EuGRZ 2011 |
22. Februar 2011
|
38. Jg. Heft 1-4
|
Informatorische Zusammenfassung
Jessica Baumann, Mainz, behandelt das Problem, ob der EGMR mit der Fortschreibung der Bosphorus-Rechtsprechung gegenüber dem EuGH im Fall Nederlandse Kokkelvisserij auf dem Weg zu einem doppelten EMRK-Schutzstandard ist
«Die Vermutung des äquivalenten Grundrechtsschutzes bedeutet eine Privilegierung der Europäischen Union bzw. genauer, der Mitgliedstaaten, die ohne eigenen Beurteilungsspielraum Unionsrecht vollziehen. Wie stark diese Ungleichbehandlung ausfällt, hängt von der Handhabung der Vermutungsregel durch den EGMR in der Zukunft ab. (…)
Bei einer Ausdehnung auf einzelne Höchst- und Verfassungsgerichte der Mitgliedstaaten, entstünde nicht nur das praktische Problem, anhand welcher Kriterien die Auswahl vorgenommen werden soll; es würde den nationalen Gerichten auch der Stempel eines grundsätzlich „guten“ bzw. „schlechten“ Grundrechtsschutzes aufgedrückt werden, was erhebliche Spannungen zwischen den Mitgliedstaaten hervorrufen könnte. (…)
Der Forderung nach stärkerer Beachtung der nationalen Eigenheiten kann durch Einräumung größerer nationaler Beurteilungsspielräume Rechnung getragen werden. Der Versuchung einer Übertragung der Bosphorus-Formel auf die Höchstgerichte der Mitgliedstaaten sollte widerstanden werden.» (Seite 1)
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Straßburg, sieht in Fortführung seiner Bosphorus-Rspr. die Ablehnung des Antrags auf Möglichkeit einer Stellungnahme zu den Schlussanträgen des Generalanwalts in EuGH-Vorabentscheidungsverfahren nicht als Verletzung des Rechts auf ein faires (kontradiktorisches) Verfahren aus Art. 6 Abs. 1 EMRK / Rs. Nederlandse Kokkelvisserij
Der EGMR prüft, «ob das Verfahren vor dem EuGH von Garantien begleitet war, die einen äquivalenten Schutz der Rechte der Bf. sicherten. In diesem Zusammenhang legt der Gerichtshof besonderes Gewicht auf die von Art. 61 VerfO-EuGH eingeräumte Möglichkeit ̶ die im Lichte der Schlussanträge der Generalanwältin in der Rs. C-212/06 (…) als realistisch und nicht nur theoretisch akzeptiert werden muss ̶ , wonach der EuGH nach den Schlussanträgen des Generalanwalts die Wiedereröffnung des Verfahrens anordnen kann, sofern er das für erforderlich hält, und dass tatsächlich, wie sich aus der Entscheidung des EuGH vom 28. April 2004 bezogen auf den vorliegenden Fall ergibt, eine der Verfahrensbeteiligten einen solchen Antrag auf Wiedereröffnung des Verfahrens gestellt hat, den der EuGH auf seine Begründetheit hin überprüft hat. Im vorliegenden Fall befand der EuGH, dass die Bf. keine konkreten Hinweise dahingehend beigebracht hat, dass eine Wiedereröffnung des Verfahrens sachdienlich oder erforderlich wäre.»
Darüber hinaus verweist der EGMR auf den Umstand, «dass der Raad van State ein weiteres Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH hätte richten können, sofern er sich außerstande gesehen hätte, den Fall auf der Grundlage der ersten Vorabentscheidung zu entscheiden».
Hinzu kommt: «Nach dem Urteil des EuGH hätte die betroffene Regierung der Bf. nach Maßgabe des Gemeinschaftsrechts eine Lizenz für mechanische Herzmuschelfischerei unter der Voraussetzung erteilen dürfen, dass aus wissenschaftlicher Sicht keine vernünftigen Zweifel bestehen, dass eine derartige Fischerei sich nachteilig auf die natürlichen Lebensräume des Wattenmeeres auswirkt. Wäre die Bf. folglich in der Lage gewesen, entsprechende Beweise vorzulegen, wäre der Raad van State nicht gehindert gewesen, die von der Wattenmeervereinigung erhobene Klage abzuweisen.»
