EuGRZ
31. August 2023
50. Jg. Heft 13-16

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Informatorische Zusammenfassungen

 

Heiko Sauer, Bonn, plädiert dafür, dass Judikative und Exekutive in Deutschland bei der Umsetzung von EGMR-Urteilen ihre bisherige Zurückhaltung aufgeben und sich klar zur vorrangigen Ausräumung festgestellter Konventionsverletzungen bekennen

 Dazu erläutert der Autor die völkerrechtlichen und verfassungsrechtlichen Wirkungen von EGMR-Urteilen im deutschen Recht und stellt einleitend klar:

 «Die völkerrechtlichen Wirkungen der Entscheidungen des Gerichtshofs sind in Art. 41 und 46 EMRK festgelegt. Die zentrale Aussage findet sich in Art. 46 Abs. 1 EMRK: Die Verfahrensparteien sind verpflichtet, Urteile des Gerichtshofs zu befolgen. Der Zusammenhang der Feststellung der Konventionsverletzung mit der Befolgungspflicht des betroffenen Staates erklärt sich dadurch, dass der Gerichtshof konventionswidrige Rechtsakte nicht aufheben kann. (…) Um der damit verbundenen Gefahr entgegenzuwirken, dass Beschwerdeführer von der Feststellung einer Konventionsverletzung letztlich nichts haben, folgt aus der Konvention die Verpflichtung, die festgestellte Verletzung zu beheben: Konventionswidrige Rechtsakte sind aufzuheben oder so zu ändern, dass sie mit der Konvention übereinstimmen. Erst dadurch wird die Individualbeschwerde zu einem effektiven Rechtsbehelf: In der Regel geht es Beschwerdeführern ja nicht primär um die Feststellung einer Rechtsverletzung, sondern um Abhilfe bei fortdauernden Konventionsverletzungen. Trotz des in vielen Sprachfassungen eher zurückhaltenden Wortlauts sollte man daher besser von einer Umsetzungspflicht als von einer Befolgungspflicht sprechen: In Ermangelung einer Durchgriffswirkung der Urteile liegt die notwendige und auch beabsichtigte Überbrückung darin, dass im innerstaatlichen Recht Maßnahmen ergriffen werden, mit denen die festgestellte Menschenrechtsverletzung ausgeräumt wird.

 Die völkerrechtliche Umsetzungspflicht ist unbedingt zu verstehen. Insbesondere ist Art. 41 EMRK keine Relativierung zu entnehmen, nach der letztlich das innerstaatliche Recht darüber bestimmen würde, ob die Pflicht erfüllt wird oder nicht.»

 Bezogen auf die bisherige Rechtsprechung des BVerfG richtet der Autor sein Augenmerk darauf, dass eine unzureichende Unterscheidung zwischen Berücksichtigungspflicht und Umsetzungspflicht festzustellen ist:

 «Das zentrale Problem der Verfassungsrechtsprechung liegt in ihrer mangelnden Differenzierungsschärfe. Hier hat der Görgülü-Beschluss von 2004 bis heute nachwirkend den Ton gesetzt. Dieser Fall betraf die Verletzung der Verpflichtung, ein Urteil des EGMR umzusetzen: Das Bundesverfassungsgericht wurde gegen ein renitentes Oberlandesgericht zu Hilfe gerufen. Auch nach der Entscheidung des Gerichtshofs, wonach dem beschwerdeführenden Vater der Umgang mit seinem Sohn ermöglicht werden müsse, verweigerte das OLG Naumburg eine Entscheidung zu Gunsten des Vaters. (…)

 Aber dem Bundesverfassungsgericht war die konkrete Vorgabe des EGMR, dem Vater den Umgang mit seinem Sohn zu gewähren, womöglich nicht geheuer, was insofern verständlich ist, als sich neue Tatsachen ergeben können, die einer solchen Entscheidung entgegenstehen. Vor allem aber wollte es wohl vor dem Hintergrund des kurz zuvor ergangenen, in Deutschland kritisch beäugten ersten Caroline von Hannover-Urteils des Gerichtshofs erneut grundsätzliche Ausführungen zur innerstaatlichen Stellung der Konvention treffen. (…) Das beschriebene Motivbündel erklärt, warum es im Görgülü-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts – auch in der Grenzfrage – zwischen allgemeinen Konventionswirkungen (Berücksichtigungskonstellation) und spezifischen Urteilswirkungen (Umsetzungskonstellation) hin und her geht.

