EuGRZ
31. Oktober 2025
52. Jg. Heft 13-16

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Informatorische Zusammenfassungen

Fortentwicklung der Menschenrechte und demokratische Legitimität: Andreas Zünd stellt grundsätzliche Überlegungen an, die er in acht Gliederungspunkten verankert

 Einleitend werden Grundbegriffe der Philosophie und Dogmatik der Menschenrechte (1) sowie die Verfassungsfunktion der Menschenrechte (2) dargelegt. Die sechs weiteren Kapitel zeichnen sich dadurch aus, dass jeweils durch wohlüberlegte Rechtsprechungsauswahl aus frühester Zeit bis hin zur Gegenwart – und illustriert durch Kernzitate – Rechtsprechungslinien des EGMR aufgezeichnet werden.

 In Betracht gezogen werden:

 Abwehrrechte und positive Verpflichtungen (3);

 die klassische Interpretationsmethode des EGMR bzgl. der Rolle der Konvention als instrument vivant (4);

 es wird auf die grundlegende Bedeutung der Demokratie für den ordre public européen hingewiesen (5);

 die marge d‘appréciation wird als Mechanismus des Ausgleichs beschrieben (6);

 die Maßgeblichkeit des demokratischen Prozesses bei der Bekämpfung des Klimawandelns wird betont (7).

 Zum Beziehungsgefüge von Menschenrechten und demokratischer Legitimität (8) fasst der Autor zusammen:

 «Das Verhältnis von Menschenrechten und demokratischer Mehrheitsentscheidung kann ein delikates sein, das mit verfassungsrechtlichem Denken allerdings unausweichlich verbunden ist. Im demokratischen Rechtsstaat obliegt die Entscheidung dem Verfassungsrichter, im europäischen Verhältnis dem Menschenrechtsgerichtshof. Die Interpretationsgrundsätze der Subsidiarität und der marge d’appréciation sind hierbei wegleitend. Der Beurteilungsspielraum kann weit, eng oder sehr eng sein. Wegleitend ist dabei, wie eng die Fragestellung mit elementaren Fragen der Persönlichkeitsentfaltung verknüpft ist, aber auch der Umstand, dass die Menschenrechte bei positiven Verpflichtungen regelmäßig weite Handlungsmöglichkeiten zulassen. Das ist nicht trennscharf, kann es nicht sein und verweist auf die richterliche Urteilskraft. » (Seite 245)

 Mit der Einordnung jüngster EuGH-Rechtsprechung befasst sich Dominik Schwab: «Schwebend existente Urteile in Polen: Dogmatische Kategorienverschiebung im Namen der Rechtsstaatlichkeit ? Das Urteil des EuGH in der Rs. AW „T“ (C-225/22) im Spannungsfeld von Anwendungsvorrang, richterlicher Unabhängigkeit und der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten»

 Der Ausgangsfall ist im Gesamtzusammenhang der Rechtsstaatskrise in Polen zu sehen. Die Aufmerksamkeit richtet sich zunächst auf einen Konflikt im Jahr 2004 zwischen einem Presseverlag und mehreren Distributoren. Nachdem der Verlag 2005 in erster Instanz erfolgreich ein Vertriebsverbot erstritten hatte, wurde das Urteil 2006 in der Berufungsinstanz in Teilen abgeändert.

 Gegen dieses rechtskräftige Urteil des Berufungsgerichts Krakau von 2006 legte die Generalstaatsanwaltschaft Jahre später, nämlich 2020, einen außerordentlichen Rechtsbehelf ein, über den das Oberste Gericht in der Formation einer neu eingerichteten „Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten“ (im Folgenden: Spezialkammer) entschied.

 Da das Oberste Gericht dem außerordentlichen Rechtsbehelf stattgab, wurde das Urteil des Berufungsgerichts Krakau von 2006 aufgehoben und an dieses Gericht zur erneuten Entscheidung zurückverwiesen.

 Schwab informiert eingangs über die neueingerichtete Spezialkammer:

 «Von entscheidender Bedeutung für das Verfahren vor dem EuGH ist, dass die fünf Richter der Spezialkammer sämtlich sog. Neo-Richter waren. Sie waren nämlich 2018 vom Landesjustizrat (KRS), den die damalige PiS-Regierung umgestaltet hatte, vorgeschlagen und vom seinerzeitigen Staatspräsidenten ernannt worden. Dabei hatte der Staatspräsident eine einstweilige Anordnung des Obersten Verwaltungsgerichts missachtet. Der EuGH hatte daher 2023 judiziert, dass auf diese Weise ernannte Richter kein unabhängiges und unparteiisches, zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht im Sinne v. Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV i.V.m. Art. 47 Abs. 2 GRCh) und kein Gericht im Sinne von Art. 267 AEUV darstellen.»