Somit hat die Bf. nach Ansicht des EGMR «nicht hinreichend dargelegt, dass der gewährte Schutz aufgrund des fehlenden Rechts zur Erwiderung auf die Schlussanträge der Generalanwältin „offensichtlich unzureichend “ war. Die Bf. hat daher die Vermutung, dass das Verfahren vor dem EuGH einen äquivalenten Schutz ihrer Rechte gewährleistet, nicht widerlegen können.»
Die Bf. vor dem EGMR (Coöperatieve Producentenorganisatie van der Nederlandse Kokkelvisserij U. A.) ist eine genossenschaftliche Organisation, die aus Personen und Unternehmen besteht, die mechanische Herzmuschelfischerei betreiben und deren Fanggebiet auch im Wattenmeer lag. Das zuständige Ministerium hatte ihr für die Jahre 1999 und 2000 jeweils kollektiv für deren Mitglieder Lizenzen für den Fang von bis zu 10.000 bzw. 9.775 Tonnen Herzmuscheln erteilt. Gegen die Lizenzerteilung klagte eine Umweltschutzorganisation. Der Raad van State, vor dem das Verfahren anhängig war, legte dem EuGH ein Vorabentscheidungsersuchen zur Auslegung der HabitatRL 92/93/EWG vor. In diesem Verfahren vor dem EuGH war die Bf. Drittbeteiligte. Ihren Antrag auf Stellungnahme zu den Schlussanträgen der Generalanwältin lehnte der EuGH ab. Dagegen richtet sich die Menschenrechtsbeschwerde. Der EGMR lässt ausdrücklich offen, inwieweit Art. 6 EMRK auch für Drittbeteiligte im EuGH-Verfahren (wie hier die Bf.) gilt. (Seite 11)
Im Zusammenhang mit der Bosphorus-Rechtsprechung s.a. S. Winkler, EuGRZ 2007, 641-654.
EGMR betrachtet Sicherungsverwahrung ̶ innerhalb der zur Zeit der Tat und der Verurteilung gesetzlich vorgeschriebenen Höchstdauer ̶ als konventionskonform / Grosskopf gegen Deutschland
«Der Gerichtshof stellt fest, dass das LG Köln als erkennendes Gericht die Sicherungsverwahrung des Bf. im Hinblick auf seine Verurteilung wegen versuchten Einbruchsdiebstahls in mehreren Fällen sowie seine zahlreichen früheren Verurteilungen wegen Einbruchsdiebstahls angeordnet hat. Mit der Anordnung der Sicherungsverwahrung des Bf. wollte dieses Gericht verhindern, dass der Bf. weitere einschlägige Straftaten begeht, durch die den möglichen Opfern schwerer wirtschaftlicher Schaden zugefügt würde (…). In den hier in Rede stehenden Überprüfungsverfahren in den Jahren 2002 und 2006 stellten die Strafvollstreckungsgerichte unter Berücksichtigung der früheren Verurteilungen des Bf., seines Verhaltens im Vollzug und seiner Einstellung zur Arbeit fest, dass zu erwarten sei, dass er wieder straffällig werden und weitere Einbruchsdiebstähle oder sonstige Eigentumsdelikte begehen würde, um seinen Lebensunterhalt zu finanzieren. Die innerstaatlichen Gerichte sahen des Weiteren keine positive Entwicklung, da der Bf. eine Therapie und eine Auseinandersetzung mit seiner kriminellen Vergangenheit ablehne.» (Seite 20)
Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH), Luxemburg, versagt dem Versuch einer Österreicherin, die verfassungsrechtliche Aufhebung des Adels in Österreich durch eine Erwachsenen-Adoption in Deutschland zu umgehen, den unionsrechtlichen Erfolg / Rs. Sayn-Wittgenstein
Im Zuge der Abschaffung der Monarchie nach dem Ersten Weltkrieg hat Österreich 1919 auch den Adel abgeschafft. Die 1944 geborene Beschwerdeführerin des Ausgangsverfahrens vor dem österreichischen Verwaltungsgerichtshof (VwGH) ist Österreicherin, lebt in Deutschland und ist als Immobilienmaklerin mit dem Verkauf von Schlössern und Herrenhäusern befasst. 1991 erwarb sie durch Adoption in Deutschland den Adelstitel „Fürstin von Sayn-Wittgenstein “. Die österreichischen Behörden trugen diesen Namen in das österreichische Geburtenbuch ein und verlängerten zumindest einmal den österreichischen Reisepass.