 Der damit eingeschlagene Pfad verdeckt bis heute wirkmächtig einen ganz zentralen Unterschied: den zwischen der allgemeinen konventionsfreundlichen Handhabung des innerstaatlichen Rechts unter Berücksichtigung der gesamten Rechtsprechung des EGMR und der Ausräumung festgestellter Konventionsverletzungen Deutschlands im Einzelfall (und gegebenenfalls darüber hinaus). Dieser Unterschied ist gewaltig: Während Urteile gegen andere Staaten die Frage der Konventionskonformität des deutschen Rechts zwar aufwerfen können, sie aber nur ganz selten implizit mitbeantworten werden, ist bei der Feststellung einer Konventionsverletzung klar, was zu tun ist. Sie muss durch Dispositionen im innerstaatlichen Recht behoben werden, und diese ebenso klare wie unbedingte Pflicht trifft schon bei bloßem Gesetzesrang der Konvention – also ohne jede diskutable verfassungsrechtliche Aufwertung – nach Art. 20 Abs. 3GGalle innerstaatlichen Rechtsanwender. Weil für diese Konsequenz keine verfassungsrechtliche Sonderstellung der EMRK benötigt wird, ist es zwar in gewisser Hinsicht nachvollziehbar, dass das Bundesverfassungsgericht die besondere verfassungsrechtliche Stellung der Konvention immer dort betont, wo es um die allgemeine Orientierungswirkung der Urteile des Gerichtshofs in Verfahren gegen andere Staaten ging.

 Man muss aber sehen, dass die Gefahr künftiger Völkerrechtsverletzungen, der dadurch verfassungsrechtlich entgegengewirkt werden kann, in dieser Konstellation sehr überschaubar ist. Just zu den Fällen bereits festgestellter Konventionsverletzungen, wo es nicht mehr um Prävention, sondern um Abhilfe geht, und man nur den Rechtsanwendungsbefehl und Art. 20 Abs. 3 GG braucht, solange nicht das Grundgesetz einer Urteilsbefolgung entgegensteht, äußert sich das Bundesverfassungsgericht dagegen recht zurückhaltend: Es hat nie darauf gedrungen, Umsetzungshindernisse des innerstaatlichen Rechts zu beseitigen, sondern immer betont, die Befolgung habe sich im Rahmen des innerstaatlich Möglichen zu vollziehen. Das aber ist wie dargestellt weder völkerrechtlich noch verfassungsrechtlich zutreffend.

 Klarer als bisher hat das Bundesverfassungsgericht die Berücksichtigungspflicht im Urteil zum Beamtenstreik [2018] von der Umsetzungspflicht abgehoben; aber dort ging es nicht um die Umsetzung einer Verurteilung der Bundesrepublik Deutschland, sondern um die Orientierungswirkung nicht ohne Weiteres aufs deutsche Recht übertragbarer Entscheidungen zum türkischen Recht, was das Bundesverfassungsgericht an der vorsorglichen Markierung einer roten Linie nicht gehindert hat. So bleibt die aus der Perspektive der Völkerrechtsfreundlichkeit zur Vermeidung von Konventionsverletzungen viel wichtigere Umsetzungspflicht schon in der verfassungsgerichtlichen Maßstabsbildung blass. Nachstehend wird aufgezeigt, dass das Bundesverfassungsgericht bei seiner Befassung mit Umsetzungskonstellationen außer in eklatanten Missachtungsfällen wie Görgülü oft Verständnis für weniger umsetzungswillige Gerichtsentscheidungen hat und noch um Vermittlung ringt, wo es schlicht um effektive Rechtsdurchsetzung geht (…).»

 Abschließend stellt Sauer fest:

 «Auf die fehlende Hoheitsrechtsübertragung und den fehlenden Verfassungsrang der Konvention im deutschen Recht wird zwar grundsätzlich mit Recht immer wieder hingewiesen. Der Hinweis läuft aber Gefahr, die innerstaatlichen Wirkungen der Konvention in ihrer Auslegung durch den Gerichtshof zu unterschätzen. Auch ohne Anwendungsvorrang kann die EMRK weitreichende Änderungen im deutschen Recht nach sich ziehen und vertraute Grundsätze in Frage stellen oder auch ihre Aufgabe erzwingen, wie namentlich die Befugnis und Verpflichtung der Rechtsanwender zeigt, konventionswidrige Gesetze ihren Entscheidungen nicht weiter zu Grunde zu legen. Ungeachtet im Einzelfall immer möglicher und manchmal berechtigter Kritik hat das in der Vergangenheit vielfach zu echten rechtsstaatlichen Fortschritten geführt.» (Seite 305)

 Susanne Baer, Berlin, setzt sich mit der Rolle der Gerichte beim Schutz von „Meinungsfreiheit und Demokratie“ auseinander

 Insbesondere legt die Autorin dar, wann richterliche Zurückhaltung und wann mutiges Eingreifen der Gerichte geboten sind. Sie zitiert den französischen Politiker Pierre-Henri Teitgen, der als Abgeordneter in der Beratenden Versammlung des Europarats in Straßburg Berichterstatter bei der Ausarbeitung der EMRK war und 1949 zukunftsgerichtet für die Schaffung eines Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte plädierte: «Demokratien werden nicht an einem Tag zu Nazi-Ländern. (…) Es ist notwendig, einzugreifen, bevor es zu spät ist.»

 Baer bezieht sich sodann auf die in Prag geborene ehemalige Außenministerin der USA, Madeleine Albright, die an die Strategie Mussolinis erinnerte, die darin bestand, wie «einem Huhn eine Feder nach der anderen auszurupfen, sodass immer nur ein kleines Krächzen zu hören ist, und der ganze Prozess so leise wie möglich abläuft.»

