EuGRZ
21. November 2023
50. Jg. Heft 17-20

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Informatorische Zusammenfassungen

Rainer Hofmann, Frankfurt am Main, behandelt „Schändungen des Korans und Meinungsfreiheit – Anmerkungen zur Rechtslage in Schweden“

 Prägend für die Rechtslage in Schweden ist die ungewöhnlich weitreichende Garantie der Meinungsfreiheit, die dazu geführt hat, dass von Polizeibehörden auferlegte Verbote von Koranverbrennungen von den Gerichten – im Einklang mit dem geltenden Versammlungsgesetz – aufgehoben wurden. Diese Ausgangslage gibt Anlass zu detaillierten Überlegungen anhand der bisherigen Rechtsprechung. Hofmann macht deutlich, dass bei der Frage wie mit Koranverbrennungen umzugehen ist, letztlich die schwedische Gesellschaft dazu aufgerufen ist, in eine Debatte über bisher unbeantwortete Grundsatzfragen einzutreten und dann darüber entscheiden muss.

 Initiatoren der Koranverbrennungen in Schweden oder sonstigen Schändungen des Korans (Fußtritte auf das Buch) sind zwei Personen: der aus dem Irak stammende Asylbewerber Salwan Momika sowie der Politiker und Anwalt mit dänischer und schwedischer Staatsangehörigkeit Rasmus Paludan.

Der Autor stellt zunächst die bisherige Rechtsprechung der schwedischen Verwaltungsgerichte dar. Kläger in einem ersten Verfahren war ein Verein „Kulturföreningen Apallerkerna“, vertreten durch seinen Vorsitzenden Chris Makoundoul, der öffentlich erklärt hatte, man wolle mit Koran-Verbrennungen das Verhältnis zwischen Schweden und der Türkei stören, um letztlich zum Scheitern des Beitritts Schwedens zur NATO beizutragen [Ablehnung des Versammlungsantrags durch die Polizeibehörde vom 8. Februar 2023, Urteil des VG Stockholm vom 4. April 2023, Urteil des Kammergerichts vom 12. Juni 2023]. Kläger in einem zweiten Verfahren war Salwan Momika [Ablehnung des Versammlungsantrags durch Polizeibehörde vom 10. Februar 2023, Urteil des VG Stockholm ebenfalls vom 4. April 2023 und des Kammergerichts ebenfalls vom 12. Juni 2023].

 In beiden Verfahren unterlag die Polizeibehörde mit dem Argument, dass nach Informationen des Inlandgeheimdienstes, durch Koranverbrennungen die Gefahr von gegen schwedische Staatsangehörige, Institutionen und Interessen gerichtete Terrorakte erheblich erhöht würde und deshalb Demonstrationen mit Koran-Verbrennungen polizeilich zu verbieten seien.

 Nach einer ausführlichen Würdigung der gerichtlichen Argumentation gelangt Hofmann zu dem Schluss: «Die vorstehenden Ausführungen haben deutlich gemacht, dass die Urteile schwedischer Verwaltungsgerichte, in denen Verbote von Versammlungen aufgehoben wurden, bei denen der Koran verbrannt oder anderweitig geschändet werden sollte, mit der geltenden schwedischen Rechtsordnung durchaus in Einklang stehen. Wichtig ist auch der Umstand, dass die Gerichte dabei überhaupt nicht auf die den Umfang der Garantie der Meinungsäußerungsfreiheit in allen ihren Ausdrucksformen im schwedischen Verfassungsrecht regelnden Vorschriften rekurrieren mussten, sondern sich auf eine fraglos vertretbare, wenn nicht sogar allein überzeugende Auslegung des einschlägigen einfachgesetzlichen Versammlungsrechts stützen konnten. Letztlich haben also die Gerichte den gesetzgeberischen Willen respektiert, den dem einfachen Gesetzgeber vom Verfassungsgeber eingeräumten Spielraum nicht zu nutzen.