Nachdem der Verfassungsgerichtshof 2003 in einem ähnlich gelagerten Fall mit Bezug auf das in Verfassungsrang stehende Adelsaufhebungsgesetz entschieden hatte, dass österreichische Staatsbürger auch nicht berechtigt seien, Adelstitel ausländischen Ursprungs zu führen, gelangte der Landeshauptmann von Wien zu der Ansicht, dass die Eintragung im Geburtenbuch unrichtig sei. Er sprach mit Bescheid vom 24. August 2007 aus, dass der Familienname der Beschwerdeführerin im Geburtenbuch berichtigend mit „Sayn-Wittgenstein “ einzutragen sei.
Auf Vorlage des VwGH stellt der EuGH fest: «Insoweit ist einzuräumen, dass im Kontext der österreichischen Verfassungsgeschichte das Adelsaufhebungsgesetz als Teil der nationalen Identität bei der Abwägung legitimer Belange auf der einen Seite und dem vom Unionsrecht gewährten Recht der Freizügigkeit von Personen auf der anderen berücksichtigt werden kann. (…)
Ferner ist darauf hinzuweisen, dass die Union nach Art. 4 Abs.2 EUV die nationale Identität ihrer Mitgliedstaaten achtet, zu der auch die republikanische Staatsform gehört.
Im vorliegenden Fall erscheint es nicht unverhältnismäßig, wenn ein Mitgliedstaat das Ziel der Wahrung des Gleichheitssatzes dadurch erreichen will, dass er seinen Angehörigen den Erwerb, den Besitz oder den Gebrauch von Adelstiteln oder von Bezeichnungen verbietet, die glauben machen könnten, dass derjenige, der den Namen führt, einen solchen Rang innehat. Es ist nicht zu erkennen, dass die zuständigen österreichischen Personenstandsbehörden dadurch, dass sie es ablehnten, die in einem Namen wie dem der Beschwerdeführerin enthaltene Adelsbezeichnung anzuerkennen, über das hinausgegangen wären, was zur Erreichung des von ihnen verfolgten grundlegenden verfassungsrechtlichen Ziels erforderlich ist.» (Seite 25)
EuGH gibt im Zusammenhang mit dem Europäischen Haftbefehl dem Begriff „dieselbe Handlung “ zur Wahrung des Grundsatzes ne bis in idem eine unionsrechtlich autonome Definition / Rs. Mantello
Im Ausgangsverfahren betroffen ist ein in Deutschland lebender Italiener, gegen den das Tribunale de Catania 2008 einen Europäischen Haftbefehl erlassen hat, dem ein nationaler Haftbefehl in einem Verfahren gegen den Betroffenen und 76 weitere Beschuldigte wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung mit dem Ziel des unerlaubten Kokain-Handels zugrunde liegt. Hierfür droht eine Freiheitsstrafe nicht unter 20 Jahren.
Das OLG Stuttgart ersuchte den EuGH um Vorabentscheidung, ob es die Vollstreckung des Haftbefehls verweigern könne, da der Betroffene wegen des Besitzes von ca. 154g Kokain (was 599 bis 719 Verkaufsdosen entsprach) bereits im April 2006 zu einer Freiheitsstrafe von zehn Monaten und 20 Tagen sowie zu einer geringen Geldstrafe verurteilt worden war.
