EuGRZ 2014 |
14. März 2014
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41. Jg. Heft 1-5
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Informatorische Zusammenfassung
Jörg Paul Müller wurde aus Anlass seines 75. Geburtstags mit einem Symposium an der Universität Bern geehrt
„Dialog über die Grenzen“ – unter diesem Titel hatte Thomas Cottier, Direktor des Instituts für Europa- und Wirtschaftsvölkerrecht und des World Trade Institute an der Universität Bern, eingeladen.
Stephan Wolf, Dekan der Rechtswissenschaftlichen Fakultät, Ordinarius für Privatrecht, erinnert in seiner Begrüßung an besondere Qualitäten des Geehrten als akademischer Lehrer
«In den Jahren nach 1980 war ich selber Student bei Jörg Paul Müller. Die Lektüre der klassischen Lehrbücher „Elemente einer schweizerischen Grundrechtstheorie“ und „Grundrechte Besonderer Teil“ hat uns damalige Studierende didaktisch vorzüglich in die Materie einzuweihen vermocht. Und ebenso vorzüglich und auch nachhaltig war der Unterricht bei Jörg. Der Jubilar hat uns gelehrt, die Dinge vorurteilslos anzugehen, dann aber auch kritisch zu hinterfragen, von allen Seiten zu betrachten und bis auf den Grund zu klären. Unvergesslich und typisch für das Denken und die Vorgehensweise des Jubilars bleibt für mich seine Reaktion auf die Frage eines Studenten. Jörg hat damals zum Studenten gesagt: „Ich stelle mir die Frage schon lange, aber ich weiss die Antwort nicht.“ Diese Haltung ist mir geblieben. Und es ist das nach meinem Dafürhalten die zutreffende, ureigentliche Haltung eines vorurteilsfrei nach dem Richtigen und Gerechten suchenden Wissenschaftlers, wie sie gerade und besonders auch für uns Juristen wegleitend sein soll.» (Seite 1)
Thomas Cottier vergegenwärtigt in seiner „Einleitung zum Symposium für Jörg Paul Müller“ die historische Entwicklung von den Grenzen zum zwischenstaatlichen Dialog
«Gehalt und Konturen der Individualrechte liessen sich nur durch Rekurs auf die gemeinsamen natur- und vernunftrechtlichen Grundlagen entwickeln. Dies setzte notwendigerweise einen weiten Blick über die staatlichen Grenzen voraus, sowohl in der Ausbildung wie in der Praxis. Diese Entwicklung wurde verstärkt durch die einsetzende Universalität der Menschenrechte auf völkerrechtlicher Ebene. Über die tradierten Kategorien des diplomatischen Schutzes hinaus wurde die Behandlung eigener Staatsangehöriger durch die Staaten zum Common Concern, der notwendigerweise nach Dialog und Diskurs rief und noch heute die Debatte um die Universalität der Menschenrechte, aber auch deren Funktionen gegen Staatsversagen und Machtmissbrauch in Europa beherrscht. (...)
Dialog über die Grenzen prägt das Wirken und Werk von Jörg Paul Müller in dieser Zeit des Umbruchs. Dialog und Diskurs sind ihm bestimmend. Er und seine Generation bewegten sich im Spannungsfeld der vorgenannten Entwicklungen. Der nationalstaatliche Rahmen bildete den wesentlichen Ausgangspunkt. Er stand lange im Mittelpunkt, begleitet vom überdachenden Völkerrecht und der Rechtsvergleichung im Verfassungsrecht. Die Leidenschaft Jörg Paul Müllers gilt den Grundrechten und der Demokratie. Das Völkerrecht und die Staatsphilosophie, und vor allem Kant, öffneten seinen Blick im Zuge von Globalisierung und Integration schrittweise über die Nationalstaatlichkeit hinaus, zurück auf die Universalität des Rechts. (...)
