EuGRZ 2004 |
26. April 2004
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31. Jg. Heft 5-8
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Informatorische Zusammenfassung
Peter Häberle, Bayreuth / St. Gallen, würdigt die Perspektiven der „Verfassungsgerichtsbarkeit auf der heutigen Entwicklungsstufe des Verfassungsstaates”
Die Verfassungsrechtslehre erschöpfe sich «nicht in der Kommentierung der großen Leistungen der Verfassungsgerichtsbarkeit, sondern muss eigenständige, ja „eigensinnige“ Theorievorschläge unterbreiten, neue Paradigmen „erfinden”, die dann ein Verfassungsrichter später i.S. pragmatischer Integration vieler Theorieelemente „gerechtigkeitsorientiert“ verarbeiten kann. Verfassungsrechtswissenschaft darf nicht zum bloßen „(Post-)Glossator“ der Verfassungsgerichtsbarkeit degenerieren, eine vor allem in Deutschland erkennbare Gefahr. Dieses Credo ist Erkenntnis und Bekenntnis in einem, was sich in Grundsatzfragen nicht vermeiden lässt. Die Wissenschaft legitimiert sich nicht aus der Demokratie, sie geht nicht vom Volke aus, sie steht grundsätzlich abgesichert auf eine Weise autonom „für sich”, so sehr sie Verantwortung für das demokratische Gemeinwesen hat. (…)
Letztlich können nur Verfassungsrichter selbst ihre „Innenansichten“ formulieren und zum Ausdruck bringen. Das wird erkennbar etwa bei der Frage, wie weit sich die Richter in den politischen Prozess vorwagen, wie maßvoll sie die Möglichkeit zum Sondervotum in Anspruch nehmen, wie üppig sie mit obiter dicta arbeiten oder wie intensiv sie eine einzige Theorie als die „richtige“ in das Urteil schreiben statt Theorieelemente harmonisch zu integrieren. Auch der Urteilsstil, verbindlich oder apodiktisch, „rechthaberisch“ oder bescheiden, kann das Selbstverständnis der Verfassungsrichter zum Ausdruck bringen. (…)
Doch sei auch daran erinnert, dass jedes nationale Verfassungsgericht in der Anwendung von EU-Verfassungsrecht und/oder EMRK-Recht ein europäisches Gemeinschaftsgericht bzw. europäisches Verfassungsgericht wird. (…) Europäische Verfassungsöffentlichkeit hat einen vornehmen Garanten in allen unseren Verfassungsgerichten! (…) Die wissenschaftliche Öffentlichkeit hat eine besondere Verantwortung, das Verfassungsgericht kritisch zu begleiten.»
Der Aufsatz beruht auf einem Festvortrag, den der Autor im italienischen Verfassungsgericht gehalten hat, und gliedert sich in drei Teile: Rechtsvergleichung, Theorierahmen und aktuelle Einzelfragen. (Seite 117)
Thomas Mann und Stefan Ripke, Göttingen, entwickeln „Überlegungen zur Existenz und Reichweite eines Gemeinschaftsgrundrechts der Versammlungsfreiheit”
Nach einerAnalyse des Schmidberger-Urteils (Brenner-Blockade, EuGRZ 2003, 492) halten die Autoren fest: «Der EuGH begibt sich vorliegend der Möglichkeit, die Versammlungsfreiheit in den Kreis der ausdrücklich anerkannten Gemeinschaftsgrundrechte aufzunehmen – gleichwie er dabei die Gelegenheit ungenutzt verstreichen lässt, diesem Grundrecht genauere Konturen zu geben.»
