EuGRZ 2004 |
27. Februar 2004
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31. Jg. Heft 1-4
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Informatorische Zusammenfassung
«Die Beziehungen zwischen den Verfassungsgerichten und den übrigen einzelstaatlichen Rechtsprechungsorganen – einschließlich der diesbezüglichen Interferenz des Handelns der europäischen Rechtsprechungsorgane» war das Thema der XII. Konferenz der Europäischen Verfassungsgerichte, die vom Verfassungsgerichtshof Belgiens (Cour d'arbitrage) in Brüssel (13.-17. Mai 2002) ausgerichtet wurde. Um eine rechtsvergleichende Betrachtungsweise zu erleichtern, orientieren sich die einzelnen Berichte an einem vorab übermittelten Fragebogen, dessen drei Hauptgliederungspunkte lauten:
Teil I. Der Verfassungsrichter, die übrigen Rechtsprechungsorgane und die Verfassungsmäßigkeitsprüfung – A. Die gerichtliche Organisation des Staates, B. Die jeweiligen Zuständigkeiten des Verfassungsrichters und der übrigen Rechtsprechungsorgane hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeitsprüfung;
Teil II. Beziehungen zwischen dem Verfassungsrichter und den übrigen Rechtsprechungsorganen – A. Organische Verbindung, B. Verfahrensmäßige Verbindung, C. Funktionale Verbindung;
Teil III. Interferenz der europäischen Rechtsprechungsorgane – A. Der Verfassungsrichter und die übrigen Rechtsprechungsorgane angesichts der EMRK und der Rechtsprechung des EGMR, B. Der Verfassungsrichter und die übrigen Rechtsprechungsorgane angesichts der Rechtsprechung des EuGH.
Der Generalbericht von André Alen und Michel Melchior ist in englischer und französischer Sprache veröffentlicht: Human Rights Law Journal (HRLJ) 2002, 304-330; Revue universelle des droits de l'homme (RUDH) 2002, 333-360.
Renate Jaeger und Siegfried Broß, Karlsruhe: Die Beziehungen zwischen dem Bundesverfassungsgericht und den übrigen einzelstaatlichen Rechtsprechungsorganen – einschließlich der diesbezüglichen Interferenz des Handelns der europäischen Rechtsprechungsorgane
[Jaeger, Teil I und Teil II] – Zum Filterverfahren führt die Berichterstatterin u.a. aus: «Die Entscheidung über die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist keine Ermessensentscheidung, sondern eine volle Rechtsprüfung durch die Kammer oder den Senat. Die Entscheidungen der Kammer ergehen durch einstimmigen Beschluss (§ 93 d Abs. 3 Satz 1 BVerfGG). Die Annahme durch den Senat ist beschlossen, wenn mindestens drei Richter ihr zustimmen (§ 93 d Abs. 3 Satz 2 BVerfGG). (…) Ein weiterer „Filter“ ist die stattgebende Kammerentscheidung nach § 93 c BVerfGG. (…) Der Beschluss steht einer Entscheidung des Senats gleich. Die stattgebende Kammerentscheidung entlastet den Senat bei Folgeverfahren und beschleunigt die Bearbeitung des Verfahrens. Mit ihrer Hilfe verleiht das Bundesverfassungsgericht durch die Kammerrechtsprechung den Senatsentscheidungen Nachdruck, wenn einzelne Gerichte bereits entschiedene verfassungsrechtliche Fragen nicht genügend beachtet haben.» (Seite 1)
[Broß, Teil III] – «Der entscheidende Punkt ist, was geschieht, wenn aus nationaler verfassungsrechtlicher Sicht der EuGH seine Zuständigkeit überschreitet. Hierfür ist in den Gemeinschaftsverträgen keine Vorsorge getroffen. Es fehlt an einer Kollisionsnorm. Vor diesem Hintergrund ist es Aufgabe des BVerfG, darauf zu achten, ob sich die Gemeinschaftsorgane einschließlich des EuGH innerhalb der übertragenen Zuständigkeiten bewegen. Insofern ist die Rechtsprechung des EuGH sehr wohl von Einfluss auf die Vorgehensweise des Verfassungsrichters. Er begegnet dem EuGH mit wohl wollender Aufmerksamkeit.» (Seite 13)
Gabriele Kucsko-Stadlmayer, Wien: Die Beziehungen zwischen dem Verfassungsgerichtshof und den anderen Gerichten, einschließlich der europäischen Rechtsprechungsorgane
«Hervorzuheben ist (…), dass sich die Zuständigkeit des Verfassungsgerichtshofs – anders als etwa in Deutschland – nicht auf die Überprüfung gerichtlicher Urteile erstreckt. (…) So können etwa auch die Urteile des Obersten Gerichtshofs [ordentliche Gerichtsbarkeit] und die Erkenntnisse des Verwaltungsgerichtshofs nicht vom Verfassungsgerichtshof überprüft werden. Die Gerichte sind aber befugt, generelle Normen vor dem Verfassungsgerichtshof anzufechten.Erscheint ihnen also etwa ein Gesetz verfassungsrechtlich bedenklich, so sind sie nicht dazu gezwungen, es anzuwenden und können es vor dem Verfassungsgerichtshof überprüfen lassen.
