EuGRZ 2009 |
29. Februar 2009
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36. Jg. Heft 1-4
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Informatorische Zusammenfassung
Gabriele Britz, Gießen, hinterfragt eine ausschließliche «Europäisierung des grundrechtlichen Datenschutzes» und plädiert für inhaltliche Initiativen der nationalen Gerichte
«Zwar mag auch das Bundesverfassungsgericht den Stein der Weisen in Sachen Grundrechtsdogmatik und -theorie im Bereich der informationellen Selbstbestimmung bislang nicht gefunden haben. Gleichwohl erscheint die weitere Mitwirkung der nationalen Gerichte am gesamteuropäischen grundrechtlichen Datenschutz unverzichtbar. (…) Auf der Ebene des nationalen Verfassungsrechts ist manches eben doch schon in größerer Klarheit herausgearbeitet. Neben den Generalanwälten könnten etwa auch die nationalen Fachgerichte zum Export nationaler Datenschutzgrundrechtsdogmatik beitragen, indem sie diese im Wege von Vorlageverfahren nach Art. 234 EG in die Interpretation des Gemeinschaftsgrundrechts einspeisen. (…)
Angesichts des großen Bedarfs an Nach- und Neujustierungen beim Schutz informationeller Selbstbestimmung, von dem auch die Fülle aktueller Verfahren des Bundesverfassungsgerichts zeugt, ist ein solcher Export jedoch nur dann weiterführend, wenn sich auch der nationale Grundrechtsschutz fortentwickelt. Dafür muss den Datenschutzgrundrechten des nationalen Verfassungsrechts ein eigener Anwendungsbereich bleiben.»
Zu den Rechtsquellen im Hinblick auf das mögliche Nichtinkrafttreten des Vertrags von Lissabon bemerkt die Autorin:
«Vergleicht man die Bedeutung von Art. 8 GRCh de lege lata und de lege ferenda, relativiert sich die Bedeutung des Inkrafttretens des Lissabonner Vertrags für den grundrechtlichen Datenschutz: Zum einen scheint Art. 8 GRCh unabhängig von der primärrechtlichen Fortentwicklung der EU in eine gewisse Rechtsbedeutung hineinzuwachsen. Zum anderen kann sich das europäische Datenschutzgrundrecht inhaltlich unabhängig von Art. 8 GRCh über Art. 8 EMRK fortentwickeln. Art. 8 EMRK würde schließlich durch den Lissabonner Vertrag auch nicht gegenüber Art. 8 GRCh an Bedeutung verlieren, sondern bliebe, vermittelt über den EGMR, zentrale Bestimmung des europäischen Datenschutzgrundrechts.» (Seite 1)
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Straßburg, sieht die Unparteilichkeit von Laienrichtern (Schöffen) auch nach teilweiser Lektüre der Anklageschrift gewährleistet / Elezi gegen Deutschland
«Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass die Unparteilichkeit i.S.v. Art. 6 Abs. 1 anhand eines subjektiven Ansatzes, d.h. ausgehend von der persönlichen Überzeugung eines bestimmten Richters in einer bestimmten Rechtssache, und eines objektiven Ansatzes, d.h. durch die Feststellung, ob der Richter hinreichend Gewähr dafür geboten hat, dass alle berechtigten Zweifel insoweit auszuschließen sind, zu prüfen ist. (…)
Der Gerichtshof stellt insoweit fest, dass die Frage der Einsicht der Schöffen in die Verfahrensakte (die die gesamte Anklageschrift enthält) durch die Strafprozessordnung nicht geregelt ist. § 30 Abs. 1 GVG bestimmt, dass die Schöffen während der Hauptverhandlung das Richteramt in vollem Umfang und mit gleichem Stimmrecht wie die Richter ausüben; eine unterschiedliche Behandlung von Richtern und Schöffen ist somit nicht vorgesehen.»
Der Bf. hatte sich zusammen mit seiner Schwester wegen banden- und gewerbsmäßigen Menschenhandels zu verantworten.