 Deutlich wurde aber auch, dass eine Gesetzesänderung, die Verbote solcher Versammlungen mit der Begründung, sie stellten eine Gefahr für die nationale Sicherheit dar, da von ihnen eine erhöhte Gefahr von terroristischen Anschlägen gegen schwedische Staatsangehörige, Institutionen und Interessen ausgehen, auf einfachgesetzlicher Ebene, also ohne Änderung der Verfassung, möglich wäre. Dies würde aber dazu führen, dass die Genehmigung einer Versammlung, deren Ziel gerade in der Verletzung religiöser – oder anderer – Gefühle von Menschen liegt, davon abhängig wäre, in welchem Umfang die in ihren Gefühlen verletzten Menschen zur Begehung terroristischer Handlungen bereit wären. Dies erscheint als eine nicht hinnehmbare Folge einer bloßen Änderung des Versammlungsgesetzes, die als Einschränkung von Versammlungen die Gefahr für die nationale Sicherheit einführt. Es ist daher anzunehmen, dass Schweden, unabhängig von der Frage, ob eine solche Änderung des Versammlungsgesetzes initiiert und eingeführt wird, nicht um die Diskussion und Entscheidung herumkommt, ob und in welchem Umfang es an der bisherigen, im internationalen Vergleich ungewöhnlich umfassenden Reichweite der Garantie der Meinungsäußerungsfreiheit in allen ihren Ausdrucksformen festhält.» (Seite 405)

 Raven Kirchner, Frankfurt am Main, begründet seine „Grundsatzkritik an der wiederholten Weigerung der Presse- Kammer des LG Berlin, der Rechtsprechung des BVerfG zum Recht auf prozessuale Waffengleichheit zu folgen“

 Es geht darum, dass vor Erlass einer einstweiligen Verfügung gegen eine Publikation, das abgemahnte Presseorgan mit seinen Argumenten durch das entscheidende Gericht in einer mündlichen Verhandlung gehört werden muss oder ob im Einzelfall darauf verzichtet werden kann. «Das Bundesverfassungsgericht hatte das Recht auf prozessuale Waffengleichheit in einstweiligen Verfügungsverfahren im Jahr 2018 erstmals entwickelt. Bis dahin entsprach es der herrschenden Rechtspraxis, dass Antragsgegner entsprechender Verfügungsanträge aus dem Beschlussverfahren weitgehend herausgehalten wurden und die Verfahren zumeist ohne mündliche Verhandlung sowie ohne Beteiligung des Antragsgegners entschieden wurden. Dies erklärte das BVerfG für verfassungswidrig und fordert seitdem in ständiger Rechtsprechung grundsätzlich die Einbeziehung des Antragsgegners in das Verfahren, bevor über den Antrag durch Beschluss entschieden wird. Die an das Recht auf prozessuale Waffengleichheit anzusetzenden Maßstäbe sind mithin als verfassungsgerichtlich gesichert anzusehen. Trotzdem bereitet der Pressekammer des LG Berlin ihre Handhabung offenkundig Schwierigkeiten.»

 Der Autor stellt einleitend die Kernaussagen der Rechtsprechung des BVerfG zur prozessualen Waffengleichheit dar. Er geht in seiner Bewertung zunächst auf die Offenkundigkeit der Verletzung dieses Rechts sowie auf die Begründungserfordernisse bei Abweichung von verbindlichen verfassungsgerichtlichen Maßstäben ein und prüft die Reaktionsmöglichkeiten des BVerfG bei fortgesetzter Missachtung seiner Rechtsprechung, als da wären: Pressemitteilungen und als ultima ratio ein Hinweis an die Strafverfolgungsbehörden wegen des Verdachts strafbarer Rechtsbeugung.

