EuGRZ 2007 |
5. März 2007
|
34. Jg. Heft 1-5
|
Informatorische Zusammenfassung
Christian Tomuschat, Berlin, untersucht das Spannungsfeld der Europäischen Union und ihrer völkerrechtlichen Bindungen
«Die neue Praxis des Sicherheitsrates, vor allem bei der Bekämpfung der Infrastruktur des Terrorismus Personen namentlich zu benennen, die als Täter oder Unterstützer solcher Aktivitäten vermutet werden – aus diesem Umfeld stammen die Urteile Yusuf, Kadi und Ayadi – bricht in eine rechtliche Umwelt ein, die nicht darauf eingerichtet war, mit Einzelmenschen als Rechtssubjekten umzugehen. (…)
Wer also zum Zielpunkt einer verbindlichen Entscheidung des Sicherheitsrates nach Kapitel VII der Charta wird, befindet sich in einer höchst prekären Lage, die kaum mit derjenigen eines Unionsbürgers verglichen werden kann, der die rechtlichen Konsequenzen einer Entscheidung, einer Verordnung oder einer Richtlinie zu tragen hat. (…)
Auf der einen Seite stehen die – noch näher zu definierenden – Bindungswirkungen dieser Entscheidungen, auf der anderen Seite ist die EU der Rechtsstaatlichkeit verpflichtet. (…)
Zu Recht hat sich das Gericht erster Instanz auf den Standpunkt gestellt, dass ihm eine unbeschränkte Zuständigkeit zur Überprüfung der Rechtmäßigkeit einer Gemeinschaftsverordnung, die Wort für Wort den Text einer Resolution des Sicherheitsrates reproduziert, deshalb nicht zusteht, weil eine solche Überprüfung im Ergebnis auf die Überprüfung jener Resolution hinauslaufen würde.» Zuzustimmen sei auch dem weiteren Standpunkt des Gerichts, «dass in Fällen individualbezogener Sanktionen die Regeln des jus cogens die Grenze der Gehorsamspflicht der Staaten – und auch der EU/EG – gegenüber den Beschlüssen des Sicherheitsrates bildeten.»
Tomuschat setzt sich grundlegend mit den Unzulänglichkeiten eines globalen gerichtlichen Rechtsschutzes gegen die betreffenden Sicherheitsratsresolutionen auseinander, wehrt sich gegen Resignation und verweist auf die Vorzüge des „klassischen“ diplomatischen Schutzes: «Im Urteil Ayadi hat das Gericht erster Instanz seine Rechtsprechung aus Yusuf und Kadi in dem Sinne ergänzt, dass der einzelne einen Rechtsanspruch darauf haben müsse, dass ihm diplomatischer Schutz durch seinen Heimatstaat gewährt wird. (…) Hier wird durch den Anspruch aus dem Gemeinschaftsrecht, der vor den nationalen Gerichten durchzusetzen ist, zu einem weiten Teil die Rechtschutzlücke geschlossen, die sich aus dem Fehlen eines Rechtsmittels unmittelbar gegen die Entscheidung über die Aufnahme in die Liste ergibt.» (Seite 1)
Angelika Nußberger und Carmen Schmidt, Köln, beschäftigen sich unter dem Stichwort „Zensur der Zivilgesellschaft in Russland“ mit der umstrittenen Neuregelung zu den Nichtregierungsorganisationen
Der Beitrag gliedert sich in Entstehung der neuen gesetzlichen Regelung, deren Inhalt und die Vereinbarkeit mit Grund- und Menschenrechten.
«Jeder Bürger, der sich in Russland zu ideellen Zielen mit anderen Bürgern zusammenschließen möchte, bewegt sich grundsätzlich am Rande einer Klippe, von der er, ist er nicht ständig auf der Hut, abstürzenkann, da andauernd die Gefahr besteht, dass die Gründung eines rechtsfähigen Zusammenschlusses unterbunden, die Aktivitäten suspendiert oder verboten werden können. (…)
Die Registrierungsbehörde kann Aktivitäten untersagen und ist hierbei nach den gesetzlichen Bestimmungen an keinerlei gesetzliche Voraussetzungen gebunden; lediglich zur schriftlichen Begründung der Untersagungsverfügung ist die Behörde verpflichtet. (…)
In Anbetracht der weiten gesetzlich vorgesehenen Untersagungsgründe – Schutz der Verfassungsordnung, der Sittlichkeit, der Gesundheit, der Rechte und Interessen anderer Personen sowie Sicherung der Landesverteidigung und der Staatssicherheit – dürfte es aber dem zuständigen Beamten nicht schwer fallen, einen Grund zu finden, um eine Untersagungsverfügung zu rechtfertigen. Dies betrifft etwa auch die – bisher von NGOs geleistete – finanzielle Unterstützung von Beschwerdeführern, die sich wegen einer Menschenrechtsverletzung durch die Russische Föderation an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wenden.»