Der EuGH kommt zu dem Ergebnis: «In einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens, in dem die ausstellende Justizbehörde auf ein Informationsersuchen der vollstreckenden Justizbehörde (…) ausdrücklich festgestellt hat, dass das zuvor im Rahmen ihrer Rechtsordnung erlassene Urteil keine rechtskräftige Verurteilung wegen der in ihrem Haftbefehl bezeichneten Handlungen darstellt und den in diesem Haftbefehl genannten Strafverfolgungsmaßnahmen daher nicht entgegensteht, besteht für die vollstreckende Justizbehörde kein Anlass, wegen dieses Urteils den in diesem Art. 3 Nr. 2 [Rahmenbeschluss 2002/584/JI] vorgesehenen zwingenden Grund für die Ablehnung der Vollstreckung anzuwenden.» (Seite 32)
EuGH billigt zur Bekämpfung des Drogentourismus den Ausschluss von EU-Ausländern vom Besuch niederländischer „Coffeeshops“ mit geduldetem Cannabis-Verkauf / Rs. Josemans
Der damit verbundene Eingriff in die Dienstleistungsfreiheit ist gerechtfertigt: «Im vorliegenden Fall steht fest, dass mit der im Ausgangsverfahren fraglichen Regelung die Belästigungen unterbunden werden sollen, die durch die große Zahl an Touristen verursacht werden, die in den Coffeeshops in der Gemeinde Maastricht Cannabis kaufen oder konsumieren wollen. Nach den Informationen, die der Burgemeester van Maastricht in der mündlichen Verhandlung vorgelegt hat, ziehen die 14 Coffeeshops in Maastricht pro Tag etwa 10.000 und im Jahr etwas über 3,9 Millionen Besucher an, von denen 70 % nicht in den Niederlanden wohnen.»(Seite 37)
EuGH zur Anerkennung von EU-ausländischen Diplomen für den Zugang zum Rechtsanwaltsberuf / Rs. Koller
Der Betroffene hatte an der Universität Graz den Grad „Magister der Rechtswissenschaften“ erworben, den die spanischen Behörden als dem „Licenciado en Derecho“ gleichwertig anerkannten, hatte Lehrgänge an der Universität Madrid absolviert und Ergänzungsprüfungen gemäß dem spanischen innerstaatlichen Homologationsverfahren bestanden. Von der Rechtsanwaltskammer Madrid erhielt er am 14. März 2005 die Berechtigung, die Bezeichnung „abogado“ zu führen.
Drei Wochen später, am 5.April, beantragte er bei der Rechtsanwaltsprüfungskommission beim OLG Graz die Zulassung zur Eignungsprüfung für den Rechtsanwaltsberuf und stellte gleichzeitig nach § 29 EuRAG (österr. Gesetz über die Niederlassung von europäischen Rechtsanwälten) den Antrag auf Erlassung sämtlicher Prüfungsfächer. Den ablehnenden Bescheid focht der Betroffene mit der Berufung an die Oberste Berufungs- und Disziplinarkommission (OBDK) an. Diese war der Ansicht, dass der Betroffene den Zweck verfolge, die in Österreich erforderliche fünfjährige „praktische Verwendung“ zu umgehen.
Nachdem der Betroffene in dieser Sache am 13. März 2008 vor dem Verfassungsgerichtshof obsiegt hatte, da Anhaltspunkte für einen Missbrauch durch den Antragsteller nicht vorlägen, ersuchte die OBDK den EuGH um Vorabentscheidung zur Auslegung der RL 89/48/EWG.
