EuGRZ 2014 |
30. April 2014
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41. Jg. Heft 6-8
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Informatorische Zusammenfassung
Andreas Voßkuhle, Karlsruhe, zum Verhältnis von BVerfG, EGMR und EuGH: „Pyramide oder Mobile? – Menschenrechtsschutz durch die europäischen Verfassungsgerichte“
«Pyramide oder Mobile (Renate Jaeger) – welches dieser beiden Bilder ist besser geeignet, die Charakteristika des Menschenrechtsschutzes durch die europäischen Verfassungsgerichte zu veranschaulichen? Dazu ein Blick auf die Interaktion dieser Gerichte und ihrer jeweiligen Rechtekataloge. (...) Der europäische Verfassungsgerichtsverbund ist (...) ein lebendiger und sich verändernder Organismus, welcher in seiner fortlaufenden Entwicklung permanente Beobachtung, Begleitung und Ausbalancierung verdient.»
Der Beitrag ist eine deutsche Fassung des auf Einladung des EGMR am 31. Januar 2014 zur Eröffnung des Gerichtsjahres in Straßburg auf Englisch gehaltenen Vortrags. Im ersten Hauptteil mit der Überschrift „Straßburg und Karlsruhe: Dialog statt Einbahnstraße“ führt Voßkuhle zur Rolle des BVerfG u.a. aus: «Das Grundgesetz stellt das Bundesverfassungsgericht – wie auch die übrigen Verfassungsorgane – in den Dienst internationaler Menschenrechte. Unsere jüngeren Entscheidungen zeigen, dass es sich bei diesen Worten nicht nur um „Verfassungspoesie“ handelt. Im Mai 2011 hat das Bundesverfassungsgericht in der Folge der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Sachen M. gegen Deutschland vom Dezember 2009 ein Urteil zur deutschen Sicherungsverwahrung gesprochen. Zwei Aspekte dieses Urteils belegen die Konventionsfreundlichkeit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Erstens hat das Bundesverfassungsgericht das nationale Prozessrecht flexibel angewandt, um einen weiteren Konventionsverstoß zu vermeiden. (...) Zweitens betonte das Bundesverfassungsgericht, dass die Konvention frühzeitig im Rahmen der Auslegung des „aufnehmenden“ Verfassungssystems Beachtung finden muss.»
Die Rolle des EGMR sieht der Präsident des BVerfG u.a. folgendermaßen: «Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ist kein einsamer Kämpfer, sondern ein starker Spieler in einem Team. Er macht nationale Verfassungsgerichte nicht überflüssig, sondern setzt vielmehr deren Existenz voraus. Um in meinem Bild des „Mobiles der Institutionen“ zu bleiben: Alle Elemente sind notwendig, um die Balance zu halten. Andernfalls würde ein einsames Pendel ausschließlich um sich selbst kreisen.
In Umsetzung dieser Balance steht der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte als ein internationales Gericht vor der Aufgabe, einen Mindeststandard des Grundrechtsschutzes zu definieren. Dieser Mindeststandard kann von den Behörden und Gerichten aller Konventionsstaaten übernommen und angewandt werden, ohne die Pluralität der nationalen Menschenrechtsbestimmungen aufzugeben. Gleichzeitig stärkt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte seine Akzeptanz im Hinblick auf die effektive Durchsetzung und die dynamische Fortentwicklung der Konvention, wenn er beim Umgang mit dem nationalen verfassungsrechtlichen Erbe – den über lange Zeit gewachsenen Grundrechtstraditionen – Zurückhaltung walten lässt. (...) Darüber hinaus erkennt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte glücklicherweise dort einen Beurteilungsspielraum an, wo Fälle heikle moralische oder ethische Fragen aufwerfen, zu denen sich kein Konsens zwischen den Konventionsparteien herausgebildet hat. (...)
Je mehr die Umsetzung der Konvention bereits durch die nationalen Behörden und Gerichte erfolgt, desto besser kann sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte – gerade im Lichte seiner begrenzten Ressourcen – auf seine Rolle als Hüter eines gemeinsamen Kernstandards der Menschenrechte konzentrieren. Zugleich sind allerdings, wie mein belgischer Kollege Bossuyt kürzlich aufgezeigt hat, einige – etwa die Leistungsdimension von Grundrechten betreffende – Fragen am besten bei den Gerichten aufgehoben, die mit den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Gegebenheiten in einem bestimmten Mitgliedstaat besonders vertraut sind. Würde der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte seine Rechtsprechung auf wirtschaftliche und soziale Rechte ausdehnen und diesen mehr als einen Kernstandard entnehmen, so könnte dies – da solche Anforderungen in einer Reihe von Ländern kaum verwirklicht werden könnten – die Universalität der Menschenrechte in Frage stellen.»