Diskurs und Dialog bedingen aber auch Standpunkte und damit Abgrenzung. Wortwörtlich befasste sich Jörg Paul Müller mit Grenzziehungen als Referent in der Grenzstreitigkeit der Kantone Wallis und Tessin am Nufenenpass, mit dem auch über die völkerrechtliche Analogie Elemente des common law (estoppel) Eingang in das Bundesstaatsrecht fanden. Weit häufiger aber sind seine Grenzziehungen indirekt und immer nuanciert, zwischen Rechtssicherheit und Vertrauensschutz, zwischen Individualrechten und öffentlichen Interessen in der Grundrechtsabwägung, und in der Frage, welche Grenzen nicht überschritten werden dürfen durch die plebiszitäre majoritäre direkte Demokratie im Verfassungsstaat der Schweiz und seinem Verhältnis zum Völkerrecht. Grenzen ziehen heisst auch entscheiden und dabei einen klaren Standpunkt einnehmen; auch das ist ein Merkmal von Jörg Paul Müller. Immer wieder nimmt er Stellung zugunsten von Minoritäten, die auf Schutz durch Grundrechte vital angewiesen sind. In einem Land, das zur Verabsolutierung direkter Demokratie und der Volkssouveränität neigt, ist das auch ein Zeichen des Mutes und der Zivilcourage im besten Sinne. Seine Stimme hat Autorität.» (Seite 2)
Maya Hertig Randall widmet sich dem Thema „Der grundrechtliche Dialog der Gerichte in Europa“
«Die zwischengerichtliche Diskussion zeigt, dass sich Gerichte zunehmend auch als Teil einer transnationalen Wertegemeinschaft verstehen. Diese kosmopolitische Denkweise sieht die Grundrechte nicht primär als Ausdruck der nationalen Identität, sondern als eine Antwort auf Unrechtserfahrungen, die „sich in das Gedächtnis der Menschheit eingegraben haben“.
Der horizontale Dialog der Gerichte steht somit im Dienste der Universalität der Menschenrechte. Er bietet einen fruchtbaren Boden für einen konstruktiven semi-vertikalen Dialog, wie ihn in Europa der EGMR und der EuGH mit den Mitgliedstaaten des Europarats, bzw. der EU, führen. Der freiwillige Dialog zwischen nationalen Verfassungsgerichten kann ein gemeinsames Fundament (in der Form von „gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten“ [EU] oder eines „europäischen Konsenses“ [EMRK]) für die internationale Menschenrechtsprechung schaffen. (...)
Während die Steigerung der „persuasive authority“ den wichtigsten Anreiz für den horizontalen Dialog liefert, zeigt der semi-vertikale Dialog aus der Sicht der betroffenen Akteure einen Mittelweg auf zwischen den beiden Polen des „gouvernement des juges“, einerseits, und eines „Kriegs der Gerichte“, andererseits. (...)
Nebst dem Streben nach Kohärenz dient der Dialog der Machtbeschränkung und relativiert Befürchtungen einer Tyrannei überstaatlicher Gerichte. Der verbale Austausch des EGMR mit den höchsten Gerichten Deutschlands und des Vereinigten Königreichs liefert gute Anhaltspunkte, wonach sich die Rechtsprechung des Strassburger Gerichtshofs nicht auf einen „präskriptiven Monolog“ reduzieren lässt. Er charakterisiert sich vielmehr als ein zur Annäherung der gegenseitigen Standpunkte hin tendierender Prozess der Rechtsgewinnung.» (Seite 5)
Lorenz Meyer konturiert „Die internationalen Beziehungen des Schweizerischen Bundesgerichts“
«Das Bundesgericht legt das Schwergewicht seiner internationalen Beziehungen auf die Nachbarländer. (...)Zweite Priorität haben die Beziehungen zum übrigen Europa. (...) Von besonderer Bedeutung ist die Beziehung zu den beiden grossen europäischen Gerichten, nämlich dem EGMR in Strassburg und dem EuGH in Luxemburg, welche das Bundesgericht bilateral oder im Rahmen des sog. Sechsertreffens pflegt.»