Der EuGH gelangt zu dem Ergebnis, dass die Zulassung zur Eignungsprüfung nicht deshalb versagt werden könne, weil der Nachweis der nach österreichischem Recht geforderten praktischen Verwendung fehlt. (Seite 44)
Gericht der Europäischen Union (EuG), Luxemburg, erklärt die Verordnung der Kommission zur Umsetzung entsprechender Antiterror-Listen der UNO (EG) 1190/2008 in Bezug auf den Kläger Kadi wegen Verletzung der Grundrechte auf rechtliches Gehör, effektiven Rechtsschutz und Achtung des Eigentums für nichtig / Rs. Kadi (II)
«Wollte man im vorliegenden Fall den Umfang und die Intensität der gerichtlichen Kontrolle dergestalt beschränken, wie es die Kommission und die am Verfahren beteiligten Regierungen (…) sowie der Rat (…) befürworten, so liefe dies darauf hinaus, dass keine wirksame gerichtliche Kontrolle der vom Gerichtshof in seinem Urteil Kadi [Kadi (I) vom 3. September 2008, EuGRZ 2008, 480-505] verlangten Art stattfände, sondern nur der Anschein einer solchen Kontrolle bestünde. Damit würde de facto dem Ansatz des Gerichts in dessen Urteil Kadi gefolgt, den der Gerichtshof in seinem Rechtsmittelurteil als rechtsfehlerhaft bezeichnet hat. Es ist grundsätzlich Sache des Gerichtshofs und nicht des Gerichts, gegebenenfalls eine solche Wende in der Rechtsprechung zu vollziehen, falls ihm dies insbesondere in Anbetracht der von den Gemeinschaftsorganen und den am Verfahren beteiligten Regierungen geltend gemachten schwerwiegenden Nachteile gerechtfertigt erscheint. (…)
Die Erwägungen, die der Gerichtshof in den Randnrn. 323 bis 325 seines Urteils Kadi [I] hierzu und insbesondere in Bezug auf die Koordinierungsstelle angestellt hat, haben ihre Gültigkeit in den Grundzügen bis heute behalten, auch unter Berücksichtigung des „Büros der Ombudsperson“, dessen Errichtung in der Resolution 1904 (2009) dem Grundsatz nach beschlossen wurde und dessen Besetzung unlängst erfolgt ist. Im Wesentlichen hat es der Sicherheitsrat noch immer nicht für angebracht gehalten, ein unabhängiges und unparteiisches Organ zu schaffen, das in rechtlicher wie in tatsächlicher Hinsicht über Klagen gegen die Einzelfallentscheidungen des Sanktionsausschusses zu befinden hat. Außerdem wird der Grundsatz, dass die Streichung einer Person von der Liste des Sanktionsausschusses einen Konsens innerhalb dieses Ausschusses erfordert, weder durch den Mechanismus der Koordinierungsstelle noch durch das Büro der Ombudsperson in Frage gestellt. Überdies steht die Auswahl der Beweise, die einem Betroffenen gegenüber offengelegt werden können, weiterhin voll und ganz im Ermessen des Staates, der die Aufnahme des Betroffenen in die Liste des Sanktionsausschusses vorgeschlagen hat, und es gibt keine Vorkehrungen, die gewährleisten, dass der Betroffene über hinreichende Informationen verfügt, um sich sachdienlich verteidigen zu können (ihm braucht nicht einmal mitgeteilt zu werden, welcher Staat seine Aufnahme in die Liste des Sanktionsausschusses beantragt hat).»(Seite 48)
Zur Entwicklung der hier relevanten Rechtsprechung von EuG und EuGH cf. Kotzur, EuGRZ 2006, 19-26; Tomuschat, EuGRZ 2007, 1-12; Kotzur, EuGRZ 2008, 673-680 und die weiteren Nachweise in diesem Heft auf S. 66
Schweizerisches Bundesgericht (BGer), Lausanne, bekräftigt den Anspruch auf eine öffentliche Verhandlung (Art. 6 EMRK) im erstinstanzlichen Sozialversicherungsprozess
