EuGRZ 2011
28. April 2011
38. Jg. Heft 5-7

Informatorische Zusammenfassung

Markus Kotzur, Leipzig, untersucht den Schutz personenbezogener Daten in der europäischen Grundrechtsgemeinschaft unter der korrespondierenden Verantwortung von EuGH, EGMR und mitgliedstaatlichen Verfassungsgerichten Ausgehend von zwei typischen Gefährdungslagen in der global vernetzten Kommunikationsgesellschaft – Vorratsdatenspeicherung und Pflicht zur Veröffentlichung personenbezogener Daten im Internet – setzt sich der Autor mit den Wechselwirkungen von innerstaatlichem und europäischem Rechtsrahmen auseinander: «Freiheit und Sicherheit, Öffentlichkeit und Privatheit sind für den Verfassungsstaat konstitutive, in wesentlichen Teilbereichen grundrechtsgesicherte Kategorien. Gleiches gilt für eine politische Gemeinschaft wie die EU, die von der Verfassungssubstanz ihrer integrierten Mitgliedstaaten lebt, dank der Integrationsdynamik zugleich aber eine eigeneVerfassungssubstanz jenseits von Staatlichkeit schafft. Dieses Zugleich verweist auf eine Komplexität ordnungsbildender Strukturen, die sich deskriptiv leicht fassen – zu denken ist etwa an Begriffe wie Verbund, Verflechtungen, Teilordnungen oder Netzwerk – normativ aber nur schwer aufschlüsseln lassen. (…) Die Verbindungen zwischen den einzelnen grundrechtsgesicherten europäischen Verfassungsräumen erfolgen also durch Öffnung, kritische Rezeption des jeweils anderen Standards, aber auch schonende Rücknahme des eigenen Kontrollanspruchs. Öffnung, Rezeption und Rücknahme aber wirken reziprok. So müssen sich nicht nur die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen europarechtsfreundlich dem Recht der EU und des Europarates öffnen, sondern auch umgekehrt. So müssen nicht nur die mitgliedstaatlichen Verfassungsgerichte die grundrechtlichen Schutzstandards von EuGH und EGMR rezipieren, sondern auch vice versa. So müssen nicht nur mitgliedstaatliche Gerichte ihren Kontrollanspruch zurücknehmen, sondern auch der EuGH (etwa durch eine restriktive Handhabung der Kompetenzen) und der EGMR (etwa durch hinreichenden Respekt vor dem Beurteilungsspielraum der Vertragsstaaten – margin of appreciation). (…) Die Wissenschaft bleibt aufgerufen, die Fragen wechselseitiger Rezeption immer neu zu bearbeiten und so ein für die Praxis ergiebiges Theoriereservoir vorzuhalten. Eine Verengung des Diskurses auf die Frage nach Letztentscheidungskompetenzen wäre mehr als unergiebig. Das Gemeineuropäische dürfen die europäischen Verfassungsrichter an den nationalen Verfassungsgerichten, an EuGH und EGMR nicht aus den Augen verlieren. Sie müssen immer über den eigenen Rechtskreis hinausdenken und die Folgen für die anderen Rechtskreise bedenken. Es gibt zwar keine europäische staatliche Finalität, wohl aber einen gesamteuropäischen verfassungsrichterlichen Imperativ „et respice finem“.» (Seite 105)