 Weiter macht der Autor deutlich, worauf sich die Vorlage des Berufungsgerichts Krakau an den EuGH konzentriert:

 «Das Berufungsgericht – von der bisher obsiegenden Prozesspartei um die Feststellung der Rechtskraft des Berufungsurteils von 2006 ersucht – bezweifelte angesichts dieser Umstände die Bindungswirkung des zurückverweisenden Urteils. Dafür hätte es allerdings die Unabhängigkeit der Spezialkammer überprüfen müssen. Dem stand aber das polnische Recht entgegen: Das 2019 in der Hochphase der polnischen Rechtsstaatskrise geänderte Gesetz über die ordentliche Gerichtsbarkeit verbot es ordentlichen Gerichten bei Androhung von Disziplinarstrafen, die Rechtmäßigkeit der Ernennung von Richtern an polnischen Gerichten (einschließlich der Richter des jeweiligen Spruchkörpers selbst) zu prüfen. Flankierend bestimmte das (ebenfalls 2019 geänderte) Gesetz über das Oberste Gericht, dass Anträge, die den Ausschluss eines Richters zum Ziel haben, nicht geprüft würden, sofern sich der Ausschluss auf die Unrechtmäßigkeit der Ernennung dieses Richters stütze. Dasselbe ergab sich aus der jüngeren Rechtsprechung des – ebenfalls von der PiS-Regierung „umgestalteten“ – polnischen Verfassungsgerichts.

 Diese Rechtslage hielt das Berufungsgericht für unvereinbar mit der mittlerweile gefestigten Rechtsprechung des EuGH, dass jedes Gericht, das potentiell über Fragen aus den vom Unionsrecht erfassten Bereichen zu entscheiden hat – so also auch die Spezialkammer des Obersten Gerichts –, den Anforderungen an wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz gem. Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV gerecht werden muss. Dafür hat es insbesondere die unionsrechtlich geforderte Unabhängigkeit aufzuweisen. Das Berufungsgericht legte dem EuGH daher vier Fragen zur Vorabentscheidung vor (…).» Zu den Vorlagefragen 1 bis 3 stellt Schwab fest:

 «Hinsichtlich der Fragen 1 bis 3 ist das Urteil des EuGH nicht überraschend; der Gerichtshof konnte vielmehr an etablierte Rechtsprechungslinien anknüpfen, die konsequent fortgeführt werden (…).»

 Ausführlich befasst sich Schwab mit der Vorlagefrage 4:

 «Neuland betritt der EuGH hingegen mit dem Ausspruch, dass eine nationale Gerichtsentscheidung unter gewissen Umständen als „nicht existent anzusehen [ist]“. Die Kategorie der „Nichtigkeit“ oder „Nicht-Existenz“ – (…) – ist zwar nicht völlig ohne Vorläufer in der Rechtsprechung des Gerichtshofs, erfährt in der vorliegenden Entscheidung aber eine merkliche Ausweitung (…).»

 Abschließend stellt der Autor fest: «Eines scheint nach der Analyse des Urteils AW „T“ festzustehen: Dem EuGH geht es mit seiner neuen Lesart des Vorrangprinzips nicht mehr (nur) um die Sicherung der Effektivität und Einheitlichkeit des Unionsrechts im Einzelfall. Vielmehr führt er die wertefundierte, normative Korrektur des polnischen Justizsystems als solchem nun auf einer weiteren Ebene fort und verwischt dabei die Grenzen zwischen Anwendungs- und Geltungsvorrang, ohne ausdrücklich einen Systemwechsel zu deklarieren. Das polnische Justizsystem mag den Anlass geboten haben, doch die Maßstäbe des Urteils betreffen potentiell letztlich alle Mitgliedstaaten. Wie weitreichend seine verfassungspraktischen Auswirkungen tatsächlich sind, wird davon abhängen, ob und in welchem Umfang die nationalen Gerichte bereit sind, die ihnen eröffnete Möglichkeit zur Neutralisierung höchstrichterlicher Entscheidungen auch tatsächlich zu nutzen und welche konkreten Folgen dies in den Justizsystemen der Mitgliedstaaten hat.» (Seite 250)

 Zu diesem EuGH-Urteil s.a. unten S. 264

 Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Straßburg, stellt im Fall Russ ./. Deutschland Verletzung der Versammlungsfreiheit fest

 Der Bf. ist zu einer Geldstrafe von 300,– Euro verurteilt worden wegen des Tragens eines durchsichtigen Plastikvisiers auf einer friedlichen Demonstration im Frankfurter Bankenviertel im Jahr 2015. Ihm wird ein Verstoß gegen das Versammlungsgesetz vorgeworfen, das ein allgemeines Verbot des Mitsichführens von „Schutzwaffen“ bei öffentlichen Versammlungen unter freiem Himmel vorsieht.