Im System der österreichischen Gerichtsbarkeit sind somit drei Höchstgerichte zu unterscheiden. Da ihnen grundsätzlich keine Zuständigkeit zur gegenseitigen Kontrolle eingeräumt ist, kann ihr Verhältnis zueinander als ein solches der Parität bezeichnet werden. (…) Während vor dem Verfassungsgerichtshof im wesentlichen nur die Verletzung von verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten (oder die Rechtswidrigkeit einer generellen Norm) behauptet werden kann, kann sich der Beschwerdeführer vor dem Verwaltungsgerichtshof ausschließlich auf die Verletzung seiner einfachgesetzlich eingeräumten subjektiven Rechte berufen.» (Seite 16)
Landesbericht Schweiz, erstellt unter Mitwirkung von Vera Marantelli, Lausanne: Beziehungen zwischen dem Schweizerischen Bundesgericht und den übrigen einzelstaatlichen Rechtsprechungsorganen, einschliesslich der diesbezüglichen Interferenz des Handelns der europäischen Rechtsprechungsorgane
«Da das Bundesgericht seit langem anerkennt, dass völkerrechtliche Verträge im Konfliktfall dem schweizerischen Recht aller Stufen vorgehen, überprüft es seit 1991 Bundesgesetze auch auf ihre Übereinstimmung mit der Europäischen Menschenrechtskonvention hin und versagt ihnen im Verletzungsfall die Anwendung. Dies betrifft jedoch bei weitem nicht alle für die schweizerische Rechtsordnung zentralen verfassungsmässigen Rechte. Die Verfassungsgerichtsbarkeit bleibt daher gegenüber dem Bundesrecht weitgehend ausgeschlossen. Selbst im Bereich des von Art. 191 BV nicht erfassten Bundesrechts, das auf die Verfassungsmässigkeit hin überprüft werden kann, etwa die bundesrätlichen Verordnungen, beschränkt sich die Kontrolle darauf, die betreffenden Rechtssätze des Bundes anlässlich eines konkreten Anwendungsaktes vorfrageweise zu beurteilen und ihnen nach festgestellter Verfassungswidrigkeit im konkreten Fall die Anwendung zu versagen. (…)
Da die Schweiz nicht Mitglied der Europäischen Union ist, können die Urteile des Bundesgerichts nicht durch den EuGH überprüft werden. Es ist aber darauf hinzuweisen, dass dessen Urteile sowohl bei der Auslegung von freiwillig in das schweizerische Recht übernommenem, sog. autonom nachvollzogenem europäischen Recht, als auch bei der Auslegung von völkerrechtlichen Übereinkommen berücksichtigt werden bzw. berücksichtigt werden müssen.» (Seite 30)
Andreas Kley, Bern: Die Beziehungen zwischen dem Liechtensteinischen Staatsgerichtshof und den übrigen einzelstaatlichen Rechtsprechungsorganen, einschliesslich der diesbezüglichen Interferenz des Handelns der europäischen Rechtsprechungsorgane
« … wird deutlich, dass die Verfassungsbeschwerde gemäss Art. 23 StGHG nicht nur die Aufgabe hat, subjektiv Grundrechtsschutz zu gewähren, sondern auch zusätzlich die Funktion übernimmt, die objektive Verfassungsordnung durchzusetzen. Das wird noch deutlicher, wenn man sich vor Augen führt, dass der Staatsgerichtshof eine Verfassungsbeschwerde auch auf andere als vom Beschwerdeführer geltend gemachte Gründe prüft. Die behauptete Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes kann sich aus einer anderen als der beanstandeten Norm ergeben; der Staatsgerichtshof kann dann – er muss es aber nicht – seine Prüfung ausdehnen und sie von Amts wegen vornehmen. (…)
Nach Art. 112 LV entscheidet der Staatsgerichtshof Auslegungsstreitigkeiten zwischen Regierung (Fürst) und Landtag, die nicht durch Übereinkunft zwischen Regierung (Fürst) und Landtag beseitigt werden können. Die Lehre hatte bislang einhellig diese Interpretation von Art. 112 LV vertreten, die auch Herbert Wille in einem Vortrag von 1995 wiederholte. Es war exakt diese Auslegung von Art. 112 LV, die den Fürsten veranlasste, den Vortragenden mit einem allgemeinen Berufsverbot zu belegen. Denn diese Auslegung sei verfassungswidrig und der Vortragende sei damit für ein richterliches Amt ungeeignet.» (Seite 43)
Der EGMR stellt im Urteil Wille gegen Liechtenstein eine Verletzung von Art. 10 EMRK fest, da der Beschwerdeführer wegen einer Meinungsäusserung durch den Fürsten gemassregelt worden ist; franz. Fassung, RUDH 1999, 182; dt. Übersetzung in EuGRZ 2001, 475.