Die Autorinnen kommen u.a. zu dem Schluss: «Die neue Gesetzgebung zu den NGOs ist ein – wesentliches – Element in dem neuen Bauplan von Staat und Gesellschaft in Russland. Die experimentell-demokratische Phase der 90er Jahre ist abgeschlossen, die vielstimmigen Auseinandersetzungen um den richtigen Weg sind beendet und alle gesellschaftlichen und politischen Kräfte werden nunmehr gebündelt, um einen „starken Staat“ aufzubauen. Kritik aus dem Ausland, insbesondere aber ausländische Kritik im Inland, ist unerwünscht.» (Seite 12)
S.a. das EGMR-Urteil im Fall der verweigerten Neu-Registrierung der Moskauer Unterorganisation der Heilsarmee, EuGRZ 2007, 24 (in diesem Heft).
Hans-Georg Franzke, Münster, betrachtet die fragwürdigen Versuche des französischen Gesetzgebers, bestimmte Geschichtsbilder vorzuschreiben: Gesetzgeber als Geschichtslehrer?
„Die schulischen Lehrpläne erkennen im Besonderen die positive Rolle der französischen Präsenz in Übersee, insbesondere in Nordafrika, an und messen der Geschichte und den Opfern der aus diesen Gebieten stammenden Soldaten der französischen Armee den herausragenden Rang zu, auf den sie Anspruch haben.“ Dieser Passus (Art. 4 Abs. 2) in dem als nationale Anerkennung für die heimgekehrten Franzosen gedachte Heimkehrgesetz von 2005 ist der Ausgangspunkt einer heftigen innerfranzösischen Debatte um die „Freiheit der Geschichte“ und ausländischer antikolonialer Proteste.
Zur Beschwichtigung holte Staatspräsident Chirac diesen Art. 4 Abs. 2 des von ihm ausgefertigten HeimkehrG mit Hilfe des Verfassungsrats von der Gesetzesebene auf die schlichte Verordnungsebene herunter, da eine Vorlage zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit insgesamt nach der Ausfertigung nicht mehr möglich war.
Der Autor beschreibt die Feinheiten des relevanten französischen Verfassungsrechts zur Entschärfung eines als inopportun empfundenen Gesetzes durch Staatspräsidenten, Premierminister und Conseil constitutionnel.
Zuvor stellt er die Reaktionen auf das HeimkehrG und auf vergleichbare Vorschriften in einen größeren Zusammenhang – wie das Gesetz Gayssot vom 13. Juli 1990, das die Verneinung des Völkermords an den Juden während des 2. Weltkriegs mit Freiheits- und Geldstrafe belegt, ferner das Gesetz vom 29. Januar 2001, das aus der Feststellung (ohne Strafandrohung) besteht: „Frankreich erkennt öffentlich den Völkermord an den Armeniern von 1915 an“, und schließlich das Gesetz Taubira vom 23. Mai 2001, nach dessen Art. 1 die Französische Republik den europäischen Sklavenhandel als Verbrechen gegen die Menschlichkeit anerkennt. (Seite 21)
Cf. die Entscheidung des Verfassungsrats über das HeimkehrG 2005, EuGRZ 2007, 54 (in diesem Heft).
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Straßburg, sieht in der Verweigerung der nach einer Gesetzesänderung notwendig gewordenen Neu-Registrierung einer Religionsgemeinschaft eine Verletzung von Art. 9 und 11 EMRK / Moskauer Unterorganisation der Heilsarmee gegen Russland
Die Heilsarmee war von 1913 bis zur Auflösung als „anti-sowjetische Organisation“ im Jahre 1923 und nach der Wende seit 1992 wieder offiziell in Russland tätig. Auf der Ebene der Regionen und auf der föderalen Ebene hatte sie die erforderliche Neu-Registrierung erhalten, nur in Moskau nicht.