Das BGer gibt zunächst einen Überblick über die eigene Rechtsprechung und kritisiert fehlende Konsequenz in der Rechtsprechung des EGMR, in welchen Fällen von dem grundsätzlichen Anspruch auf eine mündliche Verhandlung abgewichen werden kann. Das BGer kommt dann zu dem Ergebnis, dass nicht deswegen von einer öffentlichen Verhandlung abgesehen werden kann, weil es sich um ein Verfahren mit hauptsächlich medizinischer Fragestellung handelt. Insbesondere begründet der Streit um den Arbeitsunfähigkeitsgrad der versicherten Person im Verfahren der Invalidenversicherung keine Ausnahme von der Pflicht, eine öffentliche Verhandlung im Sinne von Art. 6 Abs. 1 EMRK durchzuführen. Bildet Gegenstand einer Verhandlung einzig die Auseinandersetzung mit fachärztlichen Stellungnahmen zu Gesundheitszustand und Arbeitsunfähigkeit, kann deren Durchführung nicht verweigert werden mit dem Argument, das schriftliche Verfahren sei besser geeignet, medizinische Fragen zu erörtern. (Seite 67)
Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, gibt bei konkreter Bildberichterstattung über glamouröses Auftreten der Tochter von Caroline von Hannover dem Schutz der Privatsphäre den Vorrang, in Bezug auf die Wortberichterstattung hingegen der Pressefreiheit
«Insofern ist zu berücksichtigen, dass der streitgegenständliche Artikel zwar zweifellos die Klägerin in den Mittelpunkt stellt, aber entgegen der Auffassung der Gerichte [LG Berlin und Kammergericht] keineswegs anlasslos deren Aussehen und Erscheinungsbild thematisiert. Berichtet wird vielmehr insgesamt über das Publikum auf der Pariser Modewoche und in deren Rahmen veranstalteter Partys. Dabei erörtert der Artikel ̶ ohne dass dies als bloßer Vorwand für eine Befassung mit der Klägerin erscheint ̶ insbesondere das Auftreten einer Gruppe reicher junger Frauen, die aufgrund ihrer Abstammung ein sorgenfreies, genussorientiertes Leben führe. Diesen Personen, zu denen der Bericht auch die Klägerin zählt, kommt allerdings ersichtlich wenn nicht eine Leitbild-, so doch eine Kontrastfunktion im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu.» (Seite 69)
BVerfG betont den Schutz der geschlechtlichen Identität auch für Transsexuelle
«Es verstößt gegen Art. 2 Abs. 1 und Abs. 2 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG, dass ein Transsexueller, der die Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 Transsexuellengesetz erfüllt, zur rechtlichen Absicherung seiner gleichgeschlechtlichen Partnerschaft nur dann eine eingetragene Lebenspartnerschaft begründen kann, wenn er sich zuvor gemäß § 8 Abs. 1 Nr. 3 und 4 des Transsexuellengesetzes einem seine äußeren Geschlechtsmerkmale verändernden operativen Eingriff unterzogen hat sowie dauernd fortpflanzungsunfähig ist und aufgrund dessen personenstandsrechtlich im empfundenen und gelebten Geschlecht Anerkennung gefunden hat.» (Seite 74)
BVerfG kritisiert ausgreifende Durchsuchung von Redaktionsräumen eines privaten Radiosenders
Konkret geht es um strafrechtliche Ermittlungen wegen Verstoßes gegen § 201 Abs. 1 StGB (Vertraulichkeit des Wortes), nachdem zwei Telefongespräche mit einem Pressesprecher der hamburgischen Polizei gesendet worden waren, ohne die Sendeabsicht dem Polizeisprecher vorher mitzuteilen. (Seite 83)
BVerfG beanstandet fünfjähriges Publikationsverbot für die Verbreitung rechtsextremistischen oder nationalsozialistischen Gedankenguts als Weisung im Rahmen strafrechtlicher Führungsaufsicht als zu unbestimmt und unverhältnismäßig. (Seite 88)
