EuGRZ 2003 |
30. April 2003
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30. Jg. Heft 4-6
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Informatorische Zusammenfassung
Die Zukunft des EGMR / Symposion an der Universität Graz
Veranstalter war die Universität Graz in Zusammenarbeit mit dem Bundeskanzleramt-Verfassungsdienst, Wien, und der EuGRZ (7./8. Februar 2003). (Seite 93)
Christian Tomuschat, Berlin, begründet, warum der individuelle Rechtsschutz das Herzstück des „ordre public européen“ nach der Europäischen Menschenrechtskonvention ist
„Zur Debatte steht bekanntlich vor allem der von Präsident Wildhaber selbst unterstützte [EuGRZ 2002, 572 f.] Vorschlag der sog. Evaluierungsgruppe, der Gerichtshof möge künftig eine andere Rolle spielen als bisher. Ähnlich wie der Supreme Court der USA solle er sich darauf beschränken, Grundsatzfragen zu entscheiden, so dass er dann von den rechtlich längst geklärten Routinefällen entlastet werden könnte. (…)
Ich bin nicht der Auffassung, dass die Abhilfe im Einzelfall zweitrangig sei im Vergleich zu einem Hauptziel, das allgemeine Niveau des Menschenrechtsschutzes anzuheben. (…) Die Beseitigung des unmittelbaren Zugangs zum Gerichtshof … würde das Vertrauen in die Fähigkeit des Europarats, Menschenrechte effektiv zu schützen, tiefgreifend erschüttern.“
Um der Überlastung des EGMR zu begegnen nennt Tomuschat drei Abhilfemöglichkeiten, die auf den Schutz des individuellen Opfers gerichtet sind: (1) Nationale Institutionen mit echtem Gerichtscharakter und der Kompetenz, der EMRK widersprechende nationale Urteile aufzuheben. Die Zuständigkeiten vorhandener Verfassungsgerichte wären entsprechend zu erweitern. (2) Sämtliche nationalen Revisions-/Kassationsinstanzen wären zu verpflichten, Rügen einer Verletzung der EMRK zu prüfen. Bei Abweichungen vom EGMR-Standard müsste ein europäischer Generalanwalt den Fall vor den EGMR bringen. (3) In Routinefällen Verzicht auf ein förmliches Verfahren und Auftrag an den EGMR, unter drastischer Vereinfachung des Art. 38 Abs. 1 lit. b EMRK dem belangten Staat einen verbindlichen Prozessvergleich aufzugeben. (Seite 95)
Ingrid Siess-Scherz, Wien, legt eine vertiefte Bestandsaufnahme des EGMR nach der Erweiterung des Europarates vor
Der Beitrag erschließt das umfangreiche statistische Material für die Beurteilung der Rechtsentwicklung, bewertet die Entwicklung vor und nach dem Inkrafttreten des 11. ZP-EMRK am 1.11.1998 und setzt sich mit den vom Gerichtshof auf Kanzleiebene und in der Verfahrensordnung getroffenen Maßnahmen auseinander.
Dem Vorteil einer Beschleunigung des Verfahrens durch die neuerdings praktizierte gemeinsame Entscheidung über Zulässigkeit und Begründetheit einer Beschwerde in bestimmten Fällen hält die Autorin Systemwidrigkeit entgegen, die nicht durch die erfolgte Änderung der VerfO (Art. 54 A) ausgeräumt werden konnte, sondern eine ausdrückliche Konventionsänderung verlangt.
