EuGRZ 2009 |
9. April 2009
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36. Jg. Heft 5-7
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Informatorische Zusammenfassung
Kira Heyden und Antje von Ungern-Sternberg, Münster, unterziehen das Urteil des EGMR über die Sonderschul-Zuweisung der Roma-Kinder von Ostrava einer kritischen Betrachtung: «Ein Diskriminierungsverbot ist kein Fördergebot – Wider die neue Rechtsprechung des EGMR zu Art. 14 EMRK»
Text der Entscheidung der Großen Kammer mit Sachverhalt und den vier abw. Meinungen s.u. S. 90, 97 ff.
Die Autorinnen fassen ihre detaillierte Urteilskritik folgendermaßen zusammen:
«Dem EGMR ist insoweit zuzustimmen, als er Art. 14 EMRK als Verbot auch der mittelbaren Diskriminierung begreift, für die aussagekräftige Statistiken eine Vermutung begründen können. Dem EGMR ist allerdings zu widersprechen, wenn er dem betroffenen Staat die Möglichkeit verweigert, eine derartige Vermutung zu widerlegen und die Verantwortung für bestimmte, gesellschaftlich vorgefundene Benachteiligungen von sich zu weisen. Insbesondere lässt sich dem Diskriminierungsverbot des Art. 14 EMRK kein Gebot zur Förderung und zur formalen Ungleichbehandlung benachteiligter Minderheiten entnehmen. Solche Verpflichtungen sind allenfalls im einschlägigen Freiheitsrecht verankert.
Das Recht auf Bildung nach Art. 2 des 1. ZP-EMRK enthält zwar auch die Pflicht, benachteiligte Schüler oder Schülergruppen zu fördern. Allerdings steht dem Vertragsstaat bei Erfüllung dieser Pflicht ein weiter Spielraum bei der Wahl der Mittel zu. Solange die Tschechische Republik eine große Anzahl an Roma-Kindern durch eine auf neutralen Kriterien beruhende Beschulung auf Sonderschulen insgesamt zufriedenstellend ausbildet, ist dies jedenfalls konventionsrechtlich nicht zu beanstanden. Gleiches gilt im Übrigen auch für ein Schulsystem wie das deutsche, in dem Migranten aufgrund ihres Bildungshintergrundes oder aufgrund von Sprachschwierigkeiten regelmäßig häufiger eine Hauptschule als ein Gymnasium besuchen.» (Seite 81)
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Straßburg, wertet die Zuweisung von Roma-Kindern auf Sonderschulen in Tschechien als mittelbare Diskriminierung aus rassistischen Gründen / Roma von Ostrava / D.H. u.a. gegen Tschechien
Entgegen der Kammer-Entscheidung (7 Richter) vom 7.2.2006 stellt die Große Kammer des EGMR (17 Richter) eine Verletzung von Art. 14 EMRK i.V.m. Art. 2 des 1. ZPEMRK fest.
Roma bilden in der Tschechischen Republik bei einer Gesamtbevölkerung von 10,2 Mio. eine Gruppe von schätzungsweise 150.000 bis 300.000 Personen. Eine Länder vergleichende Gegenüberstellung mit leicht divergierenden Zahlen findet sich im Sondervotum des Richters Jungwiert (s.u. S. 98).
Die Beschwerdeführer besuchten in den Jahren 1996-1999 statt der Grundschule eine Sonderschule. Ihre Eltern hatten dem zugestimmt und in einigen Fällen sogar darum gebeten.
Grundsätzlich führt der EGMR aus, «dass Diskriminierung bedeutet, Personen in vergleichbarer Lage ohne objektive und vernünftige Rechtfertigung unterschiedlich zu behandeln (…). Art. 14 verbietet es den Mitgliedstaaten jedoch nicht, Gruppen unterschiedlich zu behandeln, um „faktische Ungleichheiten“ zwischen ihnen zu beseitigen; unter bestimmten Umständen kann das Fehlen des Versuchs, Ungleichheit durch eine unterschiedliche Behandlung zu korrigieren, sogar selbst zu einer Verletzung dieses Artikels führen (…). Der Gerichtshof hat auch anerkannt, dass eine allgemeine Politik oder Maßnahme, die sich auf eine bestimmte Gruppe überdurchschnittlich nachteilig auswirkt, für diskriminierend erachtet werden kann, auch wenn sie nicht speziell gegen diese Gruppe gerichtet ist.»
