Damit befasst sich die Anmerkung von
Raven Kirchner zu vorstehendem Beschluss des BVerfG.
Karlsruhe überspielt: faktischer Vollzug einer Auslieferung nach Ungarn
Einleitend macht Kirchner darauf aufmerksam, dass es sich um eine äußerst ungewöhnliche Konstellation handelt: «Ein Überspielen eines beim Bundesverfassungsgericht anhängigen Verfahrens im Wege des faktischen Vollzugs des angegriffenen Hoheitsakts kommt so gut wie nie vor. Im Falle der Beantragung einstweiliger Anordnungen entspricht es (insbesondere im Auslieferungsrecht) der gängigen Staatspraxis, dass der Vollzug der verfahrensgegenständlichen Maßnahme bis zur Entscheidung über den Antrag auf einstweilige Anordnung ausgesetzt wird. Anders dagegen in dem hier besprochenen Fall, der als bewusstes Überspielen des Bundesverfassungsgerichts zu werten ist.»
Abgekürzt lässt sich die Chronologie der Ereignisse so zusammenfassen: Obwohl der Generalstaatsanwaltschaft Berlin (GStA) bekannt war, dass der Anwalt der auszuliefernden Person am 28. Juni 2024 beim BVerfG den Erlass einer Einstweiligen Anordnung beantragen würde, hat die GStA am Vollzug der Auslieferung festgehalten, die am frühen Morgen des 28. Juni 2024 um 3:00 Uhr begann. Die GStA informierte das BVerfG am 28. Juni 2024 um 11:47 Uhr, dass die Übergabe des Antragstellers bereits um 10:00 Uhr von den österreichischen an die ungarischen Behörden erfolgt sei. Das war für das BVerfG total überraschend, es hatte seinen Beschluss gegen 10:50 Uhr gefasst (s. Rn. 64, oben S. 377). Kirchner geht im Detail auf die sich hiermit stellenden Fragen ein und kommt zu folgendem Ergebnis:
«Gleichwohl zeigt das vorliegende Vorgehen der GStA Berlin, dass sie in künftigen Auslieferungsverfahren keine Gewähr mehr dafür bietet, im Sinne der sonst praktizierten Staatspraxis die Beantragung und Beschlussfassung über einstweilige Anordnungen abzuwarten und damit eine verfassungsgerichtliche Überprüfung der Auslieferungsentscheidung zu ermöglichen. In Fällen, in denen die Prüfung des Bundesverfassungsgerichts nachweislich bewusst überspielt wurde, sind nach hiesiger Auffassung daher vorbeugende einstweilige Anordnungen künftig ausnahmsweise als zulässig zu betrachten. Dies dient der Sicherstellung eines effektiven Grundrechtschutzes und rechtfertigt den Übergriff des Verfassungsgerichts in die fachgerichtliche Entscheidungssphäre. Für künftige Auslieferungsverfahren im Zuständigkeitsbereich der GStA Berlin bedeutet dies, dass die Betroffenen schon während des fachgerichtlichen Verfahrens den Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragen können. Auslieferungen wären dann aufgrund der beschriebenen aufschiebenden Wirkung bis zur Beschlussfassung des Bundesverfassungsgerichts über den Eilantrag versperrt.» (Seite 377)