Zu der ebenfalls neuerdings eingeführten Praxis, Unzulässigkeitsentscheidungen durch Formbrief (s.u. S. 179) mitzuteilen, gibt die Autorin zu bedenken, „dass das Verfahren Aspekte der Gerichtsförmigkeit verloren hat. Unzulässigkeitsentscheidungen sind formelle Entscheidungen eines internationalen Gerichtshofs, ein bloßer informativer Brief ohne formelles Entscheidungsdokument kann wohl einem Bf. kaum vermitteln, dass sein Fall einer gründlichen Prüfung unterzogen worden ist.“ (Seite 100)
Karin Oellers-Frahm, Heidelberg, vergleicht Status, Ausstattung und Personalhoheit des Internationalen Gerichtshofs (IGH), des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) und des Jugoslawien-Tribunals
„Was an dem Vergleich dieser drei Gerichte von besonderer Bedeutung ist, ist die Tatsache, dass bei allen dreien der Status der Richter nahezu identisch ist, so dass man versucht ist, hier bereits eine Art „gewohnheitsrechtliche“ Entwicklung zu sehen, die für Richter internationaler Gerichte Allgemeingültigkeit erhalten könnte oder sollte. (…) Auch bei der Frage der Personalhoheit hat sich ergeben, dass in jedem dieser Gerichte Dienstherr des Personals ausschließlich das Gericht ist, auch wenn das Personal nicht unbedingt vom Gericht angestellt wird, wie das beim Jugoslawien-Tribunal der Fall ist. (…)
Der Status des Gerichts, als Organ einer Organisation oder nicht, ist grundsätzlich unerheblich, während der Status der Richter für die Gewinnung qualifizierter Richter von großer Bedeutung ist, wobei die Regeln für die IGH-Richter einen angemessenen Status sichern. (…) Betrachtet man unter diesem Aspekt die Regelungen für den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, so wird deutlich, dass hier eine Revision dringend anzumahnen ist.“ (Seite 107)
Christian Kohler, Luxemburg, untersucht die institutionelle Stellung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften
Der Gerichtshof nimmt als Organ in der Primärstruktur der Gemeinschaften grundsätzlich dieselbe Stellung ein wie die anderen Hauptorgane auch. Die mit der Organstellung verbundene Verwaltungs- und Haushaltsautonomie des Gerichtshofs wird respektiert.
«Soweit der kontinuierlich steigende Geschäftsanfall durch Verstärkung der Infrastruktur – insbesondere im Überset zungs dienst – besser bewältigt werden konnte, hat die Haushaltsbehörde [Rat und Parlament] dem bisher in der Regel Rechnung getragen. Die wirklichen Engpässe ergeben sich aus funktionsbedingten Vorgaben, insbesondere der begrenzten Zahl der Richter. Die richterliche Tätigkeit selbst ist in den Gemeinschaftsgerichten immer als höchstpersönliche Aufgabe der Mitglieder betrachtet worden. Diese beraten allein, ohne Dolmetscher oder sonstiges Personal, und dies setzt von vornherein der Bewältigung des Geschäftsanfalls geradezu physische Grenzen, die durch Verstärkung der Infrastruktur nicht verschoben werden können.“ (Seite 117)
Norbert Paul Engel, Straßburg/Kehl, vergleicht Status, Aus stattung und Personalhoheit des Inter-Amerikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte mit der Lage des EGMR
„Der Respekt vor der institutionellen Unabhängigkeit, den der Inter-Amerikanische Gerichtshof für Menschenrechte gegenüber OAS-Generalversammlung und OAS-Generalsekretär inzwischen genießt, wird dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte seit der Reform von 1998 von Ministerkomitee und Generalsekretär des Europarates verweigert.“
Zudem ist der Status der EGMR-Richter unzureichend gesichert. Die Amtszeit sollte 10 bis 12 Jahre ohne Möglichkeit der Wiederwahl betragen statt wie bisher nur sechs Jahre mit Wiederwahlmöglichkeit. Die Parlamentarische Versammlung des Europarats sollte ihre gewachsene Verantwortung durch eine spezielle Verfahrensordnung für die Richterwahl gründlicher wahrnehmen. (Seite 122)
Jeroen Schokkenbroek, Straßburg, gibt einen umfassenden Überblick über die Arbeit des Europarats zur Vorbereitung einer Reform des EGMR
Der Autor verbindet eine chronologische mit einer inhaltlichen Perspektive auf die Beratungen der verschiedenen beteiligten Gremien (Ministerkomitee, Evaluierungsgruppe, Lenkungsausschuss, Reflexionsgruppe, Expertenkomitee). Dabei geht es nicht nur um etwaige Änderungen der Konvention, sondern auch um einen bisher kaum im Vordergrund stehenden Plan, durch ein vom Ministerkomitee ohne Ratifizierung durch die nationalen Parlamente zu verabschiedendes Statut Modifizierungen vorzunehmen, wie etwa die Zahl der Richter in den Kammern, deren Amtszeit etc.
Der Lenkungsausschuss hat am 4. April 2003 seinen Abschlussbericht u. a. mit dem Vorschlag angenommen, dem Ministerkomitee die Kompetenz zu verleihen, Vertragsverletzungsverfahren vor der Großen Kammer des EGMR anzustrengen, wenn ein Staat sich beharrlich weigert, einem Urteil des Gerichtshofs Folge zu leisten. (Seite 134)
Klaus Stoltenberg, Berlin, erläutert neuere Vorschläge zur Reform des EGMR aus dem Kreis der Mitgliedstaaten
Der von der Schweiz und Deutschland unterbreitete Vorschlag strebt eine Kapazitätssteigerung durch Verlagerung bestimmter, auch stattgebender, Entscheidungen von den Kammern (7 Richter) auf die Ausschüsse (3 Richter) an. Des weiteren sollen Individualbeschwerden in Bagatellfällen („kein bedeutender Nachteil“) unzulässig sein.