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Straßburg, hält GPS-Überwachung (Global Position System) in Ermittlungsverfahren wegen besonders schwerer Straftaten für gerechtfertigt / Uzun gegen Deutschland « Die GPS-Überwachung des Bf., die vom Generalbundesanwalt angeordnet worden war, um ein Ermittlungsverfahren wegen mehrfachen versuchten Mordes, für die eine terroristische Vereinigung die Verantwortung übernommen hatte, zu führen und weitere Sprengstoffanschläge zu verhindern, diente der nationalen oder öffentlichen Sicherheit, der Verhütung von Straftaten und dem Schutz der Rechte anderer. (…) Die GPS-Überwachung wurde jedoch über einen verhältnismäßig kurzen Zeitraum (etwa drei Monate) durchgeführt, und betraf ihn – wie die behördliche visuelle Observation – schwerpunktmäßig nur an den Wochenenden und wenn er in dem Fahrzeug des S. unterwegs war. Daher kann nicht behauptet werden, dass er total und umfassend überwacht wurde. Darüber hinaus betraf das Ermittlungsverfahren, aufgrund dessen die Überwachung vorgenommen wurde, sehr schwere Straftaten, nämlich mehrfachen versuchten Mord an Politikern und Beamten durch Sprengstoffexplosionen. Wie oben dargelegt, hatten die Untersuchung dieser Straftaten und insbesondere die Verhütung weiterer ähnlicher Taten durch Anwendung weniger einschneidender Überwachungsmethoden sich zuvor nicht als erfolgreich erwiesen. Der Gerichtshof ist daher der Auffassung, dass die GPS-Überwachung des Bf. unter den Umständen des vorliegenden Falls in Bezug auf die verfolgten legitimen Ziele verhältnismäßig und damit i.S.d. Art. 8 Abs. 2 „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ war.» (Seite 115)

EGMR wertet Versagung des Umgangsrechts eines biologischen Vaters (Nigerianer) mit seinen, mit einer verheirateten Frau (Deutsche) gezeugten und in deren Familie lebenden, Kindern (Zwillige) als Verletzung seines Rechts auf Achtung seines Privatlebens / Anayo gegen Deutschland «Der Gerichtshof weist ferner erneut darauf hin, dass Art. 8 nicht nur das „Familienleben“, sondern auch das „Privatleben“ schützt. Traditionell haben die Konventionsorgane die Auffassung vertreten, dass enge Beziehungen, bei denen es sich nicht um „Familienleben“ handelt, grundsätzlich unter den Aspekt des „Privatlebens“ fallen (…). Im Zusammenhang mit Verfahren über die Feststellung oder Anfechtung der Vaterschaft hat der Gerichtshof daher festgestellt, dass die Feststellung der rechtlichen Beziehung eines Mannes mit seinem rechtlichen oder vermeintlichen Kind zwar sein „Familienleben“ betreffen könnte, dieser Punkt aber offen bleiben kann, weil die Sache zweifelsohne das Privatleben dieses Mannes nach Art. 8 betrifft, das wichtige Aspekte der persönlichen Identität umfasst. (…) In diesem Zusammenhang möchte er erneut darauf hinweisen, dass es Aufgabe der innerstaatlichen Gerichte, die den Vorteil des unmittelbaren Kontakts zu allen betroffenen Personen haben, ist, in Ausübung ihres Ermessens festzustellen, ob der Umgang zwischen einem biologischen Vater und seinen Kindern dem Wohl der Kinder dient. In der vorliegenden Rechtssache hat das Oberlandesgericht jedoch überhaupt nicht geprüft, ob der Umgang zwischen den Zwillingen und dem Bf. unter den besonderen Umständen des Falls dem Wohl der Kinder dienen würde. Unter Berücksichtigung der vorstehendenAusführungen kommt der Gerichtshof zu dem Schluss, dass die Gründe, welche die innerstaatlichenGerichte für die Versagung desUmgangs des Bf.mit seinenKindern angeführt haben, nicht „hinreichend“ i.S.v.Art. 8Abs. 2 waren.Mithin war der Eingriff «in einer demokratischen Gesellschaft nicht notwendig». (Seite 124)

Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH), Luxemburg, unterbindet mit einer Übergangsfrist Frauen diskriminierende Versicherungsprämien / Rs. Association belge des Consommateurs Test-Achats ASBL u.a. Auf Vorlage des belgischen Verfassungsgerichtshofs erklärt der EuGH Art. 5 Abs. 2 RL 2004/113/EG per 21. Dezember 2012 für ungültig. Der EuGH beanstandet: «Eine solche Bestimmung, die es den betreffenden Mitgliedstaaten gestattet, eine Ausnahme von der Regel geschlechtsneutraler Prämien und Leistungen unbefristet aufrechtzuerhalten, läuft der Verwirklichung des mit der Richtlinie 2004/113 verfolgten Ziels der Gleichbehandlung von Frauen und Männern zuwider und ist mit den Art. 21 und 23 der Charta unvereinbar. Die Bestimmung ist daher nach Ablauf einer angemessenen Übergangszeit als ungültig anzusehen.» (Seite 132)