Im zweiten Hauptteil mit der Überschrift „Straßburg und Luxemburg: Die Dinge sind in Bewegung“ geht es um die gegenseitigen Bezugnahmen in den Entscheidungen von EuGH und EGMR, insbesondere nach dem Inkrafttreten der Grundrechtecharta und im Hinblick auf den Beitritt der EU zur EMRK.
Zum Stichwort „Åkerberg Fransson“ heißt es: «Die europäischen Gerichte sind Nachbarn, nicht Zwillinge.» Und weiter: «So sehr ein einheitlich hoher Menschenrechtsstandard in Europa wünschenswert ist – es obliegt auf überstaatlicher Ebene nicht dem Luxemburger Gericht, einen solchen zu wahren, sondern Straßburg und der Europäischen Menschenrechtskonvention.»
Abschließend hält Voßkuhle fest: «Es hat sich gezeigt, dass das System des europäischen Menschenrechtsschutzes leichter zu fassen ist, wenn man es sich nicht als Pyramide, sondern als Mobile vorstellt. Die einzelnen Teile des Systems – die europäischen Verfassungsgerichte – müssen bei ihrer Arbeit sensibel dafür bleiben, die Balance zu erhalten. Denn das Mobile mitsamt seinen Fäden darf nicht zum Spinnennetz werden, in welchem sich die um Grundrechtsschutz Ersuchenden verfangen. (...) Ich denke, sogar die visionären Verfasserinnen und Verfasser unserer jeweiligen Grundrechtskataloge wären überrascht, welche Dynamik der Grundrechtsschutz im europäischen Mehrebenensystem entfaltet hat.» (Seite 165)
Jan Schneider, Wiesbaden, setzt sich mit dem „Schutz vor Folter durch einstweilige Maßnahmen bzw. diplomatische Zusicherungen“ auseinander
Es sind dies Überlegungen anlässlich der Entscheidung des UN-Ausschusses gegen Folter im Fall Abichou ./. Deutschland eine Auslieferung nach Tunesien betreffend. Allgemein stellt der Autor fest: «Sicherlich ist die effektive Wahrnehmung der Rechte durch den Einzelnen ein Leitprinzip bei der Auslegung menschenrechtlicher Verträge. Dieses Prinzip setzt aber gerade nicht voraus, dass ein Einzelner solange „forum shopping“ betreiben kann, bis er eine ihm vorteilhafte Entscheidung eines internationalen Gremiums erlangt hat. (...) Wenn also das vom Bf. ausgewählte Rechtsschutzorgan zu einem von ihm als unrichtig angesehenen Ergebnis kommt, wird er hierdurch nicht unzulässig in der effektiven Wahrnehmung seiner Rechte eingeschränkt, sondern es findet die richterliche oder quasi-richterliche Beurteilungskompetenz Ausdruck, die jedem Rechtsschutzorgan individuell zusteht und in die andere internationale Organe auch nicht indirekt eingreifen sollen.»
Im konkreten Fall geht es darum, inwieweit die Ablehnung des EGMR, einstweilige Maßnahmen zu erlassen, eine „Prüfung“ der Sache darstellt: «Zumindest in Abichou ./. Deutschland wären daher Ausführungen des CAT dazu wünschenswert gewesen, ob der EGMR die beantragten vorläufigen Maßnahmen bloß aus rein formellen Gründen abgelehnt hatte oder ob er kein prima-facie-Risiko gesehen, mithin also eine summarische Begründetheitsprüfung vorgenommen hatte. Für den Fall, dass der EGMR summarisch auch die Begründetheit der Beschwerde in Bezug auf schwerwiegende Konventionsverletzungen etwa von Artikel 2 oder 3 EMRK einer prima-facie-Prüfung unterzogen hatte, hätte der CAT die Beschwerde konsequenterweise unter Verweis auf Artikel 22 (5a) UNCAT als unzulässig abweisen müssen.»