Nachdem das Verfahren gegen die als Mittäterin angeklagte geständige Schwester des Bf. aus Gründen der Verfahrensbeschleunigung abgetrennt worden war und die Schwester in ihrem Geständnis pauschal auf die Anklageschrift Bezug genommen hatte, wurde den Schöffen und den Ersatzschöffen die Anklageschrift mit den wesentlichen Ergebnissen der Ermittlungen zur Lektüre außerhalb der Hauptverhandlung ausgehändigt. Daraufhin stellte der Bf. in seinem Verfahren gegen die beiden Schöffen und die beiden Ergänzungsschöffen (die Richterbank war in beiden Verfahren personengleich besetzt) einen Befangenheitsantrag.
In dem Urteil heißt es weiter: «Unter den Umständen des Falles war die Unparteilichkeit der Schöffen durch hinreichende Schutzvorkehrungen gewährleistet (…). Aus den Erklärungen, die die Schöffen auf die gegen sie gerichteten Befangenheitsanträge des Bf. hin abgegeben hatten, ergibt sich, dass der Kammervorsitzende sie vor der Übergabe der Abschrift über die Art des wesentlichen Ergebnisses der Ermittlungen belehrt hatte. Sie hatten verstanden, dass die darin enthaltene Sichtweise der Staatsanwaltschaft nicht dem in der Rechtssache des Bf. zu erlassenden Urteil zugrunde gelegt wird, für das allein die Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung maßgeblich ist.» (Seite 12)
Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH), Luxemburg, bestätigt Binnenmarkt-bezogene Rechtsgrundlage (Art. 95 EG) für RL 2006/24/EG über die Vorratsdatenspeicherung wegen erheblicher wirtschaftlicher Auswirkungen für die Diensteanbieter und weist die Nichtigkeitsklage Irlands ab / Irland gegen Rat u. Parlament
«Klarzustellen ist außerdem, dass sich die von Irland erhobene Klage allein auf die Wahl der Rechtsgrundlage bezieht und nicht auf eine eventuelle Verletzung der Grundrechte als Folge von mit der Richtlinie 2006/24 verbundenen Eingriffen in das Recht auf Privatsphäre. (…)
Aus den Akten ergibt sich auch, dass die Verpflichtungen zur Datenvorratsspeicherung erhebliche wirtschaftliche Auswirkungen für die Diensteanbieter haben, da sie hohe Investitionen und Betriebskosten nach sich ziehen können. (…)
Die Bestimmungen dieser Richtlinie sind im Wesentlichen auf die Tätigkeiten der Diensteanbieter beschränkt und regeln nicht den Zugang zu den Daten oder deren Nutzung durch die Polizei- und Justizbehörden der Mitgliedstaaten.
Im Einzelnen bezwecken die Bestimmungen der Richtlinie 2006/24 die Angleichung der nationalen Rechtsvorschriften in Bezug auf die Vorratsspeicherungspflicht (Art. 3), die Kategorien von auf Vorrat zu speichernden Daten (Art. 5), die Speicherungsfristen (Art. 6), den Datenschutz und die Datensicherheit (Art. 7) sowie die Anforderungen an die Vorratsdatenspeicherung (Art. 8).
Dagegen bringen die in der Richtlinie 2006/24 vorgesehenen Maßnahmen selbst keine Strafverfolgung durch die Behörden der Mitgliedstaaten mit sich. Wie sich insbesondere aus Art. 3 dieser Richtlinie ergibt, müssen die Diensteanbieter nur die Daten, die im Zuge der Bereitstellung der betreffenden Kommunikationsdienste erzeugt oder verarbeitet wurden, auf Vorrat speichern. Diese Daten sind ausschließlich die Daten, die eng mit der Ausübung der Geschäftstätigkeit der Anbieter verbunden sind.