EuGH erklärt geplantes Patentgericht (PG) für europäische Patente und Gemeinschaftspatente wegen Eingriffs in die Autonomie der EU-Rechtsordnung für unvereinbar mit EUV und AEUV / Gutachten 1/09 «Was die charakteristischen Merkmale des PG anbelangt, ist zunächst darauf hinzuweisen, dass dieses Gericht außerhalb des institutionellen und gerichtlichen Rahmens der Union steht. Es ist nämlich nicht Teil des in Art. 19 Abs. 1 EUV vorgesehenen Gerichtssystems. Das PG ist eine Einrichtung, die kraft Völkerrechts mit eigener Rechtspersönlichkeit ausgestattet ist. (…) Folglich würde das geplante Übereinkommen, indem es einem außerhalb des institutionellen und gerichtlichen Rahmens der Union stehenden internationalen Gericht eine ausschließliche Zuständigkeit für die Entscheidung über eine beträchtliche Zahl von Klagen Einzelner im Zusammenhang mit dem Gemeinschaftspatent und zur Auslegung und Anwendung des Unionsrechts in diesem Bereich übertragen würde, den Gerichten der Mitgliedstaaten ihre Zuständigkeiten zur Auslegung und Anwendung des Unionsrechts sowie dem Gerichtshof seine Zuständigkeit, auf die von diesen Gerichten zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen zu antworten, nehmen und damit die Zuständigkeiten verfälschen, die die Verträge den Unionsorganen und den Mitgliedstaaten zuweisen und die für die Wahrung der Natur des Unionsrechts wesentlich sind.» (Seite 135)

EuGH bestätigt für drittstaatsangehörige (kolumbianische) Eltern ein von ihren (wegen ihrer Geburt in Belgien) mit belgischer und demzufolge auch Unionsbürgerschaft ausgestatteten minderjährigen Kindern abgeleitetes Aufenthaltsrecht / Rs. Ruiz Zambrano «Art. 20 AEUV ist dahin auszulegen, dass er es einem Mitgliedstaat verwehrt, einem Drittstaatsangehörigen, der seinen minderjährigen Kindern, die Unionsbürger sind, Unterhalt gewährt, zum einen den Aufenthalt imWohnsitzmitgliedstaat der Kinder, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen, zu verweigern und ihm zum anderen eine Arbeitserlaubnis zu verweigern, da derartige Entscheidungen diesen Kindern den tatsächlichen Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihnen der Unionsbürgerstatus verleiht, verwehren würde.» (Seite 142)

Schweizerisches Bundesgericht (BGer), Lausanne, definiert Grenze zwischen dem Schutz der Privatsphäre eines Versicherten gegen Observation durch einen Privatdetektiv und dem Rechtfertigungsgrund des Interesses an der Verhinderung von Versicherungsbetrug «In tatsächlicher Hinsicht steht für das Bundesgericht verbindlich fest, dass Alltagsverrichtungen des Beschwerdeführers wie Einkaufen oder Autowaschen u.Ä. aufgezeichnet wurden. Gegenteiliges behauptet auch der Beschwerdeführer nicht. Es kann ergänzend auf die Feststellungen im Haftpflichtprozess verwiesen werden, wonach die Videoaufnahmen und der dazugehörige Überwachungsbericht belegten, wie der Beschwerdeführer ohne grössere Bewegungseinschränkungen Lasten tragen, einkaufen, Staub saugen sowie Auto waschen und polieren konnte.» (Seite 146)