Die so erkannte Lücke versucht der Beitrag zu schließen: «Wenn man allerdings berücksichtigt, dass die Judikatur des EuGH der EMRK als Erkenntnisquelle eine zentrale Stellung zuweist und sich diese in Art. 6 II EUV bestätigt sieht, ist das Gemeinschaftsgrundrecht der Versammlungsfreiheit in wertender Gesamtschau als klassisch-liberales Freiheitsrecht zu charakterisieren. (…)
Versammlungen sollen Mittel der geistigen Auseinandersetzung sein, ihre besondere Wirkkraft im Meinungskampf verdanken sie aber notwendigerweise dem starken Aufmerksamkeitspotential, das gerade mittels der gesteigerten physischen Präsens und Aktivität durch die Vielzahl der versammelten Menschen hervorgerufen wird. Es ist in diesem Sinne auch dem Gemeinschaftsgrundrecht der Versammlungsfreiheit die extensive Auslegung des Friedlichkeitsmerkmals zu Grunde zu legen, wie sie bisher auch schon für EMRK und IPbpR praktiziert wurde. [Versammlungsfreiheit] ist nicht den Unionsbürgern vorbehalten, sondern ein Menschenrecht.» (Seite 125)
Hans-Joachim Cremer, Mannheim, kommentiert das Jahn-Urteil (EuGRZ 2004, 57) des EGMR: „Eigentumsschutz der Erben von Bodenreformland in der ehemaligen DDR”
«Dass nach Ansicht der Straßburger Richter der Anerkennung einer unter Art. 1 des 1. ZP-EMRK fallenden Eigentumsposition der Beschwerdeführer materielle Erwägungen – wie etwa, dass es sich um einen reinen Zufallsgewinn gehandelt habe – nicht entgegengehalten werden können, zeigt sich auch an einem weiteren Punkt: Der Gerichtshof schließt es apodiktisch aus, die Rechtmäßigkeit des Eigentumserwerbs deshalb in Zweifel zu ziehen, weil die deutsche Bundesregierung dieses Eigentum nachträglich mit der Begründung als unrechtmäßig angesehen habe, dass die DDR (…) ihre eigenen Rechtsregeln für Bodenreformgrundstücke nicht angewandt habe (da nämlich die Beschwerdeführer das Land nicht selbst land- oder forstwirtschaftlich bearbeitet hatten, wären ihre Grundstücke unter dem Recht der Bodenreform vor dem Modrow-Gesetz in den Bodenfonds zurückzuführen gewesen).»
Cremer erwähnt, dass die Bundesregierung gem. Art. 43 die Verweisung an die Große Kammer beantragt hat: «Sollte das Urteil der Dritten Sektion bestätigt werden, so wäre auch damit noch nicht klar, ob die Beschwerdeführer mehr erreichen könnten als die Feststellung einer Verletzung von Art. 1 des 1. ZP-EMRK. Denn der EGMR hat die Frage einer Entschädigung nach Art. 41 EMRK noch nicht für spruchreif erachtet.
[Möglicherweise] müsste – wie dies der EGMR andeutet – die gesamte eigentumsrechtliche Entwicklung von 1945 bis 1990 aufgerollt werden, angefangen bei den ursprünglichen Eigentümern, die nach dem Zweiten Weltkrieg im Zuge der Bodenreform enteignet wurden. Vor einem solchen Hintergrund könnte der Grad, in dem das Vertrauen der Beschwerdeführer in den Bestand ihres Eigentums schutzwürdig erscheint, für das „Wie“ (genauer: für das „Wie hoch?”) der Entschädigung entscheidend werden.» (Seite 134)
UN-Ausschuss für Menschenrechte (UN-AMR), Genf/New York, bestätigt die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Chefs der Grenztruppen der ehemaligen DDR für die Tötung unbewaffneter Flüchtlinge / Baumgarten gegen Deutschland
Der UN-AMR macht sich die Argumentation der Bundesregierung bzw. der deutschen Gerichte zu eigen, «dass die Tötungen eine Verletzung der völkerrechtlichen Pflichten der DDR auf dem Gebiet der Menschenrechte, insbesondere nach Artikel 6 des Pakts, beinhalteten» und pflichtet der Feststellung der bundesdeutschen Gerichte bei, «dass die Tötungen gemäß den Bestimmungen des Strafgesetzbuchs der DDR zur vorsätzlichen Tötung strafbar waren». (Seite 143)
Cf. die Parallelentscheidung des EGMR im Fall Krenz u.a., EuGRZ 2001, 210 ff. und die Fundstellen-Nachweise zur DDR-Regierungskriminalität in EuGRZ 1994, 471.
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Straßburg, beanstandet überlange Verfahrensdauer beim BVerfG / Voggenreiter gegen Deutschland
Auch wenn der Gerichtshof «die besondere Rolle des BVerfG in der deutschen Rechts- und Verfassungsordnung nicht verkennt, so erachtet er dennoch, dass die Dauer von nahezu sieben Jahren bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde der Bf. übermäßig ist.» (Seite 150)
Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH), Luxemburg sieht Verbindung zwischen Unionsbürgerschaft und Namensrecht / Rs. Carlos Garcia Avello
Art. 12 (Diskriminierungsverbot) und 17 EGV (Unionsbürgerschaft) sind verletzt, wenn die belgischen Personenstandsbehörden sich weigern, einem Kind mit doppelter Staatsangehörigkeit (Mutter ist Belgierin, Vater Spanier) den Kindern aus dieser Ehe, dem Wunsch der Eltern entsprechend, einen mehrteiligen Familiennamen nach spanischer Tradition beizuschreiben. Dem ersten Familiennamen des Vaters (dessen Vaters Name) wird der erste Familienname der Mutter hinzugefügt.