Zu den Tests in den bildungspsychologischen Zentren meint der Gerichtshof abschließend: «Es besteht zumindest die Gefahr,dass die Tests zu Verzerrungen führten und die Ergebnisse nicht im Lichte der Besonderheiten und speziellen Eigenschaften der teilnehmenden Roma-Kinder ausgewertet wurden. Unter diesen Umständen können die fraglichen Tests nicht als Rechtfertigung für die angegriffene unterschiedliche Behandlung dienen.»
Die elterliche Zustimmung betrachtet der EGMR als unbeachtlich: «Unter den Umständen des vorliegenden Falles ist der Gerichtshof nicht davon überzeugt, dass die Eltern der Roma-Kinder, die zu einer benachteiligten Gemeinschaft gehören und oft wenig gebildet waren, alle Aspekte des Sachverhalts und die Folgen ihrer Zustimmung einschätzen konnten. (…)
Angesichts der herausragenden Bedeutung des Verbots der Rassendiskriminierung (…) kann nach Auffassung der Großen Kammer ein Verzicht auf das Recht, nicht aus rassistischen Gründen diskriminiert zu werden, (…) nicht akzeptiert werden, weil der Verzicht einem wichtigen öffentlichen Interesse zuwiderliefe.»
In den Schlussfolgerungen des Urteils heißt es, der Staat habe bei der Ausführung des ihm zustehenden Beurteilungsspielraums im Bildungswesen die besonderen Bedürfnisse derRoma-Kinder nicht berücksichtigt: «Überdies wurden die Bf. infolge dieser Regelung auf Schulen für Kinder mit geistiger Behinderung überwiesen, an denen nach einem einfacheren Lehrplan als an normalen Schulen unterrichtet wurde und an denen sie von den Schülern aus der allgemeinen Bevölkerung ferngehalten wurden. Im Ergebnis erhielten sie eine Ausbildung, die ihre Schwierigkeiten verstärkte und ihre nachfolgende persönliche Entwicklung beeinträchtigte, anstatt ihre wahren Probleme in Angriff zu nehmen oder ihnen zu helfen, sich in die Regelschulen zu integrieren und Fähigkeiten zu entwickeln, die ihnen das Leben inmitten der Mehrheitsbevölkerung erleichtern würden. Tatsächlich hat die Regierung implizit eingeräumt, dass die Berufsmöglichkeiten für Schüler von Sonderschulen eher beschränkt sind.
Während der Gerichtshof die Bemühungen der tschechischen Behörden durchaus anerkennt, eine Schulausbildung für die Roma-Kinder sicherzustellen, ist er unter diesen Umständen nicht davon überzeugt, dass die unterschiedliche Behandlung von Roma-und Nicht-Roma-Kindern sachlich und vernünftig gerechtfertigt war und dass ein angemessenes Verhältnis zwischen dem eingesetzten Mittel und dem verfolgten Zweck bestand. In diesem Zusammenhang nimmt er mit Interesse zur Kenntnis, dass die neue Gesetzgebung die Sonderschulen abgeschafft hat und vorsieht, dass Kinder mit besonderen Bildungsbedürfnissen, einschließlich sozial benachteiligter Kinder, in normalen Schulen unterrichtet werden.
Da festgestellt wurde, dass die einschlägige Gesetzgebung, wie sie in der Praxis angewandt wurde, im entscheidungserheblichen Zeitraum überproportional nachteilige Auswirkungen auf die Gruppe der Roma hatte, haben schließlich die Bf. als Angehörige dieser Gruppe nach Ansicht des Gerichtshofs zwangsläufig die gleiche diskriminierende Behandlung erfahren. Deswegen muss der Gerichtshof nicht die einzelnen Fälle überprüfen.» (Seite 90)
Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH), Luxemburg, spricht dem Teil einer Verordnung die Bindungswirkung ab, der nicht im Amtsblatt der EU veröffentlicht wurde, obwohl er dem Einzelnen Pflichten auferlegt / Rs. Heinrich
Konkret geht es um die Liste von Gegenständen, die an Bord von Flugzeugen verboten sind. Diese Liste im Anhang der VO (EG Nr. 622/2003) ist nicht veröffentlicht worden.
Grundsätzlich führt der EuGH aus: «Ein von einem Gemeinschaftsorgan erlassener Rechtsakt darf natürlichen und juristischen Personen in einem Mitgliedstaat nicht entgegengehalten werden, bevor diese die Möglichkeit hatten, von dem Rechtsakt durch eine ordnungsgemäße Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Union Kenntnis zu nehmen (…).