Österreichischer Verfassungsgerichtshof (VfGH), Wien, hebt erstmals Rücküberstellung von Asylwerbern nach Griechenland als verfassungswidrig auf Bf. sind eine aus Afghanistan über Griechenland illegal nach Österreich eingereiste Frau und ihre zwei minderjährigen Kinder. Der VfGH stellt fest: «Für den Verfassungsgerichtshof ergibt sich somit das Bild, dass es bei Rücküberstellung schutzwürdiger Personen nach Griechenland zur Durchführung der Asylverfahren grundsätzlich zwar die Möglichkeit staatlicher Versorgung gibt, jedoch ohne fallbezogene individuelle Zusicherung der zuständigen Behörden davon nicht automatisch ausgegangen werden kann. Wenn sich der Asylgerichtshof im Fall der Beschwerdeführer allein mit generellen Auskünften begnügt, ersetzt dies nicht eine individualisierte Versorgungszusage durch griechische Behörden, wie dies im Lichte des Art. 3 EMRK für besonders schutzwürdige Personen jedoch geboten ist. Dadurch, dass der Asylgerichtshof diese, zur Beurteilung der Frage, ob Österreich zum Selbsteintritt gemäß Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO verpflichtet wäre, unabdingbare Prämisse nicht hinreichend bzw. zutreffend gewürdigt hat, wurden die Beschwerdeführer in ihrem Recht gemäß Art. 3 EMRK verletzt.» (Seite 150)

Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, bestimmt Reichweite und Grenzen der Demonstrationsfreiheit im allgemein zugänglichen Bereich eines Flughafens Zugleich stellt der Erste Senat am Beispiel des Flughafens Frankfurt am Main in seinem Urteil fest: «Von der öffentlichen Hand beherrschte gemischtwirtschaftliche Unternehmen in Privatrechtsform unterliegen ebenso wie im Alleineigentum des Staates stehende öffentliche Unternehmen, die in den Formen des Privatrechts organisiert sind, einer unmittelbaren Grundrechtsbindung. » Zur Demonstrationsfreiheit wird ausgeführt: «Die besondere Störanfälligkeit eines Flughafens rechtfertigt nach Maßgabe der Verhältnismäßigkeit weitergehende Einschränkungen der Versammlungsfreiheit, als sie im öffentlichen Straßenraum zulässig sind. (…) Das Begehren der Beschwerdeführerin, im Frankfurter Flughafen Versammlungen durchzuführen, fällt nicht schon aus dem Schutzbereich der Versammlungsfreiheit heraus. Der Frankfurter Flughafen ist in wesentlichen Bereichen als Ort allgemeinen kommunikativen Verkehrs ausgestaltet. Zwar gilt dies nicht für den gesamten Flughafen. So ist eine Berufung auf die Versammlungsfreiheit für die Sicherheitsbereiche, die nicht allgemein zugänglich sind, ebenso ausgeschlossen wie für solche Bereiche, die nur bestimmten Funktionen (zum Beispiel der Gepäckausgabe) dienen. Jedoch umfasst der Flughafen auch große Bereiche, die als Orte des Flanierens und des Gesprächs, als Wege zum Einkaufen und zu Gastronomiebetrieben ausgestaltet sind und hierfür einen allgemeinen Verkehr eröffnen. Unter der Rubrik „Einkaufen und Erleben“ wirbt die Beklagte, die sich als „City in the City“ versteht, im Internet: „Airport Shopping für alle!“, „Auf 4.000 Quadratmetern zeigt sich der neue Marktplatz in neuem Gewand und freut sich auf Ihren Besuch!“. Hier sind ersichtlich Orte als allgemein zugängliche öffentliche Foren ausgestaltet, deren Verkehrsflächen Versammlungen damit grundsätzlich offenstehen.» (Seite 152)

Richter Schluckebier argumentiert in seiner abweichenden Meinung: «Die Ausdehnung des Schutzbereichs des Grundrechts der Versammlungsfreiheit in die Abfertigungshallen des Flughafengebäudes des Frankfurter Flughafens hinein als einem öffentlichen Forum überzeugt nicht. Bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung zu Art. 8 GG berücksichtigt der Senat die Besonderheiten der räumlichen Enge und der Betriebsamkeit eines internationalen Großflughafens in seiner vielfältigen Fragilität sowie das dort weitgehend unausweichliche Betroffensein einer ganz außergewöhnlich großen Zahl anderer Grundrechtsträger nicht angemessen. Er gewichtet diese Umstände nicht realitätsgerecht.» (Seite 164)