Die Richtlinie 2006/24 regelt somit Tätigkeiten, die unabhängig von der Durchführung jeder eventuellen Maßnahme polizeilicher oder justizieller Zusammenarbeit in Strafsachen sind.» (Seite 17)
Zum gemeinschaftsrechtlichen Datenschutz s.a. die nachstehenden Entscheidungen des EuGH sowie den Aufsatz von Gabriele Britz, Europäisierung des grundrechtlichen Datenschutzes?, EuGRZ 2009, 1 ff. (in diesem Heft).
EuGH wählt weite Auslegung des Begriffs „Journalismus“ i.S.d. RL 95/46/EG bei der pressemäßigen und elektronischen Veröffentlichung von Steuerdaten / Rs. Satakunnan Markkinapörssi u. Satamedia
«Wie sich aus ihrem Art. 1 ergibt, hat die Richtlinie unbestreitbar zum Ziel, dass die Mitgliedstaaten den freien Verkehr personenbezogener Daten ermöglichen und gleichzeitig den Schutz der Grundrechte und Grundfreiheiten, insbesondere den Schutz der Privatsphäre natürlicher Personen bei der Verarbeitung dieser Daten gewährleisten.
Dieses Ziel lässt sich jedoch nur erreichen, wenn berücksichtigt wird, dass die genannten Grundrechte in einem gewissen Maße mit dem Grundrecht der Freiheit der Meinungsäußerung in Einklang gebracht werden müssen.
Dieser Einklang ist Gegenstand von Art. 9 der Richtlinie. Wie insbesondere aus ihrem Erwägungsgrund 37 hervorgeht, verfolgt die Richtlinie das Ziel, zwei Grundrechte miteinander in Einklang zu bringen, nämlich zum einen den Schutz der Privatsphäre und zum anderen die Freiheit der Meinungsäußerung. Diese Aufgabe obliegt den Mitgliedstaaten.
Um diese beiden „Grundrechte“ im Sinne der Richtlinie miteinander in Einklang zu bringen, sind die Mitgliedstaaten dazu aufgerufen, bestimmte Ausnahmen oder Einschränkungen in Bezug auf den Datenschutz und damit hinsichtlich des Grundrechts auf Privatsphäre vorzusehen, die in den Kapiteln II, IV und VI dieser Richtlinie genannt werden. Diese Ausnahmen dürfen allein zu journalistischen, künstlerischen oder literarischen Zwecken, die unter das Grundrecht der Freiheit der Meinungsäußerung fallen, gemacht werden, soweit sie sich als notwendig erweisen, um das Recht auf Privatsphäre mit den für die Freiheit der Meinungsäußerung geltenden Vorschriften in Einklang zu bringen.» (Seite 23)
S.a. die Schlussanträge von Generalanwältin Kokott in diesem Verfahren, EuGRZ 2008, 440 ff.
EuGH sieht in zentralem Ausländerregister (hier: in Deutschland) zur Bekämpfung der Kriminalität eine Diskriminierung von Unionsbürgern / Rs. Huber
«Wie nämlich der Generalanwalt in Nr. 21 seiner Schlussanträge betont hat, bezieht sich die Kriminalitätsbekämpfung in ihrer allgemeinen, von der deutschen Regierung in ihren Erklärungen angeführten Bedeutung zwingend auf die Verfolgung von Verbrechen und Vergehen unabhängig von der Staatsangehörigkeit der Täter.
Folglich kann für einen Mitgliedstaat die Situation seiner Staatsangehörigen im Hinblick auf das Ziel der Bekämpfung der Kriminalität nicht anders sein als die der Unionsbürger, die keine Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats sind und sich in seinem Hoheitsgebiet aufhalten.