 Bezogen auf die Herausforderungen für die Gerichte der Gegenwart führt Baer aus: «Solche einzelnen Federn, die scheinbar nicht so wichtig sind, schmücken auch den Rechtsstaat. Für die Gerichte ist eine solche Feder die Finanzierung, eine andere das Verfahren, eine weitere die Disziplin, dann das Gehalt, die Zusammensetzung, die Befugnisse des Präsidenten oder der Präsidentin, die Zahl und Reihenfolge der zu entscheidenden Fälle, die Regeln für Anträge, die Zuständigkeiten der internen Bearbeitung und Vieles mehr. Die heutigen Autokraten rupfen sie aus und setzen so auf häufig sogar sehr plausibel wirkende kleine Schritte, um unabhängige Gerichte mit den ihnen übertragenen, für die Gewaltenteilung zentralen Befugnissen zu zerstören. Sie kürzen die Mittel, weil schließlich alle sparen müssen, oder sie verlangen zu allen Entscheidungen ausführliche Begründungen, selbstverständlich, oder sie ignorieren erst nur ein weniger wichtiges Urteil, dann aber weitere, wichtige Entscheidungen, oder sie prangern Beschlüsse vereinfachend an, die komplizierte Sachverhalte betreffen, an denen aber Gefühle kleben, oder sie diskreditieren Richterinnen und Richter, ändern ihr Rentenalter, das Auswahlverfahren oder die Kriterien der Auswahl, verringern das Gehalt oder die Unterstützung im Alter, beseitigen den Schutz der Beteiligten nach einer Entscheidung oder nach der gesamten Amtszeit. Das klingt manchmal nur nach Fragen der Geschäftsordnung, nach nur formellen Fragen, aber es geht an die Substanz. Manchmal wird auch versucht, nicht die Regeln zu verändern, aber das Selbstverständnis zu verschieben. Dann werden Zurückhaltung und going small als Tugenden markiert. Auch das mag plausibel klingen und eher allgemein. Aber es zielt auf einen großen Schaden, auf die Institution Gericht insgesamt.»

 Baer gelangt zu dem Schluss, Demokratie braucht Gerichte: «Heutzutage kann der Gebrauch von Rechten zum Missbrauch werden, der Schein der Demokratie kann diese in Wirklichkeit zerstören, und der Rechtsstaat kann so umgebaut werden, dass er seinen Namen nicht mehr verdient. Das bedeutet konkreter, dass eine Verengung des Schutzbereichs individueller Rechte den Schutz letztlich aufheben kann, oder eine zu große Toleranz gegenüber Einschränkungen von Menschenrechten auch repressive Macht letztlich unkontrolliert lässt. Daher muss beispielsweise sorgfältig überprüft werden, wenn sich Regierungen auf dem Meinungsmarkt engagieren, denn öffentliche, staatlich geförderte Medien können den Raum für eine informierte Debatte öffnen oder aber diesen Raum auf eine einzige Stimme reduzieren und langfristig demokratische Verhältnisse torpedieren. Wie die Venedig-Kommission mit wachsender Besorgnis feststellt, sind in einigen Ländern auch Gerichte zu Instrumenten geworden, um autokratische Regierungen zu legitimieren. Dann trägt eine bloße verfahrensrechtliche Überprüfung ihrer Entscheidungen in der Tat dazu bei, dass Rechtsschutz in der Sache verweigert wird. Daher ist es gerade jetzt eine zentrale Aufgabe der Höchstgerichte – und insbesondere des EGMR, der als einzige unabhängige Instanz urteilen kann, wenn die Institutionen im Land bereits verloren sind. Dieses Gericht ist die Adresse, an die sich die Menschen wenden, wenn sie Hilfe brauchen, selbst in Ländern, in denen eine formale Umsetzung nicht in Sicht ist. Der EGMR ist die Institution, die Orientierungshilfe gibt, damit die ordentlichen Gerichte ihre Arbeit tun können und die Gesetzgeber ihre Menschenrechtsverpflichtungen in die Tat umsetzen. Gerade in Zeiten, in denen diese Errungenschaften bedroht sind, brauchen die Menschen Richterinnen und Richter, die ihren Kompass nicht verlieren, und auch die Demokratie braucht den EGMR.»