 Zu der Frage, ob das Gesetz ein legitimes Ziel verfolgt, wird ausgeführt: «Der Gerichtshof stellt fest, dass ein Verbot von Schutzwaffen laut den Gesetzesmaterialien für notwendig erachtet wurde, weil „Teilnehmer, die solche Schutzwaffen mit sich führen, [...] aufgrund ihres martialischen Erscheinungsbildes eine offenkundige Gewaltbereitschaft [dokumentieren] und [...] auf die Menge nach massenpsychologischen Erkenntnissen eine agressionsstimulierende Wirkung aus[üben]“ (...). Der Gerichtshof ist daher davon überzeugt, dass mit dem Verbot von Schutzwaffen und der Verurteilung des Bf. wie von der Regierung vorgebracht die Ziele der Aufrechterhaltung der Ordnung, der Verhütung von Straftaten und des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer verfolgt wurden. Diese Ziele als solche sind i.S.d. Art. 11 Abs. 2 EMRK legitim.»

 Es fehlte jedoch an der Notwendigkeit, eine Strafe zu verhängen; dazu stellt der Gerichtshof fest: «dass die zuständigen Behörden keine Anordnung nach § 17a Abs. 4 VersammlG (...) getroffen haben, um das Verbot von „Schutzwaffen“ während der Demonstrationen durchzusetzen, insbesondere wurde der Bf. nicht aufgefordert, das Visier abzunehmen. Die Gerichte haben auch nicht erklärt, warum eine solche Anordnung nicht zur Verhütung von Gewalt und zur Aufrechterhaltung der Ordnung geeignet gewesen wäre.» (...) «Unter den besonderen Umständen des Falles ist der Gerichtshof der Auffassung, dass die innerstaatlichen Gerichte nicht erklärt haben, warum das Mitsichführen eines schlichten Visiers eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit dargestellt hat, aufgrund derer die strafrechtliche Verurteilung des Bf. in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war. (...) Folglich ist Art. 11 EMRK verletzt worden.» (Seite 257)

 Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH), Luxemburg, mahnt gegenüber einem vorlegenden polnischen Gericht „unbedingte Ergebnispflicht“ in Bezug auf die Überprüfung der Unabhängigkeit der zur Auslegung des Unionsrechts berufenen Gerichte an / Verpflichtung, eine bestimmte Gerichtsentscheidung „als nicht existent“ anzusehen

 Das Vorabentscheidungsverfahren aus Polen war vom Berufungsgericht Krakau eingeleitet worden. Dessen rechtskräftige Entscheidung aus dem Jahr 2006 hatte das Oberste Gericht [Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten, fünf Richter und zwei Geschworene] mit Urteil vom 20. Oktober 2021 aufgehoben – aufgrund eines am 27. Januar 2020 eingelegten (erst kürzlich eingeführten] außerordentlichen Rechtsbehelfs der Generalstaatsanwaltschaft. Das Urteil des Obersten Gerichts vom 20.10.2021 hatte zur Folge, dass durch Rückverweisung erneut die Zuständigkeit des Berufungsgerichts Krakau begründet wurde.

 Der EuGH stellt fest:

 «Wie aus den Akten (…) hervorgeht, sind die fünf Richter, die zusammen mit zwei Geschworenen die Spruchkammer der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten gebildet haben, die über den außerordentlichen Rechtsbehelf, um den es im Auswahlverfahren geht, entschieden haben, am selben Tag und unter denselben Umständen ernannt worden wie diejenigen, die in der Rechtssache, in der das Urteil vom 21. Dezember 2023, Krajowa Rada Sądownictwa (Verbleib eines Richters im Amt) (C-718/21, EU:C:2023:1015) ergangen ist, das vorlegende Gremium gebildet haben. Der Gerichtshof hat aber bereits entschieden, dass ein Gremium bereits dann kein unabhängiges, unparteiisches und zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht im Sinne von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 Abs. 2 der Charta darstellt, wenn an ihm auch nur ein einziger Richter mitwirkt, der unter denselben Umständen ernannt wurde wie diejenigen, um die es in der Rechtssache ging, in der das Urteil vom 21. Dezember 2023, (…) C-718/21 (…), erlassen wurde (…).»