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Straßburg, wertet entschädigungslosen Zugriff durch den bundesdeutschen Gesetzgeber auf Bodenreform-Land als Verletzung der Eigentumsrechte / Jahn u.a. gegen Deutschland
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 waren in der sowjetischen Besatzungszone Grundstücke von mehr als 100 Hektar im Rahmen einer Bodenreform enteignet und in Parzellen von durchschnittlich 8 Hektar landlosen oder landarmen Bauern zur Bewirtschaftung zugeteilt worden. Die letzte von der SED beherrschte Volkskammer der DDR verabschiedete ein am 16. März 1990 in Kraft getretenes Gesetz, das sämtliche Verfügungsbeschränkungen für diese Grundstücke aufhob und deren Besitzer zu vollwertigen Eigentümern machte. Der bundesdeutsche Gesetzgeber machte dies nach der Wiedervereinigung rückgängig.
Der EGMR gelangt zu dem Schluss, «dass selbst wenn die Umstände der deutschen Wiedervereinigung als außergewöhnlich anzusehen sind, das Fehlen einer jeglichen Entschädigung für den Zugriff des Staates auf das Eigentum der Beschwerdeführer zu deren Nachteil den zwischen dem Schutz des Eigentums und den Erfordernissen des Allgemeininteresses herbeizuführenden gerechten Ausgleich stört.» (Seite 57)
Die Bundesregierung hat angekündigt, den Fall gem. Art. 43 EMRK vor die Große Kammer bringen zu wollen.
Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, Luxemburg, verpflichtet nationale Verwaltungsbehörde, aus Gründen der Gemeinschaftstreue (Art. 10 EG) einen bestandskräftigen Bescheid u.U. zurückzunehmen / Rs. Kühne &; Heitz
Der Gerichtshof nennt vier Bedingungen, unter denen eine innerstaatliche Verwaltungsbehörde [hier: niederländische Productschap] verpflichtet sein kann, eine bestandskräftige Verwaltungsentscheidung zu überprüfen, wenn diese – wie aus einer inzwischen anderweit ergangenen Vorabentscheidung des EuGH hervorgeht – auf einer unrichtigen Auslegung des Gemeinschaftsrechts beruht.
Allerdings gilt dies nur in besonderen Fällen, da andererseits «die Rechtssicherheit zu den im Gemeinschaftsrecht anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätzen» gehört. (Seite 67)
Schweizerisches Bundesgericht (BGer), Lausanne, nimmt zur Abgrenzung hoheitlicher Befugnisse bzw. staatsspezifischer Aufgaben auf Kriterien Bezug, die von der EG-Kommission entwickelt, vom EuGH bestätigt und vom EGMR rezipiert wurden
«Aus diesen Quellen ergibt sich eindeutig, dass ein Mittelschullehrer keine spezifischen Staatsaufgaben wahrnimmt und keine hoheitlichen Befugnisse im Sinne des einschlägigen europäischen Rechts ausübt. (…) So unterscheidet sich denn auch die Stellung des Lehrers an einer öffentlichen Schule nicht wesentlich von jener an einer Privatschule. (…)
Nach dem Gesagten können sich Mittelschullehrer in Rechtsstreitigkeiten über Ansprüche aus ihrem Dienstverhältnis, die vermögensrechtlicher Natur sind und nicht bloss dienstrechtliche oder organisatorische Fragen betreffen, auf Art. 6 Ziff. 1 EMRK berufen.» (Seite 70)
Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, sieht in der Sicherungsverwahrung keine Verletzung der Menschenwürde
«Die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung ohne gesetzlich geregelte zeitliche Obergrenze verstößt nicht gegen die in Art. 1 Abs. 1 GG verankerte Garantie der Menschenwürde.