 Der Beitrag geht zurück auf das Referat, das die Autorin (damals noch Richterin des BVerfG), auf dem Seminar des EGMR zur Eröffnung des Gerichtsjahres mit dessen Richtern und den Präsidenten der Höchstgerichte aus den 46 Mitgliedstaaten des Europarats am 27. Januar 2023 in Straßburg gehalten hat. (Seite 322)

 Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Straßburg, billigt Auskunftsverweigerung der Behörden an einen Journalisten über Tätigkeit mehrerer Richter und eines Staatsanwalts für den Staatssicherheitsdienst der früheren DDR (Stasi) unter Namensnennung bzw. Mitteilung von deren jetzigen Einsatzorten: keine Verletzung von Art. 10 EMRK / EGMR beanstandet jedoch die Verweigerung von Informationen in anonymisierter Form als Verletzung von Art. 10 EMRK / Saure gegen Deutschland (Nr. 2)

 Der Gerichtshof stellt fest, auch ohne Namensnennung der betroffenen Personen sei gewährleistet, «dass eine öffentliche Debatte zu der Angelegenheit – dem Umstand, dass dreizehn Richterinnen bzw. Richter und ein Staatsanwalt, bei denen Anhaltspunkte dafür vorlagen, dass sie mit dem Ministerium für Staatssicherheit der DDR zusammengearbeitet hätten, im Justizdienst des Landes Brandenburg tätig waren – auf der Grundlage der von den Behörden offengelegten Informationen möglich war (…). Schließlich stimmt der Gerichtshof den innerstaatlichen Stellen dahingehend zu, dass die Offenlegung der Namen der Richterinnen und Richter sowie des Staatsanwalts dazu führen könnte, dass ihre aktuellen und zurückliegenden Entscheidungen von der Öffentlichkeit systematisch kritisiert werden. Angesichts der – vom Gerichtshof nicht anzweifelbaren – Feststellung der innerstaatlichen Stellen, dass es seitens der Betroffenen keine Anhaltspunkte für dienstliches Fehlverhalten gebe, hätte eine solche systematische öffentliche Kritik an den gerichtlichen Entscheidungen, die mit dem dienstlichen Verhalten der betroffenen Richterinnen und Richter und des betroffenen Staatsanwalts nicht in Verbindung stünde, nicht nur erhebliche Auswirkungen auf das berufliche Leben der Betroffenen, sondern auch auf die Autorität der Justiz als Ganzes (…). Diese zusätzlichen Überlegungen sprechen dafür, dass die Namen der Betroffenen nicht veröffentlicht werden sollten, und unterstreichen somit die Schlussfolgerung der innerstaatlichen Stellen.»

 Allerdings erkennt der EGMR eine Verletzung von Art. 10 darin, «dass die innerstaatlichen Behörden keine relevanten und hinreichenden Gründe dafür vorgebracht haben, dass die Versagung der Offenlegung zusätzlicher Informationen über belastende Erkenntnisse zu den Richterinnen bzw. Richtern und dem Staatsanwalt „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ war, indem sie nicht geprüft haben, ob die betreffenden Informationen in anonymisierter Form offengelegt werden könnten, was es dem beschwerdeführenden Journalisten erlaubt hätte, auf einer soliden Tatsachengrundlage zu einer Debatte über eine Angelegenheit von allgemeinem Interesse beizutragen, und indem sie keine Abwägung der in Rede stehenden widerstreitenden Interessen vorgenommen haben.» (Seite 328)

 EGMR sieht in der Verurteilung einer Tageszeitung (Die Welt) zur Veröffentlichung einer Gegendarstellung hier keine Verletzung des Rechts auf freie Meinungsäußerung (Art. 10 EMRK) und bestätigt die angemessene Berücksichtigung seiner Rechtsprechung durch die innerstaatlichen Gerichte / Axel Springer SE gegen Deutschland

 «… ist der Gerichtshof der Auffassung, dass das Kammergericht bei der Prüfung des ihm vorgelegten Sachverhalts die Grundsätze und Kriterien, die der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung in Bezug auf den Ausgleich zwischen dem Recht auf Achtung des Privatlebens und dem Recht auf freie Meinungsäußerung festgelegt hat, hinreichend berücksichtigt hat. Der Gerichtshof erkennt keine gewichtigen Gründe dafür, die Würdigung des Kammergerichts durch seine eigene zu ersetzen.» (Seite 340)

 EGMR qualifiziert mit Entkleidung verbundene körperlicher Durchsuchung vor oder nach Besuchskontakten mit Amtspersonen (wie Urkundsbeamten der Geschäftsstelle eines Gerichts) als erniedrigende Behandlung i.S.v. Art. 3 EMRK / Beantragte Entschädigung von 12.000,– Euro für immateriellen Schaden zugesprochen / Roth gegen Deutschland

 «Der Gerichtshof stellt fest, dass die elf Durchsuchungen des Bf., die auch eine Inspizierung seines Anus umfassten und daher mit das Schamgefühl verletzenden Körperhaltungen verbunden waren, einen Eingriff in seine Menschenwürde darstellten. Zudem handelte es sich bei den wiederholten Durchsuchungen, denen der Bf. unterzogen wurde, unstrittig um stichprobenartig durchgeführte Durchsuchungen, die zur fraglichen Zeit für jeden fünften Gefangenen angeordnet worden waren, ohne dass es eine Möglichkeit gab, im Einzelfall von einer Durchsuchung abzusehen. Bei allen Gelegenheiten, zu denen der Bf. durchsucht wurde, erwartete er den Besuch von Amtspersonen oder war von solchen besucht worden. (…) Die Durchsuchungen gingen also über das mit einer legitimen Behandlung zwangsläufig einhergehende Element an Leiden und Erniedrigung hinaus. Der Gerichtshof gelangt daher zu der Auffassung, dass die angegriffenen Durchsuchungen, denen der Bf. in der Justizvollzugsanstalt Straubing unterzogen wurde, seine Menschenwürde herabsetzten und daher eine erniedrigende Behandlung i.S.v. Art. 3 darstellten. Die Regierung räumt dies offenbar auch ein. (…)