 Zu den innerstaatlichen Vorschriften, die ein ausdrückliches Verbot enthalten, über die ordnungsgemäße Besetzung eines Spruchkörpers zu entscheiden, stellt der EuGH fest:

 «dass die Wirkungen des Grundsatzes des Vorrangs des Unionsrechts nach ständiger Rechtsprechung für alle Einrichtungen eines Mitgliedstaats verbindlich sind, ohne dass dem insbesondere innerstaatliche Bestimmungen, auch wenn sie Verfassungsrang haben, entgegenstehen könnten.»

 Der EuGH erinnert ferner eindringlich daran, dass der Grundsatz der Rechtskraft zu beachten ist:

 «Zur Gewährleistung des Rechtsfriedens und der Beständigkeit rechtlicher Beziehungen sowie einer geordneten Rechtspflege sollen nämlich nach Ausschöpfung des Rechtswegs oder nach Ablauf der entsprechenden Rechtsmittelfristen unanfechtbar gewordene Gerichtsentscheidungen nicht mehr in Frage gestellt werden können.»

 Der EuGH kommt zu dem Ergebnis, dass das vorlegende (niedere) Gericht, das Urteil des Obersten Gerichts vom 20. Oktober 2021 „als nicht existent“ anzusehen hat. (Seite 264)

 S.a. die Kommentierung dieses Urteils von Dominik Schwab, in diesem Heft auf S. 250 ff.

 Schweizerisches Bundesgericht (BGer), Lausanne, billigt das 2023 im Kanton Zürich eingeführte Obligatorium zum elektronischen Behördenverkehr für Anwälte und weitere Parteivertreter

 Die Teilrevision durch das Verwaltungsrechtspflegegesetz des Kantons Zürich i.d.F. vom 30. Oktober 2023 verpflichtet berufsmäßige Parteivertreter Eingaben an kantonale Verwaltungs- und Justizbehörden elektronisch zu übermitteln und unterschriftsbedürftige Eingaben mit einer qualifizierten elektronischen Signatur zu versehen.

 Das BGer legt detailliert dar, dass der Eingriff in die Wirtschaftsfreiheit (Art. 27 BV) als gering einzustufen ist und die Neuregelung im öffentlichen Interesse liegt, weil sie der Verfahrensbeschleunigung dient. Bezüglich anfallender Kosten wird u.a. auf eine Studie verwiesen, die belegt, dass elektronische Eingaben um mehr als die Hälfte günstiger sind als postalische Einschreiben. Gesamthaft betrachtet, erweist sich der Digitalisierungszwang als verhältnismäßig. (Seite 272)

 BGer, Lausanne, hält „Dauertelefonbewilligung“ in der U-Haft zur Gewährleistung der Kommunikation mit der Verteidigung für angemessen

 Ein entgegenstehender Beschluss des Obergerichts des Kantons Bern wird aufgehoben. Der zu erteilenden Bewilligung stehen Praktikabilitätsbedenken nicht entgegen: «In der Lehre wird überzeugend darauf hingewiesen, dass allfälligem Missbrauchspotential ohne grösseren Aufwand hinreichend begegnet werden kann, nämlich mittels behördlicher Vermittlung des Telefonanrufs der inhaftierten Person an die von der Verteidigung angegebene Rufnummer und durch – bereits heute ohne weiteres vornehmbare – technische Beschränkung der Möglichkeit der inhaftierten Person, selbständig eine ( andere) Rufnummer zu wählen.» (Seite 280)

 Verfassungsgerichtshof (VfGH), Wien, befasst sich mit dem Verbot der Zwangs- oder Pflichtarbeit gem. Art. 4 EMRK

 Im Anlassfall war die Aufhebung von Art. 27 Abs. 4 des Steiermärkischen Jugendgesetzes (StJG) beantragt worden.