Der vormalige Präsident des Schweizerischen Bundesgerichts hält sodann fest: «Der Siegeszug der Grundrechte ist in Westeuropa aber derart durchschlagend, dass in jüngerer Zeit ihre Grenzen zunehmend ausgedehnt und damit verwischt werden. Werden Grundrechte von den Bürgerinnen und Bürgern nicht ohne Weiteres als solche erkannt, verlieren sie auf Dauer ihre Autorität. Auch besonnene Richter in Strassburg mahnen deshalb die Einhaltung der Grenzen an und verweisen auf den erforderlichen Gestaltungsraum der politischen Behörden und der nationalen Gerichte. Der EGMR hat die Grenzen der Grundrechte nach verbreiteter Meinung am Bundesgericht wiederholt überschritten, was in den zahlreichen Treffen mit den Kollegen in Strassburg immer wieder thematisiert wurde. (...) Es wäre bedauerlich, wenn der EGMR durch eine ausufernde Rechtsprechung die innere Autorität der Menschenrechte beschädigen, den Entscheidungsraum der politischen Behörden übermässig einschränken und die grossen und wichtigen Errungenschaften der letzten Jahrzehnte im Bereich der Menschenrechte damit langfristig gefährden würde.» (Seite 19)
Andreas Zünd schärft den Blick auf „Das Schweizerische Bundesgericht im Dialog mit dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte“
Der Beitrag vertieft eine Hauptthese und drei Nebenthesen: «Hauptthese: Der EGMR und die nationalen Höchstgerichte haben gemeinsam die Aufgabe, den Grundrechten in Europa zum Durchbruch zu verhelfen. Diese gemeinsame Aufgabe können sie nur erfüllen, wenn sie kooperieren. Dieses Kooperieren beruht aber auf folgenden Voraussetzungen (Nebenthesen): a) Die nationalen Höchstgerichte, so auch das Bundesgericht, müssen akzeptieren, dass das letzte Wort in der Auslegung der Konvention dem EGMR zusteht. b) Die Übersetzung und Einfügung der menschenrechtlichen Anforderungen in das nationale Recht ist Aufgabe der nationalen Höchstgerichte. c) Daher darf der EGMR prozessual die Höchstgerichte nicht umgehen, und er muss ihnen materiell einen Beurteilungsspielraum lassen.»
Der Präsident der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung des Schweizerischen Bundesgerichts führt aus: «Für das Bundesgericht bedeutet dies vorweg, dass es sich für die Verwirklichung der Konventionsrechte für zuständig erachtet, der Konventionsrechte, die zugleich Grundrechte unserer Bundesverfassung sind: Eine Selbstverständlichkeit! Oder doch nicht? Bekanntlich ist das Bundesgericht an die Bundesgesetze gebunden; es ist insoweit nicht Verfassungsgericht, aber es ist, da es auch an das Völkerrecht gebunden ist, zu welchem die EMRK gehört, Menschenrechtsgericht. Nun könnte man diesen Konflikt, einerseits an die Bundesgesetze und andererseits an die EMRK gebunden zu sein, dahin auflösen, dass das Bundesgericht grösstmögliche Zurückhaltung übt, was bedeuten würde, dass es die Bundesgesetze anwendet, ohne sie im konkreten Anwendungsfall auf die Vereinbarkeit mit dem EMRK zu überprüfen bis die Schweiz in Strassburg verurteilt wird.
Die defensive Haltung ist bequem, weil sich das Bundesgericht in unserem Land keinerlei politischer Kritik aussetzt. (...) Die defensive Haltung beruht auf der Auffassung, dass Richter für die Verwirklichung der Grund- und Menschenrechte eigentlich gar nicht zuständig sind. Und sie vergibt Chancen, nämlich die Chance an der Konkretisierung der Menschenrechte mitzuwirken, die Sichtweise des schweizerischen Richters, seine Erfahrung im Umgang mit den Gesetzen und der Rechtswirklichkeit in unserem Land einzubringen. Sie verweigert den Dialog mit den Strassburger Richtern und hat zur Folge, dass die Konkretisierung der Menschenrechte für die Schweiz nicht in Lausanne, sondern in Strassburg erfolgt. (...)
Begreift das Bundesgericht sich aber als eine Institution, die an der Verwirklichung der Menschenrechte in Europa teilhat, so nimmt es nicht nur die ihm als nationalem Höchstgericht für die Schweiz durch die EMRK zugewiesene Aufgabe wahr, es kann überdies an der Gestaltung der europäischen Menschenrechtsordnung mitwirken. Seine Auffassung mag im besten Fall gar auf die europäische Menschenrechtsordnung insgesamt ausstrahlen.