 Als die nationalen Behörden dem Bf. Die Gewährung von Prozesskostenhilfe für eine Amtshaftungsklage verwehrten, waren sie allerdings der Auffassung, es sei nicht notwendig, ihm eine Entschädigung in Geld für den durch diese Verletzung erlittenen immateriellen Schaden zuzusprechen. Der Gerichtshof kann jedoch keine Gründe erkennen, die den Schluss rechtfertigen könnten, die Verletzung von Art. 3 durch die wiederholten Durchsuchungen im Fall des Bf. sei minder schwer gewesen (…), sodass eine Entschädigung nicht erforderlich sei.

 Daraus folgt, dass der Bf. noch immer behaupten kann, Opfer einer Verletzung von Art. 3 i.S.v. Art. 34 der Konvention zu sein. Daher ist Art. 3 der Konvention verletzt worden.» (Seite 346)

 Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH), Luxemburg, präzisiert in drei Entscheidungen die Kriterien, die beim Entzug bzw. der Versagung der Flüchtlingseigenschaft maßgebend sind

 • In dem Belgien betreffenden Fall ging es um die Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft nach Verurteilung wegen einer besonders schweren Straftat (25-jährige Freiheitsstrafe wegen Raubes und Tötungsdelikts) / Zusätzliche Feststellung einer tatsächlichen, gegenwärtigen und erheblichen Gefahr für ein Grundinteresse der Allgemeinheit erforderlich / Rs. XXX

 «Im Rahmen dieser Würdigung muss die zuständige Behörde auch den durch das Unionsrecht garantierten Grundrechten Rechnung tragen und insbesondere die Möglichkeit prüfen, andere, die Flüchtlings- und Grundrechte weniger beeinträchtigende Maßnahmen zu ergreifen, die die Allgemeinheit des Mitgliedstaats, in dem sich der betreffende Drittstaatsangehörige aufhält, ebenso wirksam schützen.» Sie muss außerdem verhältnismäßig sein. (Seite 356)

 • In dem Österreich betreffenden Fall – der ebenfalls die Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft betrifft – stellt der EuGH fest, dass die Kumulierung von mehreren leichteren Straftaten zur Erreichung des Kriteriums „besonders schwere Straftat“ nicht zulässig ist / Rs. AA

 Erlass einer Rückkehrentscheidung unzulässig, wenn Abschiebung in vorgesehenes Zielland auf unbestimmte Zeit (Grundsatz der Nichtzurückweisung) ausgeschlossen ist. (S. 361)

 • In einem die Niederlande betreffenden Fall beurteilt der EuGH die Versagung der Flüchtlingseigenschaft bei Verurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren, er präzisiert das Kriterium für die Einordnung einer Strafe als „besonders schwer“ und bekräftigt die zusätzliche Notwendigkeit der Feststellung, ob eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr für ein Grundinteresse der Allgemeinheit in dem betreffenden Mitgliedstaat vorliegt / Rs. MA

 Der EuGH entscheidet: «1. Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95/EU (…) über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes ist erstens dahin auszulegen, dass eine „besonders schwere Straftat“ im Sinne dieser Bestimmung eine Straftat ist, die angesichts ihrer spezifischen Merkmale insofern eine außerordentliche Schwere aufweist, als sie zu den Straftaten gehört, die die Rechtsordnung der betreffenden Gesellschaft am stärksten beeinträchtigen. Bei der Beurteilung, ob eine Straftat, derentwegen ein Drittstaatsangehöriger rechtskräftig verurteilt wurde, einen solchen Schweregrad aufweist, sind insbesondere die für diese Straftat angedrohte und die verhängte Strafe, die Art der Straftat, etwaige erschwerende oder mildernde Umstände, die Frage, ob diese Straftat vorsätzlich begangen wurde, Art und Ausmaß der durch diese Straftat verursachten Schäden sowie das Verfahren zur Ahndung der Straftat zu berücksichtigen.»

 Diese Bestimmung ist zweitens dahin auszulegen, «dass das Bestehen einer Gefahr für die Allgemeinheit des Mitgliedstaats, in dem sich der betreffende Drittstaatsangehörige aufhält, nicht schon allein deshalb als erwiesen angesehen werden kann, weil dieser wegen einer besonders schweren Straftat rechtskräftig verurteilt wurde.»

 Und sie ist schließlich drittens «dahin auszulegen, dass die Anwendung dieser Bestimmung davon abhängt, dass die zuständige Behörde feststellt, dass der betreffende Drittstaatsangehörige eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr für ein Grundinteresse der Allgemeinheit des Mitgliedstaats darstellt, in dem er sich aufhält, und dass die Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft eine in Bezug auf diese Gefahr verhältnismäßige Maßnahme ist.» (Seite 366)

 EuGH hebt die Bedeutung des Kindeswohls bei Auslegung und Anwendung des Haager Übereinkommens von 1980 und der damit verknüpften EU-Verordnung Nr. 2201/2003 hervor / Rs. T.C.