(…) Die Menschenwürde wird auch durch eine langdauernde Unterbringung nicht verletzt, wenn diese wegen fortdauernder Gefährlichkeit des Untergebrachten notwendig ist. Es ist der staatlichen Gemeinschaft nicht verwehrt, sich gegen gefährliche Straftäter durch Freiheitsentzug zu sichern. Die vom Grundgesetz vorgegebene Gemeinschaftsbezogenheit des Individuums rechtfertigen es, unabdingbare Maßnahmen zu ergreifen, um wesentliche Gemeinschaftsgüter vor Schaden zu bewahren. (…)
Für das Institut der Sicherungsverwahrung folgt aus Art. 1 Abs. 1 GG kein verfassungsrechtliches Gebot, schon bei der Anordnung der Sicherungsverwahrung oder in einem späteren Überprüfungszeitpunkt eine Höchstfrist des Vollzugs festzusetzen. Denn die Prognose einer Gefahr ist immer nur in der Gegenwart für die Zukunft möglich. (…)
Dieses System wiederkehrender Überprüfungen von Aussetzungs- und Erledigungsreife gewährleistet dem Betroffenen die angemessene prozedurale Rechtssicherheit.» (Seite 73)
BVerfG erklärt landesrechtliche Straftäterunterbringungsgesetze (nachträgliche Sicherungsverwahrung) für mit dem GG unvereinbar und gewährt Übergangsfrist bis September 2004
«Der Bund hat von seiner Gesetzgebungszuständigkeit zulässigerweise abschließend Gebrauch gemacht. Deshalb steht den Ländern [hier: Bayern und Sachsen-Anhalt] ein Recht zur Gesetzgebung gemäß Art. 72 Abs. 1 GG nicht zu. (…)
Das Grundgesetz definiert den Begriff des Strafrechts nicht. Das Bundesverfassungsgericht hat die im Strafgesetzbuch geregelten Maßregeln der Sicherung und Besserung bislang ohne weiteres zum Strafrecht gerechnet.» (Seite 89)
In ihrer abweichenden Meinung wenden sich Richter Broß, Richterin Osterloh und Richter Gerhardt grundsätzlich gegen die Übergangsfrist. (Seite 105)
BVerfG billigt Auslieferung nach Peru zur Strafverfolgung von schwerwiegenden Korruptionsdelikten
Die 1. Kammer des Zweiten Senats sieht in den Sondergerichten, die in Peru eingerichtet worden sind, um die Regierungskriminalität unter dem später nach Japan geflohenen Präsidenten Fujimori zu untersuchen, kein Auslieferungshindernis. (Seite 108)
BVerfG erkennt keine Benachteiligung des Religionsunterrichts gegenüber dem Fach Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde (LER) an öffentlichen Schulen in Brandenburg
Die 2. Kammer des Ersten Senats nimmt die Verfassungsbeschwerde mangels hinreichender Begründung nicht zur Entscheidung an. (Seite 112)
Kritik am Generalsekretär des Europarats Walter Schwimmer wegen Eingriffs in die Unabhängigkeit des EGMR erreicht Parlamentarische Versammlung
Die Abgeordnete Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP, vorm. Bundesministerin der Justiz) wollte in der Fragestunde der Parlamentarischen Versammlung des Europarats am 27. Januar 2004 von Generalsekretär Dr. Walter Schwimmer Auskunft, warum er sich seit über einem Jahr weigere, den vom Gerichtshof für die vakante Stelle eines Sektionskanzlers ausgewählten Beamten zu ernennen. Die Anwort war ausweichend. (Seite 113)
Bundespräsident Rau würdigt das „Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa”. Herausgeber des auf zehn Bände angelegten, im C.F. Müller Verlag erscheinenden, Werkes sind Detlef Merten und Hans-Jürgen Papier. (Seite 114)
BVerfG – Übersicht über die im Jahr 2004 zur Entscheidung vorgesehenen Verfahren. (Seite 114)