 Der VfGH begründet ausführlich, warum diese Bestimmung, die die Möglichkeit vorsieht, Jugendlichen als Strafmaßnahme die Erbringung einer sozialen Leistung aufzuerlegen, nicht gegen Art. 4 EMRK verstößt. Der VfGH erinnert u.a. daran, dass Zwangs- oder Pflichtarbeit nur dann vorliegt, wenn «die Arbeit ungerecht oder bedrückend ist oder unvermeidbare Härten zur Folge hat.» Einer 17-Jährigen war nach einer Verwaltungsübertretung aufgegeben worden, als soziale Leistung 10 Stunden für das Rote Kreuz zu arbeiten. (Seite 282)

 Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, stellt Verletzung des religiösen Selbstbestimmungsrechts eines kirchlichen Arbeitgebers fest und präzisiert maßgebliche Kriterien für die Güterabwägung im Rahmen des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) / Egenberger-Urteil des Bundesarbeitsgerichts wird aufgehoben

 Mit der erfolgreichen Verfassungsbeschwerde setzt sich der kirchliche Arbeitgeber (Evangelisches Werk für Diakonie und Entwicklung [EWDE]) gegen eine konfessionslose Stellenbewerberin (Frau Vera Egenberger) durch, die sich 2012 auf eine vom EWDE ausgeschriebene Stelle beworben hatte, ohne sich zu ihrer Religionszugehörigkeit zu äußern. Die Ausschreibung enthielt den Hinweis „Die Mitgliedschaft in einer evangelischen oder der ACK angehörenden Kirche und die Identifikation mit dem diakonischen Auftrag setzen wir voraus. Bitte geben Sie Ihre Konfession im Lebenslauf an“.

 Frau Egenberger war nicht zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen worden. Sie machte im arbeitsgerichtlichen Verfahren geltend, aus religiösen Gründen weniger günstig behandelt worden zu sein als vergleichbare Bewerber und verlangte eine Entschädigung. Der Rechtsstreit wurde bis zum Bundesarbeitsgericht (BAG) geführt, das im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens den EuGH anrief (Rs. Egenberger, C-414/16, Urteil vom 17. April 2018 = EuGRZ 2018, 299).

 Der EuGH stellte fest, dass das Verbot jeder Art von Diskriminierung wegen der Religion als allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts zwingenden Charakter habe. Hierauf könne sich der Einzelne in einem Rechtsstreit gemäß Art. 21 GRCh unmittelbar berufen. Gleiches gelte für das in Art. 47 GRCh niedergelegte Recht auf wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz. Infolgedessen müsse das nationale Gericht jede entgegenstehende nationale Vorschrift unangewendet lassen, die der vollen Wirksamkeit dieser Bestimmungen entgegenliefe. Dies gelte auch in einem Rechtsstreit unter Privatpersonen.

 Im Anschluss an das EuGH-Urteil entschied das BAG am 25. Oktober 2018, an Frau Egenberger sei eine Entschädigung in Höhe von Euro 3.915,46 zu zahlen. Dieses Urteil des BAG hebt das BVerfG jetzt auf und stellt u.a. fest:

 «Das Bundesverfassungsgericht prüft innerstaatliches Recht und dessen Anwendung grundsätzlich auch dann am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes, wenn es im Anwendungsbereich des Unionsrechts liegt, durch dieses aber nicht vollständig determiniert ist. Die hier maßgeblichen Normen der Gleichbehandlungsrichtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Reichweite des religiösen Selbstbestimmungsrechts im Bereich des religiösen Arbeitsrechts belassen den Mitgliedstaaten bei ihrer Durchführung Gestaltungsspielräume. Innerhalb des vom unionalen Fachrecht in der Auslegung durch den Gerichtshof der Europäischen Union vorgegebenen Rahmens indizieren diese Gestaltungsspielräume Grundrechtspluralität.» (…)

 «Das Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 25. Oktober 2018 verletzt den Beschwerdeführer in seinem religiösen Selbstbestimmungsrecht gemäß Art. 4 Abs. 1 und 2 in Verbindung mit Art. 140 GG und Art. 137 Abs. 3 Satz 1 WRV. Nach den durch das Unionsrecht konkretisierten verfassungsrechtlichen Maßstäben unterliegt das Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 25. Oktober 2018 zwar insoweit keinen Bedenken, als es von der Unanwendbarkeit des § 9 Abs. 1 Alt. 1 AGG ausgeht (…). Es verstößt jedoch gegen Art. 4 Abs. 1 und 2 in Verbindung mit Art. 140 GG und Art. 137 Abs. 3 Satz 1 WRV, weil die bei der Anwendung des § 9 Abs. 1 Alt. 2 AGG vorgenommene Güterabwägung dem religiösen Selbstbestimmungsrecht des Beschwerdeführers nicht in dem verfassungsrechtlich gebotenen Umfang Rechnung trägt.»