Zu der Frage, ob diplomatische Zusicherungen einen effektiven Schutz vor Folterrisiken bieten, setzt sich Schneider zunächst mit der Rechtsprechung auseinander und gelangt zu folgendem Schluss: «Der EGMR hat dazu im Fall Othman (Abu Qatada) ./. Vereinigtes Königreich einen umfangreichen Kriterienkatalog aus seiner bisherigen Rechtsprechung herausgefiltert, den die zuständigen Oberlandesgerichte und die Bundesregierung bei der Prüfung von Auslieferungsfällen befolgen müssen.
Darüber hinaus werden weitere grundsätzliche rechtliche Fragen im Laufe der Zeit insbesondere in Bezug auf die Auslieferung bei dem Vorliegen eines realen Risikos der Zulassung von unter Folter oder Misshandlung gewonnenen Beweismitteln zu klären sein. Hier ist vor allem die Entwicklung der Rechtsprechung des EGMR aufmerksam zu verfolgen.
Aber auch der CAT kann seinen Beitrag zur Fortbildung des Rechts in diesem Bereich beisteuern. Gerade die Verzahnung eines Besuchsmechanismus mit einer quasi-richterlichen Kompetenz sowie seine weltweite Zuständigkeit erlauben ihm eine Einsicht in die Folterproblematik und daraus resultierend Möglichkeiten für die Beurteilung von Sachverhalten, die dem EGMR oder dem IAGMR so nicht zur Verfügung stehen. Es ist jedoch erforderlich, dass der Ausschuss bei der Beurteilung von Rechtsfragen seine Glaubwürdigkeit nicht durch oberflächliche oder juristisch gar fragwürdige Argumentationen verspielt. (...) Um die betroffenen Staaten zur Umsetzung seiner Aufforderungen zu bewegen und dem internationalen Schutz vor Folter und Misshandlung effektiv dienen zu können, müssen die Entscheidungen des CAT folglich umso mehr durch inhaltliche Konsistenz überzeugen.» (Seite 168)
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Straßburg, sieht in der Verurteilung wegen übler Nachrede keine Verletzung der Meinungsäußerungsfreiheit / Annen gegen Deutschland
Der Bf. war vor der gynäkologischen Praxis eines Arztes demonstrativ auf und ab gegangen, wobei er auf einem Sandwich-Plakat und auf Faltblättern die wahrheitswidrige Behauptung verbreitete, der namentlich mit voller Adresse genannte Arzt nähme „rechtswidrige Abtreibungen“ vor. Er wurde wegen übler Nachrede vom Amtsgericht München zu einer Geldstrafe von 70 Tagessätzen zu je 20,- Euro verurteilt. Landgericht und Oberlandesgericht bestätigten das Urteil. Das BVerfG nahm die Verfassungsbeschwerde ohne weitere Begründung nicht zur Entscheidung an.
Der EGMR erklärt die Beschwerde für unzulässig, weil offensichtlich unbegründet. In der Entscheidung heißt es: «Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass er in seiner Entscheidung über eine andere von demselben Bf. erhobene Beschwerde anerkannt hat (...), dass eine derartige Äußerung, die unter vergleichbaren Umständen gemacht worden ist, von einer durchschnittlich einsichtigen Person so verstanden werden könnte, dass die „rechtswidrigen“ Schwangerschaftsabbrüche im engeren Sinne verboten und strafbar seien. Zudem schloss sich der Gerichtshof in dieser Rechtssache der Einschätzung der nationalen Gerichte an, dass das Recht der persönlichen Ehre des betroffenen Arztes das Recht des Bf. auf freie Meinungsäußerung überwiege.
In vorliegender Rechtssache ist der Gerichtshof ferner der Auffassung, dass die nationalen Gerichte das Recht des Bf. auf freie Meinungsäußerung und die Persönlichkeitsrechte des Arztes korrekt gegeneinander abgewogen haben. Daraus folgt, dass die von den nationalen Gerichten angeführten Gründe ausreichen, um nachzuweisen, dass der gerügte Eingriff „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ war.