Somit ist die unterschiedliche Behandlung dieser Staatsangehörigen und dieser Unionsbürger durch die zur Bekämpfung der Kriminalität vorgenommene systematische Verarbeitung der personenbezogenen Daten allein der Unionsbürger, die keine Staatsangehörigen des betreffenden Mitgliedstaats sind, eine durch Art. 12 Abs. 1 EG untersagte Diskriminierung.» (Seite 28)
EuGH interpretiert den Begriff der „nicht mehr vollstreckbaren Sanktionen“ i.S.v. Art. 54 SDÜ zur Vermeidung einer Doppelbestrafung / Rs. Bourquain
Der Angeklagte des Ausgangsverfahrens war als Angehöriger der französischen Fremdenlegion 1961 in Algerien von einem Militärgericht wegen Desertion und vorsätzlicher Tötung eines anderen Legionärs, der die Desertion hatte verhindern wollen, in Abwesenheit zum Tode verurteilt worden. Er war zunächst in der DDR untergetaucht, lebte dann im Raum Regensburg und wurde von der dortigen Staatsanwaltschaft am 11. Dezember 2002 wegen Mordes angeklagt. Das Landgericht Regensburg befasste den EuGH, nachdem die französische Militärstaatsanwaltschaft Paris dem vorlegenden Gericht auf Anfrage mitgeteilt hatte, dass die 1961 verhängte Todesstrafe 1981 unwiderruflich geworden sei und in Frankreich deshalb nicht mehr vollstreckt werden könne, weil Verbrechensstrafen nach zwanzig Jahren verjähren.
Der EuGH stellt fest: «Das in Art. 54 des am 19. Juni 1990 in Schengen (Luxemburg) unterzeichneten Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 [SDÜ] (…) niedergelegte Verbot der Doppelbestrafung findet auf ein Strafverfahren Anwendung, das in einem Vertragsstaat wegen einer Tat eingeleitet wird, für die der Angeklagte bereits in einem anderen Vertragsstaat rechtskräftig abgeurteilt worden ist, auch wenn die Strafe, zu der er verurteilt wurde, nach dem Recht des Urteilsstaats wegen verfahrensrechtlicher Besonderheiten, wie sie im Ausgangsverfahren in Rede stehen, nie unmittelbar vollstreckt werden konnte.» (Seite 35)
EuGH zum Verbot der Doppelbestrafung und zum Begriff „rechtskräftig abgeurteilt“ i.S.v. Art. 54 SDÜ / Rs. Turanský
Der Betroffene des Ausgangsverfahrens wird von den österreichischen Strafverfolgungsbehörden verdächtigt, zusammen mit zwei anderen Personen am 5. Oktober 2000 in Wien einen schweren Raub begangen zu haben. Nachdem die Republik Österreich die Slowakische Republik gem. Art. 21 des Europäischen Übereinkommens über die Rechtshilfe in Strafsachen um Übernahme der Strafverfolgung ersucht hatte, ordnete die dort örtlich zuständige Polizeibehörde gem. Art. 215 Abs. 1 Buchstabe b slowakische StPO das Ruhen des Verfahrens an.
Der EuGH stellt fest, «dass eine Entscheidung einer Polizeibehörde wie die im Ausgangsverfahren fragliche, mit der zwar die Strafverfolgung eingestellt, aber nach der betreffenden nationalen Rechtsordnung die Strafklage nicht endgültig verbraucht wird, keine Entscheidung darstellen kann, die die Annahme erlaubte, dass der Betroffene im Sinne von Art. 54 SDÜ „rechtskräftig abgeurteilt“ worden wäre.» (Seite 38)
Schweizerisches Bundesgericht (BGer), Lausanne, erkennt in der Nichteinbürgerung einer behinderten Bewerberin wegen Sozialhilfeabhängigkeit einen Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot des Art. 8 Abs. 2 Bundesverfassung
Die 1986 geborene angolanische Staatsangehörige reiste im März 1995 mit ihrer Mutter von Angola her in die Schweiz ein. Mit Erreichen der Volljährigkeit wurde sie wegen Geistesschwäche unter Vormundschaft gestellt. Seit 2004 lebt sie in einem Heim, in dem sie eine geeignete Ausbildung und berufliche Förderung erhält sowie einen geschützten Arbeitsplatz innehat. Sie wird von der eidgenössischen Asylfürsorge unterstützt. Ihr Antrag auf Einbürgerung in der Gemeinde A. wurde abgelehnt, da sie das Erfordernis der wirtschaftlichen Selbsterhaltungsfähigkeit nicht erfüllt. Das Verwaltungsgericht des Kantons Zürich bestätigte die Entscheidung.