Tatsächlich bewegt sich das Bundesgericht im Spannungsfeld zwischen Verweigerung und effektiver Wahrnehmung der Funktion, Menschenrechtsgericht für die Schweiz zu sein. Es gibt Beispiele für beides.» (Seite 21)
Christoph Lanz würdigt „Die internationalen Beziehungen der Bundesversammlung“
Der vormalige Generalsekretär der schweizerischen Bundesversammlung zieht folgendes Fazit:
«– Das Parlament befasst sich früher und intensiver mit aussenpolitischen Fragen.
– Es beharrt gegenüber dem Bundesrat auf seinen Informations- und Konsultationsrechten. Das führt zu einem intensiveren Dialog zwischen Parlament und Bundesrat in aussenpolitischen Fragen.
– Nur selten findet sich in den Aussenpolitischen Kommissionen eine Mehrheit, die vom vorgesehenen Verhandlungsmandat des Bundesrates abweichen will. Das zeigt, dass der Bundesrat das Parlament überzeugen kann und sich das Parlament überzeugen lässt. Jedenfalls kann von einer Blockade keine Rede sein, die teilweise befürchtet wurde, bevor das Konsultationsrecht eingeführt wurde.
– Der Dialog des Parlaments mit Vertretern anderer Parlamente in Parlamentarischen Versammlungen ist regelmässig und zunehmend. Die Schweizer Parlamentarierinnen und Parlamentarier engagieren sich sehr stark, was neben ihrer sonstigen Beanspruchung durch das Parlamentsmandat und teilweise ihren Beruf nicht selbstverständlich ist.
– Kritisch zu bewerten ist die Rückkoppelung. Es gelingt noch zu wenig, die internationalen Aktivitäten der parlamentarischen Organe und der Ratsmitglieder in der Bundesversammlung selbst, aber auch in der Öffentlichkeit deutlich zu machen. Gerade im Blick auf die aktuellen Herausforderungen in der Europapolitik wären eine bessere Vernetzung und ein vertiefter interner Dialog von grosser Bedeutung.» (Seite 26)
Giovanni Biaggini fügt als Postskriptum „Einige Gedanken zum interjudikativen Dialog aus rechtswissenschaftlicher Sicht“ an
«Dass in Zeiten der Europäisierung und Internationalisierung des Rechts die Gerichte – insbesondere oberste nationale Instanzen, EGMR, EuGH – in einen grenzüberschreitenden Dialog treten, ist heute derart selbstverständlich, dass man leicht vergisst, wie voraussetzungsreich es ist, diesen Dialog zu führen. So setzt die Verständigung „über die Grenzen“ hinweg ein gemeinsames Vokabular voraus, das nicht einfach anwendungsbereit vorliegt, sondern geschaffen und gepflegt werden muss. (...)
Vor diesem Hintergrund ist es umso wichtiger, die genuin europäische Dimension und Perspektive, welche Gerichten wie dem EGMR oder dem EuGH zu eigen ist, nicht aus den Augen zuverlieren. Eine in erster Linie durch die „nationale Brille“ blickende Rechtslehre kann diesbezüglich einiges vom grenzüberschreitenden interjudikativen Dialog lernen. (...)
Einer kritischen Betrachtung bedarf weiter auch der Begriff des „europäischen Verfassungsgerichtsverbunds“, der in der Diskussion allmählich Fuss zu fassen beginnt. (...)