Der EuGH argumentiert, das Namensrecht falle zwar in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten, doch hätten diese gleichwohl das Gemeinschaftsrecht zu beachten, wenn Unionsbürger «sich rechtmäßig im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats aufhalten.» (Seite 156)
Schweizerisches Bundesgericht (BGer), Lausanne, bekräftigt Grundsätze der Eigenverantwortung und Subsidiarität beim Recht auf Hilfe in Notlagen
«Lehnt eine Person zumutbare Arbeit ab (hier: Taglohnprogramm in Schaffhausen), so weigert sie sich, für sich zu sorgen und ihre Notlage abzuwenden. Sie hat damit weder Anspruch auf Sozialhilfe noch auf finanzielle Nothilfe gemäss Art. 12 BV.» (Seite 160)
Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, rechtfertigt Verfassungsänderung zur akustischen Wohnraumüberwachung (Art. 13 Abs. 3, Lauschangriff) als mit der Menschenwürde vereinbar, erklärt allerdings daraus sich ergebende Durchführungsvorschriften in der StPO für verfassungswidrig / Frist 30.6.2005
In den Leitsätzen heißt es: «Zur Unantastbarkeit der Menschenwürde gemäß Art. 1 Abs. 1 GG gehört die Anerkennung eines absolut geschützten Kernbereichs privater Lebensgestaltung. In diesen Bereich darf die akustische Überwachung von Wohnraum zu Zwecken der Strafverfolgung (Art. 13 Abs. 3 GG) nicht eingreifen. Eine Abwägung nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zwischen der Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) und dem Strafverfolgungsinteresse findet insoweit nicht statt.
Nicht jede akustische Überwachung von Wohnraum verletzt den Menschenwürdegehalt des Art. 13 Abs. 1 GG.
Die auf die Überwachung von Wohnraum gerichtete gesetzliche Ermächtigung muss Sicherungen der Unantastbarkeit der Menschenwürde enthalten sowie den tatbestandlichen Anforderungen des Art. 13 Abs. 3 GG und den übrigen Vorgaben der Verfassung entsprechen.
Führt die auf eine solche Ermächtigung gestützte akustische Wohnraumüberwachung gleichwohl zur Erhebung von Informationen aus dem absolut geschützten Kernbereich privater Lebensgestaltung, muss sie abgebrochen werden und Aufzeichnungen müssen gelöscht werden; jede Verwertung solcher Informationen ist ausgeschlossen.
Die Vorschriften der Strafprozessordnung zur Durchführung der akustischen Überwachung von Wohnraum zu Zwecken der Strafverfolgung genügen den verfassungsrechtlichen Anforderungen im Hinblick auf den Schutz der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG), den vom Rechtsstaatsprinzip umfassten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, die Gewährung effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) und den Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) nicht in vollem Umfang.» (Seite 163)
Die Richterinnen Jaeger und Hohmann-Dennhardt kommen in ihrer abw. Meinung zu dem Ergebnis, es handele sich um eine verfassungswidrige Verfassungsänderung
«Nach unserer Auffassung ist schon Art. 13 Abs. 3 GG mit Art 79 Abs. 3 GG nicht vereinbar und daher nichtig. (…)
Art. 79 Abs. 3 GG verbietet Verfassungsänderungen, durch welche die in den Art. 1 und 20 GG niedergelegten Grundsätze berührt werden. Zu diesen Grundsätzen gehört auch der Schutz der privaten Wohnung als Lebensraum zur höchstpersönlichen Lebensgestaltung, der zur Aufrechterhaltung einer dem Gebot der Achtung und des Schutzes der Menschenwürde entsprechenden Ordnung unverzichtbar ist.» (Seite 193)
BVerfG erklärt Überwachung von Postverkehr und Telekommunikation durch Zollkriminalamt sowie Verarbeitung und Weitergabe personenbezogener Daten für verfassungswidrig