BVerfG sieht in der Festhaltung eines wegen Folterungen in derTürkei asylberechtigten Kurden aufgrund eines Festnahmeersuchens von Interpol Ankara eine Verletzung seines Grundrechts auf persönliche Freiheit. Das BVerfG kritisiert die fehlende Prüfung eines Auslieferungshindernisses und die fehlende Schriftform der Festhalteanordnung als Verletzung der gerichtlichen Informationspflicht gegenüber dem Bf. (Seite 90)
BVerfG stellt Verfahren eines asylsuchenden Irakers gegen Abschiebung nach Griechenland ein, nachdem der Bundesinnenminister die Weisung erteilt hat, generell von Überstellungen nach Griechenland vorerst abzusehen. (Seite 94)
Gemeinsame Erklärung der Präsidenten von EGMR (Jean-Paul Costa) und EuGH (Vassilios Skouris)
Nach einem Arbeitstreffen von Mitgliedern beider Gerichtshöfe am 21. Januar in Luxemburg äußerten sich die beiden Präsidenten am 24. Januar 2011 zu einer „parallelen Auslegung“ von GRCh und EMRK sowie zu dem gegenwärtig verhandelten Beitritt der EU zur EMRK:
«Damit nun aber der Grundsatz der Subsidiarität auch in der dargelegten Situation respektiert werden kann, ist es angezeigt, im Rahmen des Beitritts der EU zur EMRK ein Verfahren vorzusehen, das flexibel und sicherzustellen geeignet ist, dass der EuGH eine interne Kontrolle vornehmen kann, bevor die externe Kontrolle durch den EGMR einsetzt. Die Modalitäten der Durchführung eines solchen Verfahrens, das keine Änderung der Konvention erforderlich macht, sollten die spezifischen Eigenheiten der durch die beiden Gerichtshöfe ausgeübten richterlichen Kontrolle in Betracht ziehen.» (Seite 95)
Verwaltungsgerichtshof (VGH) Baden-Württemberg, Mannheim, fragt in seiner Vorlage an den EuGH nach einer etwaigen Abgrenzung der Grundrechte der GRCh von den gemäß Art. 6 Abs. 3 EUV als allgemeine Unionsrechtsgrundsätze fortgeltenden Grundrechten
In den Leitsätzen des Gerichts heißt es hierzu: «Können die in der Rechtsprechung des Gerichtshofs (…) entwickelten „ungeschriebenen“ EU-Grundrechte in vollem Umfang angewendet werden, auch wenn im konkreten Fall der Anwendungsbereich der Grundrechtecharta nicht eröffnet ist, mit anderen Worten, stehen die gemäß Art. 6 Abs. 3 EUV als allgemeine Unionsrechtsgrundsätze fortgeltenden Grundrechte eigenständig und unabhängig neben den neuen Grundrechten der Grundrechtecharta nach Art. 6 Abs. 1 EUV? (Seite 96)
* * *
Europäischer Juristentag, 19.-21. Mai 2011, in Luxemburg
Drei Themenkomplexe werden behandelt: (I) Finanzregulierung, (II) Grundrechte und (III) Informationsrecht in einem grenzüberschreitenden und europäischen Kontext. Anmeldung unter: www.eurojurist2011.lu.
Zum Thema „Grundrechte“ sind drei Arbeitsgruppen vorgesehen:(1) Schutz personenbezogener Daten ̶ unter dem Vorsitz von EuGH-Richter Jean-Claude Bonichot referieren Paul De Hert, Thomas Petri und diskutieren Gérard Lommel, Reinhard Priebe und Alex Türk; (2) Rechte des Beschuldigten ̶ unter dem Vorsitz von EGMR-Richter Dean Spielmann referieren Robert Biever, Henri Labayle und diskutieren Lars Bay Larsen, Stefan Braum, Jonathan Mitchell und Fran¢oise Tulkens; (3) Drittwirkung der Grundrechte -- unter dem Vorsitz von EuGH-Generalanwältin Juliane Kokott referieren Andreas Voßkuhle, Achim Seifert und diskutieren Catherine Barnard, Yves Bot, Alain Lacabarats und Sir Alan Moses. Generalberichterstatter ist Christian Vigouroux.