 Die polnischen Staatsangehörigen T.C. (Vater) und M.C. (Mutter) sind Eltern zweier in Irland geborener Kinder. Die Familie wohnt seit mehreren Jahren in Irland, wo sie eine feste Beschäftigung haben. Im Sommer 2021 reiste M.C. (Mutter) mit Zustimmung von T.C. (Vater) mit den beiden Kindern in die Ferien nach Polen. Die Gerichtsverfahren begannen, nachdem die Mutter dem in Irland verbliebenen Vater mitteilte, sie werde mit den Kindern auch gegen seinen Willen in Polen bleiben. Die Klage des Vaters vor den polnischen Gerichten war in erster und zweiter Instanz erfolgreich. Der Mutter wurde aufgegeben, die Rückgabe der Kinder an den Vater in Irland sicherzustellen, was diese trotz der Vollstreckbarkeit des letzten Urteils nicht tat. Jetzt griffen zwei Stellen ein, die nicht den Status eines Gerichts haben (der Beauftragte für Kinderrechte und der Generalstaatsanwalt). Sie machten von ihrer nach polnischem Recht bestehenden Befugnis Gebrauch, die Aussetzung der Vollstreckung der Entscheidung über die Rückgabe der Kinder nach Irland zu erwirken, wobei sie die entsprechenden Anträge nicht begründen müssen.

 Der EuGH gelangt zu dem Ergebnis, dass Art. 11 Abs. 3 der VO (EG) Nr. 2201/2003 im Licht von Art. 47 GRCh dahin auszulegen ist, «dass er nationalen Rechtsvorschriften entgegensteht, nach denen Stellen, die nicht den Status eines Gerichts haben, die Aussetzung der Vollstreckung einer auf der Grundlage des am 25. Oktober 1980 in Den Haag geschlossenen Übereinkommens über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung ergangenen Rückgabeentscheidung von Rechts wegen für eine Dauer von mindestens zwei Monaten erwirken können, ohne ihren Antrag auf Aussetzung begründen zu müssen.» (Seite 370)

 Schweizerisches Bundesgericht (BGer), Lausanne, erachtet eine Beschwerde gegen die Übermittlung von Personalakten der Jugendanwaltschaft und von Behandlungsunterlagen der Universitären Psychiatrischen Kliniken an das Basler Staatsarchiv für unbegründet

 Die Leitsätze des BGer lauten: «Die Weitergabe von gesundheitsbezogenen – und damit höchstpersönlichen bzw. besonders schützenswerten – Daten durch die Jugendanwaltschaft Basel-Stadt und die Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel an das Basler Staatsarchiv stellt einen Eingriff in den Schutzbereich des Privatlebens und der informationellen Selbstbestimmung dar (…).

 Dieser beruht im vorliegenden Fall gestützt auf das kantonale Archivgesetz auf einer hinreichenden gesetzlichen Grundlage (…), liegt mit Blick auf die wesentliche Rolle der Archivierung für das Verständnis der Entwicklung demokratischer und rechtsstaatlicher Strukturen bzw. der historischen Aufarbeitung staatlichen Handelns im öffentlichen Interesse (…) und ist mit Blick auf die Schutzmechanismen im kantonalen Archivgesetz (Schutzfristen, Interessenabwägung vor der Einsichtnahme, mögliche Auflagen usw.) auch verhältnismässig.» (Seite 378)

 BGer setzt sich detailliert mit dem Gesetz über die Kantonspolizei des Kantons Solothurn auseinander / Die Beschwerde gegen das Gesetz ist teilweise erfolgreich

 Es geht im Einzelnen um: Verdeckte Fahndung und dagegen zu gewährenden Rechtsschutz; die automatisierte Fahrzeugfahndung muss den Kerngehalt des Schutzes der Privatsphäre berücksichtigen, sie darf erst angeordnet werden, wenn die (im Sinne der Erwägungen) nötigen Schutz- und Kontrollbestimmungen in Kraft sind; das Flugverbot für private Drohnen ist verfassungskonform auf das Umfeld von Notfalleinsätzen der Polizei, der Feuerwehr, des Zivilschutzes und des Rettungsdienstes zu beschränken. «Insofern erscheint es notwendig, das generelle Flugverbot gemäss Abs. 1 auf Notfalleinsätze zu begrenzen, d.h. auf dringliche, nicht im Voraus geplante Einsätze, die der Rettung von Leib und Leben, der Abwendung einer erheblichen Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder der Erhaltung bedeutender Sachwerte dienen. Diese Einsätze sind oft schon äusserlich, durch die Anfahrt mit Blaulicht und Wechselhorn zur Unfallstelle oder zum Tatort, erkennbar. Dagegen besteht bei von langer Hand geplanten Einsätzen (z. B. Sicherung eines Festbetriebs) oder Routinetätigkeiten (Patrouillen) genügend Zeit, um – sofern im Einzelfall nötig – ein Flugverbot nach Abs. 2 auszusprechen.