«Erreicht der Gesetzgeber die Festlegung des Norminhalts aber – wie hier – nur mit Hilfe zum Teil langer, über mehrere Ebenen gestaffelter, unterschiedlich variabler Verweisungsketten, die bei gleichzeitiger Verzweigung in die Breite den Charakter von Kaskaden annehmen, leidet die praktische Erkennbarkeit der maßgebenden Rechtsgrundlage.» (Seite 196)
BVerfG setzt Frist bis 31.3.2005 zur Beseitigung einer Frauendiskriminierung im Namensrecht
Das Verbot, einen durch eine frühere Eheschließung erworbenen und geführten Namen in einer neuen Ehe zum Ehenamen zu bestimmen, ist verfassungswidrig. Das BVerfG ordnet eine Übergangsregelung an. (Seite 209)
BVerfG sieht Kindeswohl durch verantwortungslose Namenswahl der Eltern beeinträchtigt / hier: 12 Vornamen
Die 3. Kammer des Ersten Senats betont: «Das Recht, ihren Kindern einen Namen zu geben, ist Eltern grundrechtlich nicht im Interesse eigener Persönlichkeitsentfaltung, sondern allein im Rahmen ihrer Sorgeverantwortung nach Art. 6 Abs. 2 GG im Interesse ihrer Kinder eingeräumt.» (Seite 214)
BVerfG billigt Einfuhr- und Verbringungsverbot für Kampfhunde, erklärt jedoch Züchtungsverbot mangels Gesetzgebungskompetenz des Bundes für verfassungswidrig
«Der Gesetzgeber hat allerdings die weitere Entwicklung zu beobachten und zu prüfen, ob die der Norm zugrunde liegenden Annahmen sich tatsächlich bestätigen.» (Seite 216)
BVerfG bestätigt Gefahrenabwehrverordnung – Gefährliche Hunde – des Landes Rheinland-Pfalz
Die 2. Kammer des Ersten Senats stellt fest, die Regelung diene dem Zweck, «den Schutz der Bevölkerung und den Schutz anderer Tiere vor gefährlichen Hunden zu verbessern».
(Seite 226)
Europäisches Parlament (EP), Straßburg, zur Kontrolle der teilweise schleppenden oder unterbleibenden Anwendung des Gemeinschaftsrechts durch die Mitgliedstaaten
Das EP bedauert, dass bestimmte Mitgliedstaaten «auf diese Weise das Ideal der Union als Rechtsgemeinschaft aushöhlen». Es «stellt besorgt fest, dass eine unzureichende Kenntnis des Gemeinschaftsrechts seitens der Mitglieder der nationalen Gerichte und der Anwälte eine uneingeschränkte Anwendung des Gemeinschaftsrechts ernsthaft beeinträchtigt». (Seite 228)
EuGH-Generalanwältin Christine Stix-Hackl, Luxemburg, nimmt grundlegend zur Menschenwürde im Europäischen Gemeinschaftsrecht Stellung / Rs. OMEGA
Das durch die Oberbürgermeisterin der Stadt Bonn als Ordnungsbehörde an ein „Laserdrome“ ausgesprochene Verbot gewerblichen „gespielten Tötens“ stellt nach Ansicht der Generalanwältin keine Verletzung der Dienstleistungsfreiheit dar.
GA Stix-Hackl knüpft u.a. an das Urteil des EuGH in der Rs. Niederlande gegen Rat und Parlament (EuGRZ 2001, 486) an:
«Der Gerichtshof scheint damit der Menschenwürde ein vergleichbar weitgehendes Verständnis zugrunde zu legen, wie es [jetzt] in Artikel 1 der Charta der Grundrechte der EU zum Ausdruck kommt. Dieser Artikel lautet wie folgt: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie ist zu achten und zu schützen.”»
Die Generalanwältin führt dann aus: «Bedeutsam erscheint in diesem Zusammenhang, dass der Schutz der Menschenwürde als allgemeiner Rechtsgrundsatz – und damit als Teil des Primärrechts – anerkannt ist. Der Gerichtshof darf also, wie daraus zu folgern wäre, möglichst keine Auslegung der Grundfreiheiten zulassen, die einen Mitgliedstaat zwingen, Handlungen bzw. Aktivitäten zu gestatten, die gegen die Menschenwürde verstoßen, bzw. es muss mit anderen Worten möglich sein, Erwägungen in die Ausnahme der öffentlichen Ordnung einfließen zu lassen, die ein Rechtsgut betreffen, dessen Schutz und Achtung das Gemeinschaftsrecht selbst gebietet.» (Seite 229)