Insbesondere muss es eine Gemeinschaftsregelung nach dem Grundsatz der Rechtssicherheit den Betroffenen ermöglichen, den Umfang der ihnen damit auferlegten Verpflichtungen genau zu erkennen. (…)
Dies ist bei Verordnungen der Gemeinschaft umso mehr geboten, als es den Betroffenen gegebenenfalls möglich sein muss, von den nationalen Gerichten überprüfen zu lassen, ob nationale Maßnahmen zur Durchführung einer Verordnung der Gemeinschaft mit dieser Verordnung im Einklang stehen.» (Seite 102)
EuGH bekräftigt Auskunftspflicht der Behörden über den genauen Standort genehmigter Freisetzungen genetisch veränderter Organismen (GVO) / Rs. Azelvandre
«Zur Information über den Ort der Freisetzung ist festzustellen, dass sie nach Art. 25 Abs. 4 erster Gedankenstrich der Richtlinie keinesfalls vertraulich behandelt werden darf. Unter diesen Umständen können Erwägungen des Schutzes der öffentlichen Ordnung oder anderer gesetzlich geschützter Geheimnisse, wie sie das vorlegende Gericht in seiner zweiten Frage angeführt hat, keine Gründe darstellen, die den Zugang zu den in Art. 25 Abs. 4 der Richtlinie 2001/18 aufgeführten Daten, zu denen insbesondere diejenigen über den Ort der Freisetzung gehören, beschränken können. (…)
Insbesondere hat der Gerichtshof zur absichtlichen Freisetzung von GVO in Randnr. 72 seines Urteils vom 9. Dezember 2008, Kommission/Frankreich (C-121/07, Slg. 2008, I-0000), entschieden, dass sich ein Mitgliedstaat, selbst wenn die von der Französischen Republik angeführten Unruhen tatsächlich zum Teil auf die Umsetzung von Vorschriften gemeinschaftsrechtlichen Ursprungs zurückzuführen sein sollten, nicht im Stadium der Durchführung einer Handlung der Gemeinschaft auf auftretende Schwierigkeiten einschließlich solcher, die mit dem Widerstand von Privatpersonen in Zusammenhang stehen, berufen kann, um die Nichtbeachtung der Verpflichtungen und Fristen zu rechtfertigen, die sich aus Vorschriften des Gemeinschaftsrechts ergeben.» (Seite 107)
EuGH präzisiert Schlüsselbegriff der Flüchtlings-Richtlinie 2004/83/EG / Rs. Elgafaji
Die Kläger des Ausgangsverfahrens sind Eheleute aus dem Irak, die sich um eine befristete Aufenthaltserlaubnis in den Niederlanden bemühen.
Art. 15 Buchst. c i.V.m. Art. 2 Buchst. e der genannten Richtlinie ist folgendermaßen auszulegen:
«Das Vorliegen einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit der Person, die die Gewährung des subsidiären Schutzes beantragt, setzt nicht voraus, dass diese Person beweist, dass sie aufgrund von ihrer persönlichen Situation innewohnenden Umständen spezifisch betroffen ist.
Das Vorliegen einer solchen Bedrohung kann ausnahmsweise als gegeben angesehen werden, wenn der den bestehenden bewaffneten Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt nach der Beurteilung der zuständigen nationalen Behörden, die mit einem Antrag auf subsidiären Schutz befasst sind, oder der Gerichte eines Mitgliedstaats, bei denen eine Klage gegen die Ablehnung eines solchen Antrags anhängig ist, ein so hohes Niveau erreicht, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass eine Zivilperson bei einer Rückkehr in das betreffende Land oder gegebenenfalls in die betroffene Region allein durch ihre Anwesenheit im Gebiet dieses Landes oder dieser Region tatsächlich Gefahr liefe, einer solchen Bedrohung ausgesetzt zu sein.» (Seite 111)
EuGH stellt hohe Beweisanforderungen für Ausnahmen vom Verbot der Altersdiskriminierung / hier: Britische Regelung zur Entlassung wegen Versetzung in den Ruhestand / Rs. The Incorporated Trustees of the National Council on Ageing
«Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 ermöglicht es den Mitgliedstaaten, im Rahmen des nationalen Rechts bestimmte Formen der Ungleichbehandlung aus Gründen des Alters vorzusehen, sofern diese „objektiv und angemessen“ und durch ein rechtmäßiges Ziel, wie aus den Bereichen Beschäftigungspolitik, Arbeitsmarkt und berufliche Bildung, gerechtfertigt und die Mittel zur Erreichung dieser Ziele angemessen und erforderlich sind. Diese Bestimmung erlegt den Mitgliedstaaten die Beweislast dafür auf, dass das zur Rechtfertigung angeführte Ziel rechtmäßig ist, und stellt an diesen Beweis hohe Anforderungen.» (Seite 115)
Schweizerisches Bundesgericht (BGer), Lausanne, sieht im obligatorischen, gemischt-geschlechtlichen Schwimmunterricht an öffentlichen Grundschulen auch für muslimische Kinder keinen unzulässigen Eingriff in die Religionsfreiheit / Änderung der Rechtsprechung
«Wer in ein anderes Land emigriert, muss regelmässig gewisse Einschränkungen und Änderungen seiner Lebensgewohnheiten in Kauf nehmen. Dies bedeutet keineswegs eine Preisgabe der Religionsfreiheit. Es geht dabei regelmässig nicht um den Kerngehalt dieses Grundrechts, sondern lediglich um Konflikte, die daraus entstehen können, dass gewisse kulturellreligiös verankerte, inhaltlich aber das Alltagsleben betreffende Verhaltensnormen mit den hier geltenden Regeln kollidieren. Glaubensansichten entbinden jedoch nicht von der Erfüllung der bürgerlichen Pflichten. Diese in der bisherigen Bundesverfassung (Art. 49 Abs. 5 aBV) noch ausdrücklich verankerte Regel muss als Grundsatz weiterhin gelten.
Im sozialen Einbindungsprozess kommt der Schule eine besonders wichtige Aufgabe zu (…). Sie soll zunächst eine Grundbildung vermitteln. Dieses Ziel kann sie nur erreichen, wenn seitens der Schüler die Verpflichtung besteht, die obligatorischen Fächer und Veranstaltungen zu besuchen. Im Gegenzug muss die Schule ein offenes, gesellschaftsübliches Umfeld bieten und den Geboten der weltanschaulichen Neutralität und der Laizität strikt nachleben. (…) Der Sportunterricht dient zudem in hohem Mass der Sozialisierung der Schüler. Diesen Zweck kann er nur erfüllen, wenn der Unterricht (wie auch Klassenlager und Skilager etc.), wie in der Schweiz allgemein üblich, gemeinsam stattfindet.» (Seite 121)
Österreichischer Verfassungsgerichtshof (VfGH), Wien, schließt Rechtsschutzlücke gegen Verletzung des Rechts auf angemessene Verfahrensdauer in Verwaltungsstrafverfahren / Art. 13 i.V.m. Art. 6 Abs. 1 EMRK
Die beiden Beschwerdeführer waren wegen Verstoßes gegen das Ausländerbeschäftigungsgesetz mit einer Verwaltungsstrafe belegt worden. Das Verfahren hatte über zwei Jahre bzw. ein Jahr und acht Monate gedauert. Nach § 51 Abs. 7 Verwaltungsstrafgesetz hätte das angefochtene Straferkenntnis wegen Überschreitens der Fünfzehn-Monatsfrist eigentlich ex lege außer Kraft treten müssen.
Die Bf. waren allerdings in eine Rechtsschutzlücke geraten: Parteien eines Verwaltungsverfahrens können sich nämlich zwar gegen die Säumnis einer Behörde mit einem Devolutionsantrag (§ 73 AVG) und in weiterer Folge mit einer Säumnisbeschwerde nach Art. 132 B-VG an den VwGH zur Wehr setzen. Im Verwaltungsstrafverfahren sind diese beiden Rechtsbehelfe aber nur in Privatanklage-und (landesrechtlichen) Finanzstrafsachen zulässig (§ 52b VStG, Art. 132 letzter Satz B-VG). Zum Ausgleich bestimmt § 51 Abs. 7 VStG, dass Straferkenntnisse außer Kraft treten, wenn über eine dagegen erhobene Berufung nicht binnen 15 Monaten entschieden wird, dies allerdings nur in Verfahren, in denen ein Berufungsrecht ausschließlich dem Beschuldigten zukommt: Für Privatanklagesachen, aber auch für andere Mehrparteienverfahren, in denen etwa einer Amtspartei ein Berufungsrecht zukommt, gilt die Säumnisfolge des § 51 Abs. 7 VStG also nicht.