Das BGer führt in seinem stattgebenden Urteil aus: «Das Erfordernis der wirtschaftlichen Selbsterhaltungsfähigkeit im Sinne von § 21 Abs. 1 GemeindeG wirkt sich auf alle sozialhilfeabhängigen Personen als Hindernis einer Einbürgerung aus und gilt gleichermassen für Schweizer wie für Ausländer. Die mangelnde wirtschaftliche Selbsterhaltungsfähigkeit kann, wie dargetan (E. 5), auf verschiedenartigsten Faktoren beruhen und unterschiedlichste Gruppen von Personen betreffen. (…)
Es ist unbestritten, dass die Beschwerdeführerin zur Zeit ihres Einbürgerungsgesuches von der eidg. Asylfürsorge unterstützt worden ist und im Falle der Einbürgerung der Fürsorge durch die Gemeinde A. zur Last fallen würde. Gleichermassen wird nicht in Frage gestellt, dass entsprechende Fürsorgeleistungen einen jährlichen Betrag von rund 100'000 Franken ausmachen würden. (…)
Ferner mag es unter dem Gesichtswinkel des Diskriminierungsverbotes, das auch Aspekte der Menschenwürde im Sinne von Art. 7 BV beschlägt, als stossend empfunden werden, dass die Beschwerdeführerin – die bis heute von der Asylfürsorge unterstützt worden ist und im Falle der Einbürgerung von der Gemeinde A. zu unterstützen wäre – einzig wegen der Frage, aus welchem „Kässeli“ die ihr zukommende Unterstützung geleistet wird, nicht eingebürgert würde.»
Das BGer legt dem VG des Kantons Zürich bei seiner erneuten Entscheidung eine verfassungskonforme Auslegung des Gemeindegesetzes nahe. (Seite 42)
Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, erachtet die Umwandlung einer im Ausland (Frankreich) verhängten unbedingten Freiheitsstrafe von fünfzehn Monaten bei der beantragten Vollstreckung in Deutschland in eine Bewährungsstrafe verfassungsrechtlich nicht für geboten
Der Bf. war nach der deutschen Wiedervereinigung als Berater und Vermittler an der Privatisierung einer Erdölraffinerie und der Übernahme eines Tankstellennetzes auf dem Gebiet der ehemaligen DDR durch einen französischen Konzern beteiligt. Das Tribunal de Grande Instance in Paris war zu der Überzeugung gelangt, dass der Bf. sein hohes Beraterhonorar in Wahrheit als Schmiergeld weiterverteilt hatte.
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen, da der Bf. sich lediglich pauschal auf die Rechtsschutzgarantie aus Art. 19 Abs. 4 GG beruft und eine Verletzung der Freiheitsgarantie aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG nicht hinreichend substantiiert.