Denn die Betonung des Begriffs „Verfassungsgerichtsverbund“ birgt die Gefahr, dass man über kurz oder lang das Modell des spezialisierten Verfassungsgerichts für „alternativlos“ zu halten beginnt, obwohl dieses Modell durchaus problematische Seiten aufweist. Es droht über kurz oder lang aus dem Blickfeld zu geraten, dass bei der Fortentwicklung der europäischen Justizarchitektur mit dem „Supreme Court“-Modell eine interessante und gerade mit Blick auf Europäisierungs- bzw. Internationalisierungsprozesse leistungsfähige Alternative existiert, wie das Beispiel des Schweizerischen Bundesgerichts zeigt. Denn trotz gelegentlicher Spannungen tut sich das Bundesgericht insgesamt viel weniger schwer mit der Einordnung in die europäische Rechts- und Justizarchitektur als manch heutiges nationales Verfassungsgericht. Dies dürfte auch damit zusammenhängen, dass das Bundesgericht als Instanz mit Rechtsprechungszuständigkeiten in prinzipiell allen Rechtsgebieten (inkl. internationales Recht) sich nicht gezwungen sieht, alles ausschliesslich durch die Brille des Verfassungsrechts zu betrachten, wie dies bei einem spezialisierten Verfassungsgericht fast unausweichlich der Fall ist. Namentlich braucht das Bundesgericht nicht aus allem eine Verfassungsfrage zu machen, um die Frage überhaupt beurteilen und entscheiden zu können. Zudem muss es seine Aufmerksamkeit stets auch auf die Wahrung der Einheit des Rechts richten, womit ein gesamtheitliches Denken gefordert ist – Harmonisierung, nicht Konfrontation – gerade auch im Verhältnis zum internationalen und europäischen Recht.» (Seite 29)
An der Diskussion über die vorgetragenen Referate beteiligten sich Thomas Cottier, Helen Keller, Walter Kälin, Andreas Zünd, Maya Hertig Randall, Anne Peters, Bernhard Ehrenzeller, Stephan Breitenmoser, Paul Richli, Lorenz Meyer, Christoph Lanz und René Rhinow. (Seite 30)
Jörg Paul Müller verbindet in seinem Schlusswort den Dank an die Beteiligten des Symposiums mit einigen grundlegenden Perspektiven
«Vor einer ausufernden Rechtsprechung, die nicht mehr als Konkretisierung von Menschenrechten wahrgenommen werden kann, wird zu Recht gewarnt. Halten wir Strassburg zu Gute, dass es verglichen mit der Tradition innerstaatlicher Gerichte eine sehr junge und weltweit beispiellose Institution des Menschenrechtsschutzes ist. Der Gerichtshof ist in seiner heutigen Form 1998 entstanden als ein ständiges, ganzjährig tagendes Gericht mit hauptberuflich tätigen Richtern/Richterinnen, das als einziges Organ auch über Individualbeschwerden entscheidet, die nun alle 47 Mitgliedstaaten anerkennen müssen. (...)
Wer hat bei uns bemerkt, dass die Schweiz mit ihrer Richterstelle im EGMR schon heute und nach dem vorgesehenen Beitritt der EU zur EMRK noch verstärkt den Grundrechtsmassstab auch für die Europäische Union mitbestimmt? Wir verlieren auch gern aus dem Blick, welchen Beitrag Strassburg für die Rechtserneuerung in der Schweiz in den letzten Jahrzehnten geleistet hat, im Zivil- und Strafprozess, im Familienrecht, im Erwachsenenschutz, im Haft- und Strafvollzug, bezüglich der Unabhängigkeit der Gerichte, im Bereich der Medienfreiheit und anderer Grundrechte. Und wir vergessen unser eigenstes nationales Interesse an einem grundrechtsfreundlichen Europa. Es geht um das Schicksal und die Wohnlichkeit des Hauses, in dem auch wir leben und Gestaltungsmöglichkeiten und -pflichten haben. Es geht um Vertiefung und Festigung der Grundsätze demokratischer Verfassungsordnung in allen europäischen Staaten und Institutionen. Wir können uns weder von der europäischen Geschichte noch vom europäischen Kontinent noch von unseren Nachbarschaften verabschieden. Die Grundlagen unseres Verfassungsstaates verdanken wir nicht nur dem Rütli, sondern auch europäischer Aufklärung. Wir dürfen uns auch bei Angriffen und berechtigter Kritik nicht entfernen von einem geschichtlich bisher weltweit einmaligen rechtlichen Unternehmen des Menschenrechtschutzes wie dem EMRK-Vertragswerk, an dem wir mitgearbeitet haben, weil sich Schwierigkeiten, Mängel und Irritationen zeigen. Diesen ist nicht mit Flucht, sondern mit rationaler Kritik, aber auch mit Initiativen zur Problemlösung zu begegnen.» (Seite 37)
Die Publikationsliste Jörg Paul Müller (Auswahl) ist gegliedert in: Rechtsphilosophie, Verfassungs- und Demokratietheorie, juristische Methodenlehre, Grundrechte – allgemein, Einzelgrundrechte, Verfassungsrecht der Schweiz, Völkerrecht, Europarecht und Medienrecht. (Seite 40)
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Straßburg, sieht in der Presseveröffentlichung eines Fotos der Bf. mit ihrem Ehemann im Urlaub im Zusammenhang mit einem sachbezogenen Wortbericht (Vermietung der Ferienvilla in Kenia) keine Verletzung von Art. 8 EMRK / Caroline von Hannover gegen Deutschland
«Der Gerichtshof erinnert zunächst daran, dass der BGH nach dem Urteil des Gerichtshofs von 2004 in der Rechtssache von Hannover seine frühere Rechtsprechung geändert und der Frage besondere Bedeutung beigemessen hat, ob die streitgegenständliche Berichterstattung zu einer Sachdebatte beiträgt und ob ihr Inhalt über den bloßen Wunsch der Befriedigung der öffentlichen Neugier hinausgeht, und dass das BVerfG diese Sichtweise bestätigt hat (...).