Der EGMR kommt u.a. zu dem Ergebnis: «Im Hinblick auf die oben ausgeführte Feststellung des Gerichtshofs, dass die Gründe, auf die sich die Moskauer Justizbehörde bei ihrer Verweigerung der Neu-Registrierung der Unterorganisation der Bf. berief und die von den Moskauer Gerichten bestätigt wurden, keine rechtliche oder tatsächliche Grundlage hatten, kann die Schlussfolgerung gezogen werden, dass (…) die Moskauer Behörden nicht in gutem Glauben handelten und ihre Pflicht zur Neutralität und Unparteilichkeit bezüglich der Religionsgemeinschaft der Bf. verletzten.» (Seite 24)
Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH), Luxemburg, erklärt Klage der Kurdenorganisation PKK gegen fortdauernde Führung auf der Terroristen-Liste der EG für zulässig / PKK gegen Rat der EU
Der EuGH korrigiert als Rechtsmittelinstanz die Entscheidung des EuG wegen unzutreffender Tatsachenfeststellungen und verweist die Sache zur Entscheidung über die Begründetheit an die erste Instanz zurück. (Seite 30)
EuGH bestätigt Wahlrecht zum Europäischen Parlament auch für jene Einwohner Gibraltars (Kolonie der britischen Krone), die Bürger des Commonwealth, nicht aber der EU sind / Spanien gegen Vereinigtes Königreich
Die Klage wegen Verletzung u.a. der Art. 189, 190, 17 und 19 EG wird als unbegründet abgewiesen. Die angegriffene Regelung ist Teil des Gesetzes, mit dem das Vereinigte Königreich das Urteil des EGMR im Fall Matthews (EuGRZ 1999, 200) zum EP-Wahlrecht in Gibraltar umgesetzt hat. (Seite 39)
EuGH sieht niederländische (Unions-)Bürger mit Wohnsitz in Aruba durch Ausschluss vom Wahlrecht zum EP diskriminiert / Rs. Eman und Sevinger
Hintergrund des Ausgangsverfahrens – Das Königreich der Niederlande besteht nach dem Statut von 1954 aus drei Ländern: den (europäischen) Niederlanden, den Überseegebieten Niederländische Antillen und Aruba. (Seite 48)
Conseil constitutionnel (CC), Paris, spricht dem Gesetzgeber die Kompetenz ab, die „Anerkennung der positiven Rolle der französischen Präsenz in Übersee“ als Maxime für schulische Lehrpläne vorzuschreiben
Art. 4 Abs. 2 HeimkehrG von 2005 wird nicht als Gesetz, sondern als Verordnung eingestuft. (Seite 54)
Zur politischen Brisanz des Problems, dessen sich der Verfassungsrat hier äußerst lapidar entledigt, cf. den Aufsatz von Franzke, Der Gesetzgeber als Geschichtslehrer?, EuGRZ 2007, 21 ff. (in diesem Heft)
Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, lehnt heimliche Vaterschaftstests wegen Verletzung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung des Kindes als Beweismittel ab
Der Erste Senat bestätigt jedoch das Recht des rechtlichen Vaters auf Kenntnis der Abstammung seines Kindes auch gegen den Willen von Kind und Mutter. Dem Gesetzgeber wird eine Frist bis zum 31. März 2008 gesetzt, innerhalb der ein geeignetes rechtsförmiges Verfahren allein zur Feststellung der Vaterschaft bereitzustellen ist. (Seite 54)
BVerfG widerspricht überspannten Anforderungen an Unterhaltspflicht eines Vaters mit geringem Einkommen bei vollschichtiger Arbeit zu ungünstigen Zeiten mit langem Anfahrtsweg und Überstunden am Samstag
AG Königs Wusterhausen und OLG Brandenburg hatten dem Bf., der gegen die Verpflichtung zur Zahlung des Regelunterhalts klagen wollte, Prozesskostenhilfe mit der Begründung verweigert, er hätte sich zur Erzielung eines ausreichenden Einkommens überregional und europaweit bewerben müssen. (Seite 62)