 Weiter heißt es: «Mangels Berücksichtigung des plausibel – und damit ausreichend – dargelegten christlichen Profils der verfahrensgegenständlichen Stelle überspannt das Bundesarbeitsgericht in der Folge bei der Anwendung der einzelnen Tatbestandsmerkmale des § 9 Abs. 1 Alt. 2 AGG die nach Maßgabe der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu beachtenden Vorgaben zulasten des religiösen Selbstbestimmungsrechts. Indem das Gericht seine Sicht auf die ausgeschriebene Tätigkeit und deren Zusammenhang mit der Kirchenmitgliedschaft an die Stelle der Sicht des Beschwerdeführers setzt, wird das Interesse des Beschwerdeführers, eine christliche Sicht auf mögliche Menschenrechtsverletzungen in den Parallelbericht zur UN-Antirassismuskonvention einfließen zu lassen, nicht in der verfassungsrechtlich gebotenen Weise gewichtet.» (Seite 287)

 BVerfG, Karlsruhe, Trojaner I-Beschluss: die im Polizeigesetz Nordrhein-Westfalen (PolG NRW) vorgesehenen Ermächtigungen zur präventiven Überwachung sowohl von Telekommunikation als auch von Quellen-Telekommunikation sind gerechtfertigt

 Das Verfassungsbeschwerdeverfahren betrifft den im Jahr 2018 neu eingeführten § 20c PolG NRW, mit dem erstmals im Wege polizeilicher Befugnisse, Gefahrenabwehr insbesondere auch durch (internationalen) Terrorismus effektiviert werden soll. Eingriffsvoraussetzung ist generell das Vorliegen einer richterlichen Anordnung.

 Der Gesetzesentwurf zum PolG NRW begründet die Notwendigkeit der Neuregelung u.a. wie folgt (Hervorhebungen hinzugefügt):

 «Einer heimlichen Überwachung der Telekommunikation komme (…) eine Schlüsselrolle zu. Gerade Terroristen seien zur Vorbereitung und Durchführung von Straftaten darauf angewiesen, mobil zu sein und moderne Kommunikationsmittel zu nutzen. Erst der Zugriff auf diese Kommunikation erlaube, einschlägige Zusammenhänge aufzuklären, mithin die Zielperson präzise einzuschätzen und Beziehungsgeflechte aufzuspüren. Die Befugnis zur Quellen-Telekommunikationsüberwachung sei als Ergänzung zur klassischen Telekommunikationsüberwachung unerlässlich, weil nur dadurch gewährleistet sei, dass auch auf verschlüsselte Telekommunikationsinhalte zugegriffen werden könne. Nutzten Kriminelle angesichts der fortschreitenden Digitalisierung solche Verschlüsselungstechnologien, müssten Polizeibehörden in der Lage sein, hierauf zu reagieren (…).»

 Je nachdem, in welcher Form die Überwachung stattfindet, sind folgende Grundrechte betroffen

 bei Telekommunikationsüberwachung:

 Fernmeldegeheimnis (Art. 10 Abs. 1 GG)

 «Die Befugnis zur Telekommunikationsüberwachung nach § 20c Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 PolG NRW greift in Art. 10 Abs. 1 GG (Fernmeldegeheimnis/Telekommunikationsgeheimnis) ein.»

 – bei Quellen-Telekommunikationsüberwachung:

 Fernmeldegeheimnis (Art. 10 Abs. 1 GG) und außerdem das IT-System-Grundrecht

 «Die Befugnis zur Quellen-Telekommunikationsüberwachung nach § 20c Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 in Verbindung mit § 20c Abs. 2 PolG NRW verkürzt sowohl den Gewährleistungsgehalt von Art. 10 Abs. 1 GG (…) als auch den des ITSystem- Grundrechts (…). Sie ist daher an beiden Gewährleistungen zu messen (…).»

 Das bedeutet:

 «Soweit durch eine Maßnahme sowohl das IT-System- Grundrecht als Ausprägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) als auch Art. 10 Abs. 1 GG betroffen sind, tritt das IT-System-Grundrecht nicht hinter das grundsätzlich gegenüber dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht speziellere Freiheitsrecht aus Art. 10 Abs. 1 GG zurück. Eine auf die laufende Telekommunikation beschränkte Quellen-Telekommunikationsüberwachung ist folglich an beiden Gewährleistungen zu messen. (…)»

 Die Verfassungsbeschwerde wird zurückgewiesen. Die durch die angegriffenen polizeirechtlichen Befugnisse begründeten Grundrechtseingriffe sind gerechtfertigt. (Seite 320)