In Anbetracht aller vorgenannten Faktoren und insbesondere der sorgfältigen Prüfung in Bezug auf Art. 10 durch die innerstaatlichen Gerichte, ist der Gerichtshof der Auffassung, dass die innerstaatlichen Gerichte einen fairen Ausgleich zwischen den widerstreitenden Interessen herbeigeführt haben.Folglich ist nicht ersichtlich, dass Art. 10 der Konvention verletzt wurde.» (Seite 176)
Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH), Luxemburg, präzisiert den Begriff „nicht übermäßig teures Gerichtsverfahren“ in bestimmten Umweltsachen und bewertet die Umsetzung einer Richtlinie durch komplexe Rechtsprechung allein als unzureichend / Rs. Kommission gegen Vereinigtes Königreich
Konkret geht es um Gerichtskosten und die Höhe von Anwaltshonoraren. Rechtsgrundsätzlich führt der EuGH aus: «Den verschiedenen vom Vereinigten Königreich vorgetragenen und vor allem in der mündlichen Verhandlung erörterten Gesichtspunkten lässt sich jedoch nicht entnehmen, dass das innerstaatliche Gericht aufgrund einer Rechtsnorm verpflichtet wäre, sicherzustellen, dass das Verfahren für den Kläger keine übermäßig teuren Kosten hat, was allein den Schluss erlaubte, dass die Richtlinie 2003/35 richtig umgesetzt worden ist. Allein der Umstand, dass der Gerichtshof eine Untersuchung und Bewertung verschiedener – zudem umstrittener – Entscheidungen innerstaatlicher Gerichte und daher eines ganzen Rechtsprechungskomplexes vornehmen muss, um festzustellen, ob das nationale Recht mit den Zielen dieser Richtlinie in Einklang steht, während das Unionsrecht dem Einzelnen genaue Rechte verleiht, deren Wirksamkeit eindeutige Regeln erfordert, führt daher zu dem Schluss, dass die Umsetzung, auf die sich das Vereinigte Königreich beruft, jedenfalls nicht hinreichend klar und bestimmt ist.» (Seite 179)
EuGH unterstreicht die Verantwortlichkeit der Mitgliedstaaten für die Gewährleistung angemessenen Wohnraums für Asylbewerber / RL 2003/9/EG / Rs. Saciri u.a.
Auf Vorlage eines belgischen Gerichts entscheidet der EuGH: «Der betreffende Mitgliedstaat hat darauf zu achten, dass der Gesamtbetrag der Geldleistungen, durch die die materiellen Aufnahmebedingungen gewährt werden, für ein menschenwürdiges Leben ausreicht, bei dem die Gesundheit und der Lebensunterhalt der Asylbewerber gewährleistet sind, indem sie insbesondere in die Lage versetzt werden, eine Unterkunft zu finden, wobei gegebenenfalls die Wahrung der Interessen besonders bedürftiger Personen im Sinne von Art. 17 der Richtlinie zu berücksichtigen ist. Die Mitgliedstaaten sind nicht an die in Art. 14 Abs. 1, 3, 5 und 8 der Richtlinie 2003/9 vorgesehenen materiellen Aufnahmebedingungen gebunden, wenn sie entschieden haben, diese Bedingungen ausschließlich in Form von Geldleistungen zu gewähren. Die betreffenden Leistungen müssen jedoch so hoch sein, dass minderjährige Kinder von Asylbewerbern bei ihren Eltern wohnen können, so dass die familiäre Gemeinschaft der Asylbewerber aufrechterhalten werden kann.» (Seite 185)
Schweizerisches Bundesgericht (BGer), Lausanne, zu den Kriterien für ausländerrechtlichen Familiennachzug anerkannter Flüchtlinge mit Asyl und Ungleichbehandlung von vor und nach der Flucht eingegangenen Ehen
Allgemein stellt das BGer grundsätzlich fest: «Die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) verschafft praxisgemäss keinen Anspruch auf Einreise und Aufenthalt oder auf einen besonderen Aufenthaltstitel (...). Sie hindert die Konventionsstaaten nicht daran, die Anwesenheit auf ihrem Staatsgebiet zu regeln und den Aufenthalt ausländischer Personen unter Beachtung überwiegender Interessen des Familien- und Privatlebens gegebenenfalls auch wieder zu beenden (...). Dennoch kann es das in Art. 8 EMRK bzw. Art. 13 BV geschützte Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzen, wenn einer ausländischen Person, deren Familienangehörige sich in der Schweiz aufhalten, die Anwesenheit untersagt und damit das Zusammenleben vereitelt wird (...). Das entsprechende, in Art. 8 EMRK bzw. Art. 13 BV geschützte Recht ist berührt, wenn eine staatliche Entfernungs- oder Fernhaltemassnahme eine nahe, echte und tatsächlich gelebte familiäre Beziehung einer gefestigt anwesenheitsberechtigten Person beeinträchtigt, ohne dass es dieser möglich bzw. ohne Weiteres zumutbar wäre, das entsprechende Familienleben andernorts zu pflegen. (...)