BVerfG beanstandet zweite Verurteilung wegen Kindesentziehung als Verstoß gegen das Schuldprinzip
Der in Deutschland lebende algerische Vater weigert sich, die nach algerischem Recht notwendige notarielle Einverständniserklärung abzugeben, damit seine Tochter von einem Verwandtenbesuch im Jahre 2001 aus Algerien zur Mutter nach Deutschland zurückkehren kann. (Seite 64)
BVerfG billigt aus Gründen der Gefährlichkeit des Straftäters die Vollstreckung der lebenslangen Freiheitsstrafe auch über den durch die besondere Schwere der Schuld bedingten Zeitpunkt hinaus
Der Zweite Senat führt u.a. aus: «Dass Prognosen über den Grad künftiger Gefährlichkeit eines Verurteilten in tatsächlicher Hinsicht mit Schwierigkeiten verbunden sind, liegt in der Natur der Sache, führt aber noch nicht zu einer verfassungswidrigen Unbestimmtheit der vom Gesetzgeber normierten Voraussetzungen.» (Seite 66)
BVerfG bestätigt Anspruch auch ausländischer Transsexueller auf Änderung des Vornamens trotz entgegenstehenden Heimatrechts
Voraussetzung ist, dass sie sich rechtmäßig und nicht nur vorübergehend in Deutschland aufhalten. (Seite 82)
BVerfG bekräftigt Verlust der deutschen Staatsbürgerschaft wegen heimlichen Rückerwerbs der, für die Einbürgerung in Deutschland offiziell aufgegebenen, ursprünglichen (türkischen) Staatsbürgerschaft. (Seite 90)
BVerfG unterstreicht fortbestehendes Rechtsschutzinteresse auch bei erledigten hoheitlichen Maßnahmen
Ausgangsverfahren: Antrag auf Aufhebung eines Hausverbots für die Mutter eines Untersuchungsgefangenen; fehlerhaftes Vorgehen des OLG Oldenburg. (Seite 96)
BVerfG billigt Zwangsmitgliedschaft eines Grundeigentümers in Jagdgenossenschaft gem § 9 Abs. 1 Bundesjagdgesetz
Das gilt auch, wenn der Grundeigentümer die Jagd aus Gewissensgründen ablehnt. Kein Widerspruch zur Rechtsprechung des EGMR. (Seite 98)
BVerfG festigt Rechte des Antragstellers im Adhäsionverfahren (§§ 403 ff. StPO)
Antragsrecht zur Ablehnung des Richters wegen Besorgnis der Befangenheit gegeben. (Seite 102)
Bundesgerichtshof (BGH), Karlsruhe, erklärt verdeckte Online-Durchsuchung mangels gesetzlicher Ermächtigungsgrundlage für unzulässig
Der 3. Strafsenat des BGH bestätigt eine entsprechende Entscheidung des Ermittlungsrichters beim BGH und verwirft die dagegen gerichtete Beschwerde des Generalbundesanwalts. (Seite 105)
Bayerischer Verfassungsgerichtshof (BayVerfGH), München, bestätigt Kompetenz des Gesetzgebers, Lehrkräften an öffentlichen Schulen das Tragen äußerer Symbole und Kleidungsstücke, die eine religiöse oder weltanschauliche Überzeugung ausdrücken, im Unterricht zu untersagen
Popularklage der Islamischen Religionsgemeinschaft e.V. in Berlin gegen Art. 59 Abs. 2 Satz 3 des Bayerischen Gesetzes über das Erziehungs- und Unterrichtswesen wird abgewiesen. Islamisches Kopftuch und katholisches Nonnenhabit – konkretisierende Auslegung durch die Fachgerichte. (Seite 107)
Europäisches Parlament (EP), Straßburg, kritisiert Kollusion europäischer Regierungen mit amerikanischem Geheimdienst CIA bei Beförderung („außerordentliche Überstellung“) und rechtswidrigem Festhalten von Gefangenen (CIA-Flüge und -Gefängnisse). (Seite 113)
EP fordert transatlantische Datenschutz-Minima beim Zugriff amerikanischer Behörden auf europäische Bank- und Fluggastdaten. (Seite 127)
EuGH– mdl. Verhandlung: BAföG-Ausschluss bei Studium im Ausland. (Seite 130)