 BVerfG, Karlsruhe, befasst sich im Trojaner II-Beschluss mit den neu in die Strafprozessordnung eingeführten Rechtsgrundlagen sowohl für eine Quellen-Telekommunikationsüberwachung (§ 100a Abs. 1 Sätze 2 und 3 StPO) als auch mit der Online-Durchsuchung (§ 100b Abs. 1 StPO)

 Bzgl. der erwähnten StPO-Bestimmungen zur Quellen- Telekommunikationsüberwachung müssen zwei unterschiedliche Fall-Konstellationen auseinandergehalten werden: § 100a Abs. 1 Satz 2 StPO betrifft den Zugriff auf eine laufende Telekommunikation; dagegen regelt die weitergefasste Bestimmung, § 100a Abs. 1 Satz 3 StPO, den Zugriff auf gespeicherte, vormals laufende Telekommunikation; beiden Konstellationen ist gemeinsam, dass ohne Einschaltung von Telekommunikationsdiensten, der Zugriff auf das IT-System selbst erfolgt. Das BVerfG führt aus (Hervorhebung hinzugefügt):

 «Die Quellen-Telekommunikationsüberwachung nach § 100a Abs. 1 Satz 2 StPO ermächtigt unter den Voraussetzungen nach § 100a Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 StPO zur Überwachung und Aufzeichnung der Telekommunikation auch in der Weise, dass mit technischen Mitteln in von Betroffenen genutzte IT-Systeme eingegriffen wird. Die Überwachung erfolgt mit dem Ziel, auch solche Inhalte einer Kommunikation zu erfassen, die bei einer bloßen Telekommunikationsüberwachung aufgrund ihrer Verschlüsselung nicht oder jedenfalls nicht mit praktisch vertretbarem Aufwand ausgewertet werden können. Der Zugriff darf in solchen Fällen vor der Verschlüsselung beim Sendegerät oder nach der Entschlüsselung beim Empfangsgerät erfolgen. Zu diesem Zweck darf die Polizei mit technischen Mitteln in das von der betroffenen Person genutzte IT-System eingreifen; erlaubt ist insbesondere der Einsatz einer Überwachungssoftware (sog. Trojaner; BTDrucks 18/12785, S. 48 f.). Ein Systemeingriff darf aber nur erfolgen, wenn durch technische Maßnahmen sichergestellt ist, dass ausschließlich die laufende Telekommunikation überwacht und aufgezeichnet wird (…). Auch muss der Eingriff in das System gemäß § 100a Abs. 1 Satz 2 StPO notwendig sein, um die Überwachung und Aufzeichnung der Telekommunikation insbesondere auch in unverschlüsselter Form zu ermöglichen. (…)»

 Weiter heißt es:

 «§ 100a Abs. 1 Satz 2 StPO genügt allerdings nicht vollständig den besonderen Anforderungen an heimliche Überwachungsmaßnahmen, die sich aus der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne ergeben. Die Befugnis ermöglicht sehr schwerwiegende Grundrechtseingriffe (…) es können alle – privaten und privatesten – Lebensbereiche betroffen sein (…). Lesbar können zum Beispiel die Zugangsdaten zu Online-Diensten wie Cloud-Services, Online-Banking oder Gesundheitsservices (…) sowie die Daten sogenannter Fitnesstracker sein. Findet im Anordnungszeitraum ein Cloud-Backup statt, können in Abhängigkeit der hersteller- beziehungsweise nutzerseitigen Voreinstellungen potentiell alle auf dem IT-System zunächst nur gespeicherten, ruhenden Daten (einschließlich dort gespeicherter früherer Kommunikationsdaten) als Telekommunikation erfasst werden.»

 Vor diesem Hintergrund stellt das BVerfG fest:

 «Ausgehend von dem sehr hohen Eingriffsgewicht der von § 100a Abs. 1 Satz 2 StPO erlaubten Quellen-Telekommunikationsüberwachung muss diese aus Gründen der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne auf die Verfolgung besonders schwerer Straftaten beschränkt sein.» (…)

 «Ausgehend vom Strafrahmen einer Strafnorm liegt die besondere Schwere einer Straftat jedenfalls dann vor, wenn sie mit einer Höchstfreiheitsstrafe von mehr als fünf Jahren bedroht ist (…) jedenfalls [genügen] die in § 100a Abs. 2 StPO genannten Straftatbestände nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen, die lediglich eine Höchstfreiheitsstrafe von drei Jahren oder weniger vorsehen und damit dem einfachen Kriminalitätsbereich zuzuordnen sind. Diese Straftaten haben von vornherein kein besonders schweres Gewicht, weshalb sie die Anordnung einer so eingriffsintensiven Maßnahme wie die Quellen-Telekommunikationsüberwachung nicht rechtfertigen können.»