 Dies entspricht auch der Regelung der EU, die ein Flugverbot für Drohnen in und um Gebiete vorsieht, „in denen ein Notfalleinsatz stattfindet“ („à proximité ou à l’intérieur de zones où des mesures d’intervention d’urgence sont en cours“; vgl. Durchführungsverordnung (EU) 2019/947 der Kommission vom 24. Mai 2019 über die Vorschriften und Verfahren für den Betrieb unbemannter Luftfahrtzeuge (…).» (Seite 383)

 Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, macht strenge Vorgaben für die innerstaatlichen Gerichte zur Beachtung der Rechtsprechung des EGMR (hier: Roth-Urteil von 2020, s.o. S. 346) betr. Entscheidung über Entschädigungsanspruch wegen rechtswidriger – mit Entkleidung verbundener – körperlicher Durchsuchung von Strafgefangenen / Zuerkennung von 500,– Euro als Entschädigung unzureichend

 «Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in der Vergangenheit mehrfach über Entschädigungsansprüche nach Körperlichen Durchsuchungen von Strafgefangenen entschieden. In dem auch vom Beschwerdeführer angeführten Urteil in der Rechtssache Roth v. Germany vom 22. Oktober 2020 – Nr. 6780/18 und 30776/18 = EuGRZ 2023, 346 (in diesem Heft) – stellte der Gerichtshof eine Verletzung von Art. 3 EMRK sowie Art. 13 in Verbindung mit Art. 3 EMRK fest (vgl. EGMR, Roth v. Germany, Urteil vom 22. Oktober 2020, Nr. 6780/18 und 30776/18, §§70ff., s.o. S. 352) und sprach dem dortigen Beschwerdeführer nach Art. 41 EMRK eine Geldentschädigung in Höhe von insgesamt 12.000,00 Euro zu. Zwar hänge es von den Gesamtumständen des Falls ab, was für eine angemessene und ausreichende Wiedergutmachung einer Konventionsverletzung erforderlich sei. Eine Verletzung von Art. 3 EMRK, der eines der Kernrechte der Konvention enthalte, rufe bei der betroffenen Person jedoch einen immateriellen Schaden hervor, der in der Regel durch Zusprechung einer Entschädigung in Geld wiedergutzumachen sei. Nur in Ausnahmefällen sei davon auszugehen, dass die Feststellung der Verletzung selbst eine ausreichende Genugtuung gewähre. Dies betreffe insbesondere Fälle, in denen die festgestellte Verletzung als weniger gravierend erachtet werde oder nur Verfahrensfehler betreffe. Ein solcher Ausnahmefall liege in der Rechtssache Roth v. Germany nicht vor. Die deutschen Gerichte hätten selbst anerkannt, dass die Durchsuchungen rechtswidrig und der damit verbundene Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Beschwerdeführers schwerwiegend gewesen seien (vgl. EGMR, Roth v. Germany, Urteil vom 22. Oktober 2020, Nr. 6780/18 und 30776/18, §§ 76 ff., s.o. S. 352). Dem Opfer einer Konventionsverletzung müsse auch ein Mechanismus zur Verfügung stehen, um Amtspersonen oder Organe des Staates für den Verstoß haftbar zumachen. Vorliegend sei das Amtshaftungsverfahren aussichtslos gewesen, obwohl die Maßnahmen gegen den dortigen Beschwerdeführer als rechtswidrig eingestuft worden waren und – zumindest ein mögliches – Verschulden seitens der Behörden vorgelegen habe. Es habe sich auch nicht um einen minder schweren Verstoß gehandelt. Die Tatsache, dass sich die deutschen Stellen einer Konventionsverletzung nicht bewusst gewesen seien oder dass der dortige Beschwerdeführer einer solchen Behandlung nicht noch einmal unterzogen werde, seien keine maßgeblichen Gründe dafür, ihm keine Entschädigung zuzusprechen. Der Gerichtshof kam zu dem Schluss, dass dem dortigen Beschwerdeführer kein wirksamer Rechtsbehelf zur Rüge der Konventionsverletzung zur Verfügung gestanden habe, so dass auch Art. 13 in Verbindung mit Art. 3 EMRK verletzt sei. (…)

 Gemessen hieran verletzt das angegriffene Urteil den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG. Die vom Beschwerdeführer erduldete körperliche Durchsuchung mit vollständiger Entkleidung am 27. März 2019 stellt einen schwerwiegenden Eingriff in sein allgemeines Persönlichkeitsrecht dar (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 23. September 2020 – 2 BvR 1810/19 –, Rn. 21). Indem das Landgericht einen Entschädigungsanspruch unter Verweis auf ein fehlendes Verschulden der handelnden Amtsträger verneint hat, ohne eine konventionsfreundliche Auslegung des § 839 BGB in Verbindung mit Art. 34 GG oder die Anwendung weiterer staatshaftungsrechtlicher Institute zu prüfen, verkennt es den Einfluss der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte auf die Anwendung des einfachen Rechts. Das Landgericht hat die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in der Rechtssache Roth v. Germany zwar zur Kenntnis genommen und ist in dem angegriffenen Urteil darauf eingegangen. Die inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Urteil und den Vorgaben, die sich aus der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergeben, bleibt jedoch hinter den verfassungsrechtlichen Anforderungen zurück.» (Seite 397)

 Zur systematischen Einordnung dieser Entscheidung des BVerfG im Kontext völker- und verfassungsrechtlicher Wirkungen von Urteilen des EGMR im deutschen Recht, s.a. den Aufsatz von Sauer, EuGRZ 2023, 305 ff. (313 f. mit den Fn. 99-107), in diesem Heft.