Was die Existenz einer Diskussion von allgemeinem Interesse anbelangt, so stellt der Gerichtshof fest, dass das BVerfG der Ansicht war, dass das streitgegenständliche Foto zwar keine Informationen enthielt, die im Zusammenhang mit einem zeitgeschichtlichen Ereignis stehen und somit nicht zu einer Diskussion von allgemeinem Interesse beitragen würde, dies jedoch auf die Berichterstattung nicht zutreffe, in der von einer geänderten Verhaltensweise Prominenter die Rede ist, ihre Ferienwohnungen zu vermieten.» (Seite 43)
Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH), Luxemburg, klärt Grenze der innerstaatlichen Reichweite der Grundrechte-Charta / Rs. Association de médiation sociale
Art. 27 GRCh betrifft Arbeitnehmerrechte. Der EuGH kommt zu dem Ergebnis, dass in einem Rechtsstreit zwischen Privaten (hier: Arbeitgeber und Gewerkschaft) die Unionsrechtswidrigkeit einer nationalen (französischen) Bestimmung nicht zu deren Unanwendbarkeit führt. (Seite 49)
EuGH präzisiert Mindestnormen für die Anerkennung und den Status als Flüchtling oder den subsidiären Schutzstatus / Rs. Diakité
«Der in Art. 15 Buchst. c der Richtlinie [RL 2004/83/EG] definierte Schaden besteht in einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts.» (Seite 52)
EuGH zum Daueraufenthaltsrecht eines Drittstaatsangehörigen, der mit einer Unionsbürgerin verheiratet ist / Rs. Onuekwere
Die Zeit der Verbüßung von Freiheitsstrafen zählt nicht für Zwecke des Erwerbs des Daueraufenthaltsrechts i.S.v. Art. 16 Abs. 2 und 3 RL 2004/38/EG. (Seite 55)
Schweizerisches Bundesgericht (BGer), Lausanne, entscheidet zu staatlicher Entschädigung und Genugtuung für Asbest-Opfer bzw. dessen Hinterbliebene nach Opferhilfegesetz
Der Betroffene hatte als Schüler in den Ferien in einem Asbest verarbeitenden Betrieb gearbeitet und war im Alter von 49 Jahren an einemAsbest-typischen Krebs verstorben. Die strafrechtliche Verjährung der fahrlässigen Tötung durch die Betriebsverantwortlichen ist für die Opferstellung im Sinne des Gesetzes unbeachtlich. (Seite 59)
BGer betont Grundrechtsbindung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft (SRG) im Werbebereich
Dem Verein gegen Tierfabriken Schweiz (VgT) war die Ausstrahlung eines bezahlten Werbespots mit dem Titel „Was das Schweizer Fernsehen totschweigt“ von der SRG verweigert worden. Das BGer hingegen stellt in einem Leitsatz fest: «Die blosse Befürchtung, eine umstrittene (ideelle) Werbung könnte ihrem Ruf abträglich sein, stellt kein hinreichendes Interesse dar, die Ausstrahlung eines ihr gegenüber kritischen Werbespots zu verweigern, solange der Auftraggeber nicht selber widerrechtlich handelt.» (Seite 61)
Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, billigt großflächigen Braunkohletagebau (Garzweiler) unter strengen Voraussetzungen
In den Leitsätzen heißt es: «Nach Art. 14 Abs. 3 GG kann eine Enteignung nur durch ein hinreichend gewichtiges Gemeinwohlziel gerechtfertigt werden, dessen Bestimmung dem parlamentarischen Gesetzgeber aufgegeben ist.