 Gestützt u.a. auf die vorstehend benannten Gründe erklärt der Senat § 100a Abs. 1 Sätze 2 und 3 StPO in dem in der Entscheidungsformel wiedergegebenen Umfang für nichtig. (Seite 338)

 BVerfG, Karlsruhe, bestimmt die Grenzen zulässiger Einschränkung der Berufsfreiheit (Art. 12 GG) im Lichte geänderter tatsächlicher Verhältnisse / Gesetzliche Altersgrenze von 70 Jahren für Anwaltsnotare unvereinbar mit dem Grundgesetz / Bisherige Regelung bleibt bis 30.6.2026 anwendbar

 Die Verfassungsbeschwerde wurde von einem Anwaltsnotar eingelegt (diese Berufsausübungsform – Gleichzeitigkeit von Notar- und Anwaltsberuf – existiert lediglich in sechs Bundesländern, die Regel sind hauptberufliche Notare).

 Das Urteil stützt sich zur Einschätzung der tatsächlichen Verhältnisse auf eine breite Basis von statistischen Angaben, die u.a. vom Institut für Anwaltsrecht der Universität Köln übermittelt wurden. Ferner haben auf Anfrage des Senats das Deutsche Zentrum für Altersfragen und die Deutsche Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie «zur Entwicklung der Berufsfähigkeit im höheren Alter und zur Begründbarkeit von starren Altersgrenzen aus alternswissenschaftlicher Sicht Stellung genommen»; zu den Ergebnissen s. z.B. S. 382, Rn. 129 ff. des Urteils (mit interessanten Hinweisen u.a. zu kognitiven Kompetenzen – sogen. fluide oder kristalline Intelligenz). Die so gewonnenen Erkenntnisse führen zu der Feststellung, dass «die verfassungsrechtliche Eignung der Altersgrenze noch zu bejahen ist». Es fehlt jedoch an der Angemessenheit der Regelung.

 Der Erste Senat hat seinem Urteil zwei Leitsätze vorangestellt:

 «1. Die Berufsfreiheit nach Art. 12 Abs. 1 GG hat eine wirtschaftliche und eine auf die Entfaltung der Persönlichkeit bezogene Dimension. Sie konkretisiert das Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit im Bereich der individuellen Leistung sowie der Existenzgestaltung und -erhaltung und zielt auf eine möglichst unreglementierte berufliche Betätigung ab.

 2. Die Altersgrenze des vollendeten siebzigsten Lebensjahres (…) erreicht die mit ihr verfolgten legitimen Ziele – die Gewährleistung der Funktionstüchtigkeit der vorsorgenden Rechtspflege sowie einer (gerechten) Verteilung der Berufschancen zwischen den Generationen und den Schutz der Rechtspflege vor Gefahren durch eine altersbedingt nachlassende Leistungsfähigkeit von Notaren – infolge eines nachhaltigen Bewerbermangels im Anwaltsnotariat und der heutigen Erkenntnisse zur Bedeutung des Alters für die Berufstüchtigkeit nur noch zu einem geringen Grad und schränkt die Berufsfreiheit unverhältnismäßig ein, soweit sie das Anwaltsnotariat betrifft.» (Seite 371)

 Offener Brief von 9 EU-Staats- und Regierungschefs übt deutliche Kritik an der Rechtsprechung des EGMR

 Das Dokument vom 22. Mai 2025 ist auf Initiative Dänemarks und Italiens entstanden, mitunterzeichnet haben Belgien, Estland, Lettland, Litauen, Österreich, Polen und Tschechien (Seite 389)

 Generalsekretär des Europarats, Alain Berset, reagiert bereits am 24. Mai 2025 auf den offenen Brief der 9 EU-Staats- und Regierungschefs

 „Debattieren ist förderlich, aber den Gerichtshof zu politisieren, ist es nicht.“ (Seite 391)

 Europäisches Parlament (EP), Straßburg, macht in einer Entschließung Reformvorschläge zu Art. 7 EUV

 Hintergrund: Stand der EU-Beitrittsverhandlungen (weitere 9 bzw. 10 Länder) (Seite 391)

 Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Straßburg: Zwischen Jan. und Sept. 2025 gab es in 50 Fällen Anträge auf Verweisung an die Große Kammer. Angenommen wurden drei Anträge. (Seite 396)