Die von der Evaluierungsgruppe vorgeschlagene Änderung der Konvention, derzufolge der EGMR „Beschwerden von nicht wesentlicher Bedeutung“ nach der Konvention zurückweisen kann, lehnt Stoltenberg nachdrücklich ab und geht außerdem kurz auf die Sprachbarriere ein, die die Rezeption der Straßburger Rechtsprechung durch nationale Gerichte behindert, auf die Erhöhung der Personalmittel durch das Ministerkomitee sowie auf allgemeine Maßnahmen zur Beseitigung struktureller Defizite in den Mitgliedstaaten. (Seite 139)
Brigitte Ohms, Wien, bewertet den Diskussionsstand über die Entlastung des EGMR
Zunächst stellt die Autorin den Aktionsradius der vornehmlichen Akteure dar sowie das den verschiedenen Arbeitsgruppen (Working Party des EGMR, Evaluation Group des Ministerkomitees, Reflection Group des Lenkungsausschusses Menschenrechte) zugrundeliegende Problemverständnis und setzt sich dann mit dem Ansatzpunkt „aussichtslose“ Beschwerden auseinander, mit der internen Behandlung dieser Beschwerden durch den EGMR, mit den Wiederholungsfällen (repetitive cases) und der diskutierten Ermächtigung des EGMR, „unwichtige“ Menschenrechtsbeschwerden nicht zu behandeln.
Ohms schließt mit der Mahnung, „dem nur zu verständlichen Effektivitätswunsch des EGMR sollten die tragenden Prinzipien der EMRK nicht untergeordnet werden“. (Seite 141)
Renate Jaeger, Karlsruhe, analysiert und bewertet Erfahrungen mit Entlastungsmaßnahmen zur Sicherung der Arbeitsfähigkeit des Bundesverfassungsgerichts
Entlastung sei vor allem durch Kooperation mit anderen Instan zen (Richtervorlage nach Art. 100 GG) zu erreichen: „Eine Richtervorlage lässt sich leichter bearbeiten als eine Verfassungsbeschwerde. (…) Durch das Mittel der Verfassungsbeschwerde wird der Pflicht zur Vorlage Nachdruck verliehen.“
Für eine effiziente Gerichtsarbeit sei „von größter Wichtigkeit, dass die Richter trotz unterschiedlichen Herkommens zu einer gleichsinnigen Handhabung der Verfahrensvorschriften gelangen und die ihnen gegebenen Möglichkeiten wirklich ausschöpfen“.
DieAutorin beschreibt gerichtsinterne Meinungsbildungsprozesse im Annahmeverfahren, den Entlastungseffekt stattgebender Kammerentscheidungen (3 Richter) nicht zuletzt im Hinblick auf individuelle Gerechtigkeit bei existenzieller Betroffenheit des Bf. und Erfahrungen des BVerfG mit dem EGMR. Jaeger betont schließlich die Verantwortung bei Annahmeentscheidungen. Dies sei „keine lästige Nebenpflicht des Richteramtes“. Die Vorauswahl präge die Rechtsprechungstätigkeit der großen Gremien vor. (Seite 149)
Pedro Cruz Villalón, Madrid, erklärt die Bewältigung der Arbeitslast durch das spanische Verfassungsgericht
Zunächst erläutert der Autor die spanische Variante der Individualbeschwerde, den „recurso de amparo constitucional“, und die Gliederungen des Verfassungsgerichts, die darüber entscheiden: vier Secciones (Zulässigkeitsprüfung durch dreiköpfige Kammern), zwei Salas (Endentscheidung durch sechsköpfige Senate). Das zwölfköpfige Plenum entscheidet über amparos nur in Ausnahmefällen. Die Fälle werden von wissenschaftlichen Mitarbeitern (letrados) für den berichterstattenden Richter aufbereitet.