Das Gesetz muss hinreichend bestimmt regeln, zu welchem Zweck, unter welchen Voraussetzungen und für welche Vorhaben enteignet werden darf. Allein die Ermächtigung zur Enteignung für „ein dem Wohl der Allgemeinheit dienendes Vorhaben“ genügt dem nicht.
Dient eine Enteignung einem Vorhaben, das ein Gemeinwohlziel im Sinne des Art. 14 Abs. 3 Satz 1 GG fördern soll, muss das enteignete Gut unverzichtbar für die Verwirklichung dieses Vorhabens sein.» (Seite 65)
BVerfG erklärt Erhebung der Filmabgabe nach dem Filmförderungsgesetz für verfassungsgemäß
Die Verfassungsbeschwerde von Kinobetreibern wird zurückgewiesen. Das von den Bf. gerügte Unterlassen des BVerwG einer Vorlage an den EuGH ist nicht zu beanstanden. (Seite 98)
EGMR-Präsident Dean Spielmann betont auf seiner Jahrespressekonferenz den Abbau des Rückstaus auf unter 100.000 anhängige Fälle durch eine verbesserte Arbeitsstruktur
Außerdem gelten gem. Art. 47 VerfO-EGMR seit 1. Januar 2014 striktere Regeln für die Einlegung einer Individualbeschwerde. (Seite 121)
EGMR stellt Beschwerde gegen flächendeckende Kontrolle elektronischer Kommunikation durch Geheimdienste der britischen Regierung zu / Big Brother Watch u.a. gegen Vereinigtes Königreich
Die vier Beschwerdeführer sind drei in London ansässige Nichtregierungsorganisationen und eine deutsche Internet-Spezialistin in Berlin, die sich allesamt aufgrund ihrer inhaltlichen Arbeit gegenwärtig und unmittelbar in ihrer durch Art. 8 EMRK geschützten Privatsphäre verletzt fühlen. (Seite 122)
EuGH-Generalanwalt Pedro Cruz Villalón schlägt dem Gerichtshof vor, die RL 2006/24/EG zur Vorratsdatenspeicherung in vollem Unfang für grundrechtswidrig zu erklären / Rs. Digital Rights Ireland und Seitlinger u.a.
Der Generalanwalt begründet ausführlich, warum er Art. 7 und 52 Abs. 1 für verletzt ansieht. (Seite 125)
BVerfG legt (zum ersten Mal) dem EuGH Fragen zur Vorabentscheidung vor, hier: wegen behaupteter Mandatsüberschreitung der EZB durch Beschluss zum Ankauf von Staatsanleihen ausgewählter EU/Euro-Staaten in unbegrenzter Höhe. (Seite 141)
Abw. Meinung der Richterin Lübbe-Wolff
«In dem Bemühen, die Herrschaft des Rechts zu sichern, kann ein Gericht die Grenzen richterlicher Kompetenz überschreiten. Das ist meiner Meinung nach hier geschehen. Die Anträge hätten als unzulässig abgewiesen werden müssen.» (Seite 156)
Abw. Meinung des Richters Gerhardt
«Zu meinem Bedauernkann ich die Entscheidung nicht mittragen. Ich halte die Verfassungsbeschwerden und den Antrag im Organstreitverfahren, soweit sie den OMT-Beschluss betreffen, für unzulässig. Damit fehlt die für eine Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union erforderliche Entscheidungserheblichkeit der vom Senat als klärungsbedürftig angesehenen Fragen.» (Seite 159)
BVerfG – Übersicht über die im Jahr 2014 u.a. zur Entscheidung anstehenden Verfahren (1. Teil) (Seite 162)