Unternimmt der anerkannte Flüchtling mit Asylstatus alles ihm Zumutbare, um auf dem Arbeitsmarkt seinen eigenen und den Unterhalt der (sich noch im Ausland befindenden, nach der Flucht begründeten) Familie möglichst autonom bestreiten zu können, und hat er auf dem Arbeitsmarkt wenigstens bereits teilweise Fuss gefasst, muss dies genügen, um den Ehegattennachzug zu gestatten und das Familienleben in der Schweiz zuzulassen, falls er trotz dieser Bemühungen innerhalb der für den Familiennachzug geltenden Fristen unverschuldet keine Situation zu schaffen vermag, die es ihm erlaubt, die entsprechenden Voraussetzungen zu erfüllen, sich der Fehlbetrag in vertretbarer Höhe hält und dieser in absehbarer Zeit vermutlich ausgeglichen werden kann.»
Im konkreten Fall der aus Eritrea stammenden, in St. Gallen lebenden Bf., die nach ihrer Anerkennung als Flüchtling in der Schweiz einen Landsmann im Sudan geheiratet hatte, wurde dessen Familiennachzug abgelehnt. (Seite 189)
Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, sieht als sichergestellt an, dass durch den Vertrag zur Errichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) keine unbegrenzten Zahlungsverpflichtungen begründet werden können / ESM-Urteil
Zur Vermeidung des Verlusts von Stimmrechten hat der Bundestag haushaltsrechtlich durchgehend sicherzustellen, dass die Bundesrepublik Deutschland Kapitalabrufen nach dem ESM-Vertrag fristgerecht und vollständig nachkommen kann. Schließlich gehört zur haushaltspolitischen Gesamtverantwortung des Bundestages, sicherzustellen, dass nach dem Beitritt neuer Mitglieder zum ESM, für den ein einstimmiger Gouverneursbeschluss erforderlich ist, die verfassungsrechtlich geforderte Vetoposition der Bundesrepublik Deutschland auch unter veränderten Umständen erhalten bleibt. Der Zweite Senat führt u.a. aus: «Es ist zwar in erster Linie Sache des Bundestages selbst, in Abwägung aktueller Bedürfnisse mit den Risiken mittel- und langfristiger Gewährleistungen darüber zu befinden, in welcher Gesamthöhe Gewährleistungssummen noch verantwortbar sind (...). Aus der demokratischen Verankerung der Haushaltsautonomie folgt jedoch, dass der Bundestag einem intergouvernemental oder supranational vereinbarten, nicht an strikte Vorgaben gebundenen und in seinen Auswirkungen nicht begrenzten Bürgschafts- oder Leistungsautomatismus nicht zustimmen darf, der – einmal in Gang gesetzt – seiner Kontrolle und Einwirkung entzogen ist (...).
Es dürfen zudem keine dauerhaften völkervertragsrechtlichen Mechanismen begründet werden, die auf eine Haftungsübernahme für Willensentscheidungen anderer Staaten hinauslaufen, vor allem wenn sie mit schwer kalkulierbaren Folgewirkungen verbunden sind. Jede ausgabenwirksame solidarische Hilfsmaßnahme des Bundes größeren Umfangs im internationalen oder unionalen Bereich muss vom Bundestag im Einzelnen bewilligt werden. Soweit überstaatliche Vereinbarungen getroffen werden, die aufgrund ihrer Größenordnungen für das Budgetrecht von struktureller Bedeutung sein können, etwa durch Übernahme von Bürgschaften, deren Einlösung die Haushaltsautonomie gefährden kann, oder durch Beteiligung an entsprechenden Finanzsicherungssystemen, bedarf nicht nur jede einzelne Disposition der Zustimmung des Bundestages; es muss darüber hinaus gesichert sein, dass weiterhin hinreichender parlamentarischer Einfluss auf die Art und Weise des Umgangs mit den zur Verfügung gestellten Mitteln besteht.» (Seite 193)
BVerfG erklärt Drei-Prozent-Sperrklausel bei Wahlen zum Europäischen Parlament für verfassungswidrig
Der Zweite Senat begründet dieses Urteil mit denselben Argumenten, mit denen er die ursprünglich vom BVerfG gebilligte Fünf-Prozent-Kausel (EuGRZ 1979, 320) im Jahr 2011 für nichtig erklärt hatte (EuGRZ 2011, 621). Die Entscheidung ist mit der denkbar kanppsten Mehrheit (5:3 Stimmen) ergangen. (Seite 226)
Richter Müller fasst die Begründung seiner abweichenden Meinung einleitend zusammen: «Nach meiner Überzeugung stellt der Senat zu hohe Anforderungen an die Feststellung einer Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit des Europäischen Parlaments zur Rechtfertigung eines Eingriffs in die Grundsätze der Wahlrechtsgleichheit und Chancengleichheit und trägt damit dem Auftrag des Gesetzgebers zur Ausgestaltung des Wahlrechts unzureichend Rechnung. Im Ergebnis führt dies nicht nur zur Beschreitung eines deutschen Sonderweges bei der Wahl des Europäischen Parlaments, sondern auch zur Hinnahme des Risikos einer Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit des Europäischen Parlaments jedenfalls für die Dauer einer Legislaturperiode. Dass dies verfassungsrechtlich geboten ist, vermag ich nicht zu erkennen.» (Seite 237)
Siehe auch die abweichende Meinung der Richter Di Fabio und Mellinghoff zu dem Urteil die Fünf-Prozent-Kausel betreffend, EuGRZ 2011, 634.