Im Übrigen betont die 2. Kammer des Zweiten Senats: «Eine unbeschränkte Nachprüfung gerichtlicher Entscheidungen im Verfassungsbeschwerdeverfahren entspricht nicht der Aufgabenverteilung zwischen Fachgerichtsbarkeit und Verfassungsgerichtsbarkeit. Deshalb sind die Gestaltung des Verfahrens, die Feststellung und Würdigung des Tatbestands ebenso wie die Auslegung des einfachen Rechts und seine Anwendung auf den einzelnen Fall allein Sache der Fachgerichte und der verfassungsgerichtlichen Nachprüfung grundsätzlich entzogen; das Bundesverfassungsgericht greift hier nur ein, wenn spezifisches Verfassungsrecht verletzt ist, wenn also der Fehler gerade in der Nichtbeachtung von Grundrechten liegt.» (Seite 46)
BVerfG betont, dass innerkirchliche Maßnahmen keine Akte der grundrechtsverpflichteten öffentlichen Gewalt sind
«Die Verfassungsgarantie des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts bedeutet keine Ausklammerung aus der staatlichen Rechtsordnung im Sinne rechtsfreier Räume, sondern sie begründet im Gegenteil eine die gemeinschaftliche Freiheitsausübung respektierende Sonderstellung innerhalb der staatlichen Rechtsordnung. (…)
Die Versetzung eines Pfarrers in den Ruhestand wie auch die Festsetzung eines Ruhegehalts betreffen Fragen der Verfassung und Organisation der Evangelischen Kirche im Rheinland. Die Ausgestaltung des Dienst- und Amtsrechts unterliegt aber – wie der über die Verweisung des Art. 140 GG weitergeltende Art. 137 Abs. 3 Satz 2 WRV besonders betont – dem Selbstbestimmungsrecht der Kirche und ist – sofern diese es nicht selbst dem staatlichen Recht unterstellt – der staatlichen Gerichtsbarkeit entzogen. Ist die Kirche nur im Bereich ihrer innerkirchlichen Angelegenheiten tätig geworden, so liegt kein Akt der öffentlichen Gewalt vor, gegen den der Rechtsbehelf der Verfassungsbeschwerde gegeben sein könnte.» (Seite 51)
BVerfG billigt die innerstaatliche Gesetzgebung zur Umstellung gemeinschaftsrechtlicher Agrarmarktbeihilfen
«Bei der Umstellung von Agrarmarktbeihilfen darf der Gesetzgeber die im Gemeinschaftsrecht vorgesehene Einteilung des Bundesgebiets in Regionen an den Ländergrenzen ausrichten. Er darf bei der Ausgestaltung des Fördersystems grundsätzlich zur Vermeidung struktureller Verwerfungen auch bisherige Förderelemente berücksichtigen, selbst wenn dies in verschiedenen Regionen Deutschlands zu unterschiedlichen flächenbezogenen Förderbeträgen führt.»
Der Erste Senat des BVerfG sieht sich an der von der Regierung des Saarlandes im Wege der abstrakten Normenkontrolle beantragten verfassungsrechtlichen Prüfung der in wesentlichen Teilen gemeinschaftsrechtlich determinierten Vorschriften deshalb nicht gehindert; denn: «Das Betriebsprämiendurchführungsgesetz macht von der in der VO (EG) 1782/2003 eröffneten Option zur Regionalisierung Gebrauch und gestaltet die Option in einer bestimmten Weise aus. Diese dem nationalen Gesetzgeber überlassene Ausgestaltung ist der verfassungsgerichtlichen Prüfung zugänglich.» (Seite 54)
BVerfG unterstreicht die Evidenzanforderung an den durch eine Sonderabgabe zu finanzierenden und die Abgabe rechtfertigenden Gruppennutzen
Der Zweite Senat des BVerfG erklärt das Gesetz über die Errichtung eines zentralen Fonds zur Absatzförderung der deutschen Land- und Ernährungswirtschaft (Absatzfondsgesetz) in wesentlichen Teilen für verfassungswidrig und deshalb nichtig.