 BVerfG billigt den Ausschluss des Bf. aus einem Sportverein wegen Mitgliedschaft in einer extremistischen Organisation (hier: NPD (Nationaldemokratische Partei Deutschlands))

 «Die Rüge des Beschwerdeführers, wonach die Zivilgerichte die Reichweite des Benachteiligungsverbots in Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG verkannt hätten, weil sie zuließen, dass er vom Verein aufgrund seiner „falschen“ politischen Anschauung diskriminiert werde, verfängt nicht. Es kann auch hier offen bleiben, wie weit das Verbot der Benachteiligung wegen politischer Anschauungen aus Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG genau reicht und wen es im Privatrecht inwiefern bindet. (…)

 Die Rechte der Mitglieder eines Vereins bewegen sich in dem Rahmen, den ein Verein setzt, denn das Grundrecht der Vereinigungsfreiheit in Art. 9 Abs. 1 GG gewährt einem Verein grundsätzlich das Recht, über die Aufnahme und den Ausschluss von Mitgliedern selbst zu bestimmen (…). Die Verfassung garantiert das Prinzip freier sozialer Gruppenbildung aus privater Initiative unabhängig vom Staat und schützt damit auch die Entscheidung über die Zwecksetzung dieses Zusammenschlusses (…). Zielt ein privater Amateur-Breitensportverein wie hiermit seiner Satzung ausdrücklich auf eine Orientierung an der freiheitlich-demokratischen Grundordnung und tritt extremistischen, rassistischen und fremdenfeindlichen Bestrebungen entgegen, ist das mit Blick auf die in Art. 9 Abs. 2 GG wie auch in Art. 1 Abs. 1, Art. 3 Abs. 3 und Art. 21 Abs. 2 GG zum Ausdruck kommende Wertung (…) nicht zu beanstanden.» (Seite 402)

 Ministerkomitee des Europarats, Straßburg, entscheidet über die neue Zusammensetzung des siebenköpfigen Evaluierungsausschusses für die Beurteilung der professionellen Geeignetheit der EGMR-Richterkandidaten ab Juni 2023

 Die Tätigkeit ist ehrenamtlich und auf zwei jeweils 3-jährige Mandate begrenzt.

 Luis López Guerra (Spanier, zweites Mandat, vom Ausschuss zum Vorsitzenden gewählt / Richter am EGMR 2008-2018);

 Mirjana Lazarova Trajkovska (Mazedonierin, erstes Mandat, vom Ausschuss zur stv. Vorsitzenden gewählt / Richterin am EGMR 2008-2017);

 Guido Raimondi (Italiener, zweites Mandat / Sektionspräsident am Kassationsgerichtshof, vordem Richter am EGMR 2010-2019, zuletzt dessen Präsident);

 Saale Laos (Estin, erstes Mandat / Vorsitzende des Strafsenats am Obersten Gerichtshof);

 Paul Lemmens (Belgier, erstes Mandat / Richter am EGMR 2012-2021);

 Irena Pelikánová (Tschechin, erstes Mandat / Richterin am Gericht der EU 2004-2019);

 Henrik Bull (Norweger, erstes Mandat / Richter am Obersten Gerichtshof). (Seite 404)

 EGMR (GK) befasst sich mit behaupteter Verletzung der Unschuldsvermutung (Art. 6 Abs. 2 EMRK) durch Entschädigungsverweigerung für Justizirrtümer / hier: Mündliche Verhandlung / Nealon ./. GB und Hallam ./. GB

 Beide Bf. hatten innerstaatlich zunächst beim Justizminister und dann durch alle gerichtlichen Instanzen bis hin zum Supreme Court als Opfer von Fehlurteilen erfolglos Entschädigung für die Fehlurteile beantragt. Ihnen wurde entgegengehalten, dass nach der Gesetzeslage ihnen nur dann Entschädigung zustünde, wenn eine neue oder neu entdeckte Tatsache jenseits vernünftiger Zweifel zeigen würde, dass sie die Taten nicht begangen haben.

 Die Bf. stützen ihre Rüge auf die Unschuldsvermutung in Art. 6 Abs. 2 EMRK und argumentieren, von ihnen würde zur Erlangung einer Entschädigung entgegen Art. 6 Abs. 2 EMRK verlangt, ihre Unschuld zu beweisen. (Seite 404)