In der Phase der Zulässigkeit wird die Zahl der amparos von mehreren tausend auf ca. 200 pro Jahr komprimiert. „Das Schlüsselelement dieser „Komprimierungsoperation“ des amparo ist der Mangel in der Sache (falta de contenido), der schon in der Zulässigkeitsphase gewürdigt werden kann und den das Gesetz derart bezeichnet, dass „die Beschwerde offensichtlich keinen Inhalt aufweist, der eine Entscheidung über die Sache derselben durch das Verfassungsgericht rechtfertigen würde“ (Art. 50 Abs. 1 lit. c LOTC).“ (Seite 154)
Giusep Nay, Lausanne, beschreibt die Entlastungsmassnahmen des Schweizerischen Bundesgerichts
Neben gesetzlichen Vorkehrungen ab 1992 wie Ausdehnung der Dreierbesetzung, Erweiterung des Zirkulationsverfahrens, Ausdehnung des vereinfachten Verfahrens wurde die Ausstattung des 30 Mitglieder zählenden Gerichts erheblich aufgestockt. Die Zahl der nebenamtlichen Ersatzrichter wurde auf insgesamt 30 verdoppelt. Die Zahl der Gerichtsschreiber auf 86 verdreifacht, so dass auf jeden hauptamtlichen Richter knapp drei juristische Mitarbeiter in der Funktion als Gerichtsschreiber kommen.
Der Autor stellt fest: „Die Gerichtsschreiber scheinen eine schweizerische Sonderheit zu sein. Bei den Gerichten aller Stufen bilden sie einen notwendigen Bestandteil des Spruchkörpers. Sie sind nicht nur Protokoll- oder Schriftführer, sondern wirken bei der Entscheidfindung mit beratender Stimme mit und haben vor allem die Aufgabe, die Urteilsbegründung zu redigieren. (…) Die teilweise erhobene Kritik, das führe zu einer „Gerichtsschreiberjustiz“, indem nicht mehr die Richter selber die Entscheidung träfen, erachte ich aus der persönlichen Erfahrung als nicht berechtigt.“ (Seite 159)
Rudolf Müller, Wien, gibt einen Überblick über die Instrumente der Sicherung der Funktionsfähigkeit der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts in Österreich
Als Gemeinsamkeit der Annahmeverfahren vor Verfassungsgerichtshof (VfGH) und Verwaltungsgerichtshof (VwGH) ist hervorzuheben: „Es gibt keine nach der Wichtigkeit der Sache oder nach ihrem monetären Wert gestufte Zulässigkeitsgrenze. Es besteht zwar ein Ablehnungsrecht der Gerichtshöfe, nicht aber eine Ablehnungspflicht.“
In den Vordergrund seiner Empfehlungen für den EGMR stellt R. Müller die Pflicht des Beschwerdeführers, dem Gerichtshof von Anfang an ein möglichst umfassendes Bild des Beschwerdefalls zu vermitteln. Außerdem sollte der Bf. verhalten werden, präzise darzulegen, welche Konventionsverletzungen er vor den nationalen Gerichten erfolglos gerügt hat.
Für einen etwaigen Ablehnungsgrund der Unzulässigkeit von Bagatellfällen (cf. Stoltenberg, S. 139) schlägt R. Müller alternative Formulierungen vor, um eine unerwünschte Einschränkung des Individualbeschwerderechts zu vermeiden. (Seite 162)
Wolf Okresek, Wien, sucht nach Lösungen für die Probleme bei der Umsetzung von EGMR-Urteilen
Der Autor legt eine Reihe von Entlastungsmöglichkeiten für den EGMR auf der Ebene des Ministerkomitees bzw. der EMRK-Staaten dar. „Eine Überlegung scheint mir auch die Formulierung des Tenors eines Urteils des EGMR wert zu sein. Die Beschränkung auf die bloße Feststellung, dass im konkreten Fall eine Verletzung der Konvention stattgefunden hat, macht es bisweilen schwer, die Tragweite dieser Feststellung abzuschätzen. (…)
Auch die vom Ministerkomitee erwartete „direkte Anwendung“ von Urteilen des EGMR durch die innerstaatlichen Gerichte wäre damit auf eine verlässliche Grundlage gestellt. Schließlich könnten sich auch Vertragsstaaten, die nicht von einem Durchführungsverfahren nach Art. 46 betroffen sind, besser an den Urteilen des EGMR orientieren und ihre Rechtslage auch unabhängig von einem Verfahren nach Art. 46 Abs. 2 ändern.“ (Seite 168)
Christoph Grabenwarter, Graz, zieht in seinem Generalbericht u. a. das Fazit: „Die Teilnehmer sahen in den Zielen der Wahrung des Menschenrechtsschutzes im Großen („Verfassungsaufgabe“) und der Wahrung der Menschenrechte im Einzelfall keinen notwendigen Widerspruch. Sollte die zukünftige Aufgabe des EGMR aber vor diese Alternative gestellt sein, so wird dem Ziel der Gewährung des Individualrechtsschutzes im Einzelfall der Vorrang eingeräumt.“ (Seite 174)