BVerfG bekräftigt Vertrauensschutz im Steuerrecht gegen rückwirkende Rechtsetzung
Der Erste Senat verdeutlicht die Kriterien einer konstitutiv rückwirkenden Regelung und erklärt § 43 Abs. 18 Kapitalanlagegesellschaften-Gesetz teilweise für nichtig. (Seite 241)
Richter Masing kritisiert in seiner abweichenden Meinung, der Senat verändere der Sache nach das Fundament der Rückwirkungsrechtsprechung. (Seite 249)
BVerfG wertet die Regelung der behördlichen Vaterschaftsanfechtung (§ 1600 Abs. 1 Nr. 5 BGB) als Verstoß gegen das absolute Verbot der Entziehung der Staatsangehörigkeit
«Die Regelung genügt nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen an einen sonstigen Verlust der Staatsangehörigkeit (Art. 16 Abs. 1 Satz 2 GG), weil sie keine Möglichkeit bietet, zu berücksichtigen, ob das Kind staatenlos wird, und weil es an einer dem Grundsatz des Gesetzesvorbehalts genügenden Regelung des Staatsangehörigkeitsverlusts sowie an einer angemessenen Fristen- und Altersregelung fehlt.» (Seite 254)
BVerfG bestätigt Ausschluss des mutmaßlichen biologischen Vaters von der Vaterschaftsanfechtung zum Schutz der rechtlich-sozialen Familie als verfassungsgemäß. (Seite 266)
BVerfG beanstandet Verweigerung der Prozesskostenhilfe für Amtshaftungsklage wegen menschenunwürdiger Behandlung im Strafvollzug und betont die Kriterien für die gebotene Einzelfallprüfung. (Seite 266)
Neuer dänischer Richter am EGMR – Jon Fridrik Kjølbro hat sein Amt in Straßburg am 1. April 2014 angetreten. (Seite 268)
BVerfG erlässt Einstweilige Anordnung zum Schutz einer Zeugin (Opfer eines Sexualdelikts)
Die Verfassungsbeschwerdeführerin wendet sich gegen die Ablehnung ihres Antrags auf audiovisuelle Zeugenvernehmung (§ 247a Abs. 1 StPO) durch das LG Waldshut-Tiengen. Die 3. Kammer des Zweiten Senats stellt fest: «Erginge die einstweilige Anordnung nicht, erwiese sich die Verfassungsbeschwerde später aber als begründet, könnte die Vernehmung der Beschwerdeführerin in Anwesenheit des Angeklagten und der notwendig Anwesenden in der Zwischenzeit vollzogen werden. In diesem Fall bestünde nach Einschätzung der behandelnden Ärztin die dringende Gefahr einer seelischen Destabilisierung oder Retraumatisierung der Beschwerdeführerin mit nicht abschätzbaren Folgen für ihre weitere psychische Entwicklung. Der hiermit verbundene Eingriff in das Grundrecht der Beschwerdeführerin aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG wiegt daher mit hoher Wahrscheinlichkeit schwer und kann nicht durch eine spätere Feststellung der Verfassungswidrigkeit des angefochtenen Hoheitsakts rückgängig gemacht werden.»(S. 269)
BVerfG – Übersicht über 2014 u.a. zur Entscheidung anstehende Verfahren, Fortsetzung und Schluss. (Seite 272)