So kam für die beiden Bf. keiner dieser Rechtsbehelfe in Betracht – Devolutionsantrag und Säumnisbeschwerde nicht, weil ihr Verfahren weder eine Privatanklage-noch eine Finanzstrafsache betraf; das Außerkrafttreten des Straferkenntnisses nach § 51 Abs. 7 VStG wiederum schied aus, weil in den Strafverfahren der Bf. nach § 28a Abs. 1 AuslBG neben dem Beschuldigten auch die Abgabenbehörde berufungsberechtigt war. (Seite 125)
Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, erklärt den Einsatz von Wahlcomputern in verschiedenen Wahlkreisen bei der Wahl zum 16. Deutschen Bundestag 2005 für verfassungswidrig
Allerdings führen die festgestellten Wahlfehler mangels Mandatsrelevanz nicht zu der Notwendigkeit einer Wahlwiederholung. Der Einsatz von Wahlcomputern war nur in Bezug auf 2 Mio. Wählerstimmen in insgesamt nur fünf der sechzehn Bundesländer erfolgt.
Im Urteil des Zweiten Senats heißt es: «Der Grundsatz der Öffentlichkeit der Wahl aus Art. 38 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG gebietet, dass alle wesentlichen Schritte der Wahl öffentlicher Überprüfbarkeit unterliegen, soweit nicht andere verfassungsrechtliche Belange eine Ausnahme rechtfertigen. (…)
Daraus folgt, dass die Stimmen nach der Stimmabgabe nicht ausschließlich auf einem elektronischen Speicher abgelegt werden dürfen. Der Wähler darf nicht darauf verwiesen werden, nach der elektronischen Stimmabgabe alleine auf die technische Integrität des Systems zu vertrauen. Wird das Wahlergebnis durch rechnergesteuerte Verarbeitung der in einem elektronischen Speicher abgelegten Stimmen ermittelt, genügt es nicht, wenn anhand eines zusammenfassenden Papierausdrucks oder einer elektronischen Anzeige lediglich das Ergebnis des im Wahlgerät durchgeführten Rechenprozesses zur Kenntnis genommen werden kann. Denn auf diese Weise können Wähler und Wahlorgane nur prüfen, ob das Wahlgerät so viele Stimmen verarbeitet hat, wie Wähler zur Bedienung des Wahlgerätes bei der Wahl zugelassen worden sind. Es ist in diesen Fällen nicht ohne weiteres erkennbar, ob es zu Programmierfehlern in der Software oder zu zielgerichteten Wahlfälschungen durch Manipulation der Software oder der Wahlgeräte gekommen ist.» (Seite 129)
BVerfG billigt die neue Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (Großer Strafsenat) zu nachträglichen Protokollberichtigungen und deren Beachtlichkeit für das Revisionsgericht im Strafprozessrecht
«Insbesondere ist die – auch dem neuen Konzept zugrundeliegende – ständige Rechtsprechung der Strafgerichte, der zufolge eine Berichtigung des Sitzungsprotokolls ohne zeitliche Beschränkung möglich und geboten ist, im Hinblick auf die verfassungsrechtlichen Grenzen richterlicher Rechtsfindung nicht zu beanstanden. Dasselbe gilt für die Annahme, dass die Beweiskraft aus § 274 StPO im Falle einer Protokollberichtigung grundsätzlich auf die berichtigte Protokollfassung übergeht, die Beachtlichkeit einer rügeverkümmernden Protokollberichtigung aber im Rahmen der erhobenen Verfahrensrüge derÜberprüfung durch das Revisionsgericht unterliegt.»
Eine Verletzung von Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3 GG liegt also nicht vor.