BVerfG erklärt die neue scheidungsrechtliche Berechnungsmethode des BGH zur Feststellung des nachehelichen Unterhaltsbedarfs für verfassungswidrig «Die zur Auslegung des § 1578 Abs. 1 Satz 1 BGB entwickelte Rechtsprechung zu den „wandelbaren ehelichen Lebensverhältnissen“ unter Anwendung der Berechnungsmethode der sogenannten Dreiteilung löst sich von dem Konzept des Gesetzgebers zur Berechnung des nachehelichen Unterhalts und ersetzt es durch ein eigenes Modell. Mit diesem Systemwechsel überschreitet sie die Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung und verletzt Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG). (…) Konsequenz dieser Rechtsprechung ist, dass der geschiedene Ehegatte infolge der neuen Bedarfsermittlungsmethode regelmäßig weniger, selten dasselbe, nie aber mehr erhält als im Wege einer nach den ehelichen Lebensverhältnissen bestimmten Berechnung. Umgekehrt verbleibt dem Unterhaltspflichtigen nach dieser Berechnungsmethode regelmäßig mehr, selten dasselbe und nie weniger als nach der an den ehelichen Lebensverhältnissen gemäß § 1578 Abs. 1 Satz 1 BGB orientierten Berechnungsmethode. Gleiches gilt im Verhältnis einander nachfolgender unterhaltsberechtigter Ehegatten. Die Dreiteilungsmethode gesteht auch ihnen nur solange gleiche Anteile am Gesamteinkommen zu, wie sich dies zulasten des geschiedenen Ehegatten auswirkt. » (Seite 167)

BVerfG spricht nach Erledingserklärung einer Verfassungsbeschwerde wegen überlanger Verfahrensdauer teilweise Auslagenerstattung (drei Viertel) zu Im konkreten Fall war das Sächsische Oberverwaltungsgericht nach Erhebung und Zustellung der Verfassungsbeschwerde tätig geworden und hatte über den Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz entschieden. Daraus schließt die 1. Kammer des Ersten Senats: «Ein derartiger Verfahrensablauf liefert aber ein gewisses Indiz dafür, dass das Gericht die mit der Verfassungsbeschwerde erhobene Rüge einer überlangen Verfahrensdauer nicht als völlig aus der Luft gegriffen eingeschätzt und sich jedenfalls zu der Sachentscheidung in der Lage gesehen hat. Vor diesem Hintergrund ist es angemessen, die Erstattung von drei Vierteln der den Beschwerdeführern entstandenen Kosten anzuordnen.» (Seite 176)

BVerfG bekräftigt Anspruch auf Prozesskostenhilfe für Amtshaftungsklage (gegen Nordrhein-Westfalen) wegen menschenunwürdiger Haftbedingungen Konkret geht es um die sanitären Bedingungen in zu kleinen mehrfach belegten Hafträumen. Die 1. Kammer des Ersten Senats stellt fest: «Es läuft dem Gebot der Rechtsschutzgleichheit zuwider, wenn ein Fachgericht § 114 Satz 1 ZPO dahin auslegt, dass auch schwierige, noch nicht geklärte Rechtsfragen im Prozesskostenhilfeverfahren „durchentschieden“ werden können (…). Dem Gebot der Rechtsschutzgleichheit widerstrebt es daher, wenn ein Fachgericht § 114 Satz 1 ZPO dahin auslegt, dass es eine entscheidungserhebliche Rechtsfrage, obwohl dies erheblichen Zweifeln begegnet, als einfach oder geklärt ansieht und sie deswegen bereits im Verfahren der Prozesskostenhilfe zum Nachteil des Unbemittelten beantwortet (…). Ein solcher Verstoß ist erst recht anzunehmen, wenn das Fachgericht bei der Beurteilung der Erfolgsaussichten der beabsichtigten Rechtsverfolgung in einer entscheidungserheblichen Rechtsfrage von der Auffassung der höchstrichterlichen Rechtsprechung und der herrschenden Meinung in der Literatur abweicht (…) Gemessen an diesen Grundsätzen hält die angegriffene, Prozesskostenhilfe vollumfänglich versagende Entscheidung des Landgerichts [Köln] einer Überprüfung anhand von Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG nicht stand.» Denn: «Als Faktoren, die eine aus den räumlichen Haftbedingungen resultierende Verletzung derMenschenwürde indizieren, kommen in erster Linie die Bodenfläche pro Gefangenen und die Situation der sanitären Anlagen, namentlich die Abtrennung und Belüftung der Toilette, in Betracht, wobei als ein die Haftsituation abmildernder Faktor die Verkürzung der täglichen Einschlusszeiten berücksichtigt werden kann.» (Seite 177)