In dem Urteil heißt es: «Es handelt sich bei dieser Abgabe nicht um eine Sonderabgabe, die bei der Zurechnung von Sonderlasten der Abgabepflichtigen an den Verursachungsgedanken anknüpft und ihre Rechtfertigung in einer Verantwortlichkeit für die Folgen gruppenspezifischer Zustände oder Verhaltensweisen finden kann. Vielmehr geht es um eine zwangsweise durchgeführte Fördermaßnahme, zu deren Finanzierung die Gruppe der Abgabepflichtigen nur aus Gründen eines Nutzens herangezogen wird, den der Gesetzgeber dieser Gruppe zugedacht hat. Die Unternehmen der deutschen Land- und Ernährungswirtschaft verursachen keinen Bedarf, für dessen Befriedigung sie ohne weiteres verantwortlich gemacht werden könnten. Der Staat greift vielmehr auf der Grundlage des Absatzfondsgesetzes mit wirtschaftspolitisch begründeten Förderungsmaßnahmen gestaltend in die Wirtschaftsordnung ein und weist den erst dadurch entstehenden Finanzierungsbedarf den mit der Abgabepflicht belasteten Unternehmen zu. Diese finanzielle Inanspruchnahme für die staatliche Aufgabenwahrnehmung, die durch hoheitliche Entscheidung an die Stelle des individuellen unternehmerischen Handelns tritt, stellt sich aus der Sicht des Abgabepflichtigen nicht nur als eine rechtfertigungsbedürftige, zur Steuer hinzutretende Sonderbelastung, sondern auch als Verkürzung seiner durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützten unternehmerischen Freiheit dar.» (Seite 60)
BVerfG zur strikten Einhaltung der Monatsfrist bei der Einlegung einer Verfassungsbeschwerde und zu den Kriterien der berufsrechtlichen Ahndung von Verstößen gegen das Verbot der Umgehung des Gegenanwalts (§ 12 Berufsordnung für Rechtsanwälte, BORA)
Der Erste Senat stellt fest: «Durch die Einlegung einer Gegenvorstellung und die darauf ergehende gerichtliche Entscheidung wird die Monatsfrist zur Einlegung und Begründung der Verfassungsbeschwerde (§ 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG) nicht erneut in Lauf gesetzt. (…)
Die Gegenvorstellung des Beschwerdeführers war nicht geeignet, die Frist zur Einlegung und Begründung der Verfassungsbeschwerde offen zu halten. Zwar ist die Gegenvorstellung nicht offensichtlich unzulässig, sie gehört aber weder zum Rechtsweg noch ist ihre Einlegung aus Gründen der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde erforderlich. Für den Beginn der Monatsfrist aus § 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG ist daher nicht an die Entscheidung des Anwaltsgerichts über die Gegenvorstellung des Beschwerdeführers anzuknüpfen.»
Der Senat gew&204;hrt dem Bf. jedoch wegen der trotz des Plenarbeschlusses vom 30. April 2003 (EuGRZ 2003, 273 [279]) bislang nicht eindeutigen Rechtslage Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Zum Erfolg der Verfassungsbeschwerde heißt es:
«Der Zweck des Umgehungsverbots, die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege insbesondere durch den Schutz des gegnerischen Mandanten vor Überrumpelung zu fördern, liegt sowohl der Satzungsermächtigung als auch der Rechtfertigung des Eingriffs in die Berufsfreiheit zugrunde. Hingegen lässt sich der Bundesrechtsanwaltsordnung keine Ermächtigung entnehmen, Berufspflichten zur Stärkung der Kollegialität unter Rechtsanwälten so auszugestalten, dass die primären Verpflichtungen aus dem Vertragsverhältnis zum Mandanten zurückgedrängt oder abgeschwächt werden.» (Seite 68)
BVerfG zum Recht auf verbalen Gegenschlag bei einem beleidigenden Wortwechsel in einer Stadtratssitzung
Die 1. Kammer des Ersten Senats sieht in der strafrechtlichen Verurteilung des angegriffenen Redners wegen Beleidigung nach dessen Replik („Dummschwätzer“) eine Verletzung der Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 GG. (Seite 73)
EuGH-Urteile zu den EU-Kompetenzen bildeten das Thema einer Veranstaltung der Hessischen Landesvertretung in Berlin –Tagungsbericht von Magnus Noll-Ehlers. (Seite 76)
BVerfG: Übersicht über im Jahre 2009 zur Entscheidung anstehenden Verfahren. (Seite 77)