In dem Beschluss des Zweiten Senats wird weiter ausgeführt: «Dass der Große Senat für Strafsachen sich im vorliegenden Zusammenhang von einer über Jahrzehnte anerkannten Rechtsprechung gelöst hat, bildet keinen eigenständigen Grund für verfassungsrechtliche Beanstandungen. (…)
Die Zulassung rügeverkümmernder Protokollberichtigungen ermöglicht den Gerichten, dem Phänomen der unwahren Protokollrüge zu begegnen, und trägt damit dem verfassungsrechtlichen Anliegen einer funktionstüchtigen und effektiven Strafverfolgung Rechnung.» (Seite 143)
In ihrer abweichenden Meinung beanstanden die Richter Voßkuhle, Osterloh und Di Fabio, der Senat verkenne die verfassungsrechtlichen Grenzen richterlicher Rechtsfindung. (Seite 153)
In seiner abweichenden Meinung stimmt Richter Gerhardt der Entscheidung im Ergebnis zu, beanstandet jedoch, der Senat habe mit seinen Erwägungen zur Wahrung der Grenzen richterlicher Rechtsfindung die Kompetenzen des Bundesverfassungsgerichts überschritten. (Seite 159)
BVerfGunterstreicht Grenzen der Zulässigkeit körperlicher Durchsuchung im Intimbereich bei Aufnahme in Untersuchungshaftanstalt
Die 3. Kammer des Zweiten Senats stellt fest: «Eingriffe, die den Intimbereich und das Schamgefühl des Inhaftierten berühren, lassen sich im Haftvollzug nicht prinzipiell vermeiden. Sie sind aber von besonderem Gewicht. Der Gefangene hat insoweit Anspruch auf besondere Rücksichtnahme (…). Der bloße Umstand, dass Verwaltungsabläufe sich ohne eingriffsvermeidende Rücksichtnahmen einfacher gestalten, ist hier noch weniger als in anderen, weniger sensiblen Bereichen geeignet, den Verzicht auf solche Rücksichtnahmen zu rechtfertigen. Dies gilt in verschärftem Maße für Eingriffe in der Untersuchungshaft. (…)
Bei Personen, die in Untersuchungshaft verbracht werden, können Umstände vorliegen, die den Verdacht, der oder die Betreffende könne zum Zweck des Einschmuggelns in die Haftanstalt Drogen oder andere gefährliche Gegenstände in Körperöffnungen des Intimbereichs versteckt haben, als derart fernliegend erscheinen lassen, dass hierauf gerichtete Untersuchungen, die mit einer Inspektion von Körperöffnungen verbunden sind, sich als nicht mehr verhältnismäßig erweisen.»
Der Beschwerdeführer ist von Beruf Steuerberater und wurde am 4. Februar 2005 morgens gegen 7.00 Uhr, als er seine Kinder zur Schule brachte, wegen Verdachts der Bestechlichkeit und der Untreue zum Nachteil des berufsständischen Versorgungswerkes für Rechtsanwälte festgenommen und in Untersuchungshaft verbracht. Am 10. Februar 2005 wurde er aus der U-Haft entlassen. Das BVerfG hebt den Beschluss des OLG Hamburg, das die gerügte körperliche Untersuchung gebilligt hatte, wegen Verletzung von Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG auf. (Seite 159)
Europäisches Parlament (EP), Straßburg, spricht sich füreinen verstärkten Zugang der Öffentlichkeit zu Dokumenten der Europäischen Gemeinschaften und der Europäischen Union aus / Durchführung der Verordnung EG Nr. 1049/2001, 2007/2154 (INI)
Das EP «fordert alle EU-Organe nachdrücklich auf, die Verordnung (EG) Nr. 1049/2001 im Lichte der jüngsten Rechtsprechung und insbesondere des Urteils des EuGH in der Rechtssache Turco [EuGRZ 2008, 406] in allen ihren Auswirkungen, besonders bei Legislativverfahren (Veröffentlichung von Stellungnahmen/Gutachten des Juristischen Dienstes, enge Auslegung von Ausnahmeregelungen, Verpflichtung zur Vorlage einer detaillierten Begründung der Ablehnung, usw.) anzuwenden, und fordert den Rat ferner auf, seine Vorschriften zu revidieren, um die Öffentlichkeit aller Debatten, Dokumente und Informationen, einschließlich der Identität der Delegationen der Mitgliedstaaten im Rat sowie in seinen Arbeitsgruppen und Expertengruppen, zu gewährleisten und Mitschriften seiner öffentlichen Sitzungen anzufertigen, da die Schlussfolgerungen des EuGH betreffend die Tatsache,dass das Interesse der Öffentlichkeit an Transparenz schwerer wiegt als die Ausnahme zugunsten des Schutzes des Entscheidungsprozesses, da verschiedene Ansichten zu einem legislativen Rechtsakt eine größere Legitimität der Organe ermöglichen, auch in diesem Fall gelten.» (Seite 163)
BVerfG setzt Bayerisches Versammlungsgesetz vom 22. Juli 2008 durch einstweilige Anordnung teilweise außer Kraft
Konkret betroffen sind die Bußgeldvorschriften in Art. 21 Nr. 1, 2, 7, 13 und 14. Die Vorschriften zu Datenerhebung,Bild-und Tonaufzeichnungen, Übersichtsaufnahmen und Aufzeichnungen in Art. 9 des Gesetzes gelten einstweilen nur eingeschränkt. (Seite 167)