BVerfG sieht kein Beweisverwertungsverbot von polizeilich angeordneten Blutproben zum Nachweis einer Trunkenheitsfahrt Im konkreten Fall geht es um zwei Radfahrer mit 2,07 bzw. 2,78 Promille. Ein willkürlicher Verstoß gegen den Richtervorbehalt des § 81a Abs. 2 StPO liegt nicht vor. (Seite 183)

BVerfG stuft Strafverfolgung von Auslandstaten (Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen in Ruanda), die unter das Völkerstrafgesetzbuch fallen, durch die deutsche Justiz nicht als zwingend ein / Zuständigkeit des IStGH Der Bf. versucht mit seiner Verfassungsbeschwerde einem Verfahren vor dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) zu entgehen. Es handelt sich um einen in Frankreich lebenden Staatsangehörigen von Ruanda, der auf der Grundlage eines Haftbefehls der Vorverfahrenskammer des IStGH in französische Auslieferungshaft genommen worden war. Die Verfassungsbeschwerde richtet sich dagegen, dass der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof, der ebenfalls ein Ermittlungsverfahren eingeleitet hatte, im Hinblick auf das Verfahren vor dem IStGH von der Strafverfolgung abgesehen hatte. Das BVerfG stellt fest: «Im Lichte des in § 1 VStGB [Völkerstrafgesetzbuch vom 26. Juni 2002] verankerten Weltrechtsprinzips ist grundsätzlich davon auszugehen, dass für alle Straftaten nach dem Völkerstrafgesetzbuch unabhängig von Tatort und Nationalität der beteiligten Personen die deutsche Justiz zuständig und die Staatsanwaltschaft nach dem Legalitätsprinzip zum Einschreiten verpflichtet ist. Bei Fällen, die dem Weltrechtsprinzip unterliegen, besteht jedoch eine „gestufte Zuständigkeitspriorität“ (…). Primär sind zur Verfolgung der Tatortstaat und der Heimatstaat von Täter oder Opfer, sekundär der Internationale Strafgerichtshof und gegebenenfalls sonstige internationale Strafgerichte und tertiär die nach demWeltrechtsprinzip vorgehenden Drittstaaten berufen. Darüber hinaus soll eine Überlastung der deutschen Ermittlungsressourcen durch Fälle, die keinen Bezug zuDeutschland aufweisen, vermieden werden (…). Auf dieser Grundlage erlaubt § 153f StPO die Ermessensausübung in zwei Richtungen. Für Fälle mit Inlandsbezug, das heißt wenn der Beschuldigte sich im Inland aufhält und/oder Deutscher ist, ergibt sich im Umkehrschluss aus § 153f Abs. 1 StPO eine grundsätzliche Verfolgungspflicht. Liegt keinerlei Inlandsbezug vor (vgl. § 153c Abs. 1 Nr. 1 und 2 StPO), „kann insbesondere“ von der Strafverfolgung abgesehen werden, sofern ein internationales Gericht oder der Tatort- oder Heimatstaat von Täter oder Opfer die Verfolgung übernimmt (§ 153f Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 StPO).»(Seite 186)

Parlamentarische Versammlung des Europarats, StraßburgPaulo Pinto de Albuquerque zum neuen portugiesischen Richter per 1. April 2011 als Nachfolger von Ireneu Cabral Barreto gewählt. Zwei Anläufe zur Wahl wegen Zurückweisung der ersten Kandidaten-Liste. (Seite 187)

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