 Abschließend stellt Kirchner fest: «Rechtsprechungsdivergenzen zwischen verschiedenen Gerichten sind nichts Ungewöhnliches und gefährden auch nicht per se die Rechtssicherheit. Dies erkennt auch das BVerfG in seiner ständigen Rechtsprechung an und betont, dass Gerichte selbst dann nicht an der Annahme einer von der herrschenden Auffassung abweichenden Ansicht gehindert sind, wenn sie damit der einzige Spruchkörper sind, der die entsprechende Norm dergestalt auslegt und sie sich somit auch gegen die ihnen im Rechtszug übergeordneten Instanzen stellen. Es mag im Einzelfall daher durchaus Gründe dafür geben, warum Fachgerichte von der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsauffassung abweichen wollen und dann entgegen der nach bundesverfassungsgerichtlicher Auffassung sie gemäß § 31 Abs. 1 BVerfGG bindenden Entscheidungsgründen judizieren. Das Verhalten der Pressekammer des LG Berlin stellt insofern auch kein Novum dar: Man denke diesbezüglich zum Beispiel an die Auseinandersetzung zwischen dem OVG Münster und dem BVerfG über das Verbot neonazistischer Demonstrationen ab dem Jahr 2001. Unabhängig von der Frage des sachlichen Bindungsumfangs des § 31 Abs. 1 BVerfGG, erscheint die nicht näher begründete, nachhaltige Nicht- bzw. Fehlumsetzung der verfassungsgerichtlichen Maßstäbe zum Recht auf prozessuale Waffengleichheit durch die Pressekammer des LG Berlin geeignet, auf Dauer die Verfassungsgerichtsbarkeit als Institution sowie ihre Autorität zu beschädigen. Die Pressekammer des LG Berlin sollte ihre Rechtsauffassung – welche zu einer weitgehenden Exklusion der Antragsgegner in äußerungs- und presserechtlichen einstweiligen Verfügungsverfahren führt – daher schon aus rechtsstaatlichen Erwägungen zum Schutz der Antragsgegner überdenken. Für den Fall künftigen Festhaltens an ihr ist die Pressekammer gehalten, ihre abweichende Rechtsauffassung ausführlich in Auseinandersetzung mit den bundesverfassungsgerichtlichen Maßstäben zu begründen. Dadurch würde dem BVerfG die Möglichkeit eröffnet, in künftigen Verfahren auf die Gründe der Pressekammer für ihr dauerhaft abweichendes Entscheidungsverhalten einzugehen. Hieraus könnte ein fruchtbarer Dialog über die Reichweite des Rechts auf prozessuale Waffengleichheit entstehen.» (Seite 410)

 Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Straßburg, zu Transsexuellenrechten, Kindeswohl sowie öffentlichem Interesse an Rechtssicherheit, Zuverlässigkeit und Kohärenz des Personenstands / Verletzung von Art. 8 (Schutz des Privatlebens) verneint / Weiter Beurteilungsspielraum / O.H. und G.H. gegen Deutschland

 Der erste Bf. O.H. wurde als Kind weiblichen Geschlechts geboren und entschied sich (noch während einer später geschiedenen Ehe mit einem Mann, 1.11.2008 bis 18.2.2013) für eine Geschlechtsumwandlung von Frau zu Mann. Nachdem das Amtsgericht Berlin-Schöneberg am 11. April 2011 anerkannt hatte, dass der Bf. von nun an dem männlichen Geschlecht zugehörig sei, setzte er die Hormonbehandlung ab, wurde wieder fruchtbar und gebar mittels einer Samenspende am 28. März 2013 den Bf. G.H. nach dessen Geburt der Bf. O.H. seine Hormonbehandlung fortsetzte und im Geburtenregister als „Vater“ eingetragen werden wollte, was Behörden und Gerichte ablehnten.

 Das bedeutet: Die gerichtliche Anerkennung der Zugehörigkeit einer transsexuellen Person zum männlichen Geschlecht gewährt keinen Anspruch darauf, als „Vater“ eines Kindes in das Geburtenregister eingetragen zu werden, wenn die transsexuelle Person nach Absetzen der Hormonbehandlung wieder fruchtbar geworden ist und ein Kind geboren hat. Der EGMR bestätigt nach ausführlicher Würdigung die Entscheidungen des Amtsgerichts Berlin-Schöneberg, des Kammergerichts (Berlin) und des Bundesgerichtshofs. Das BVerfG hatte die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen und von einer Begründung abgesehen.

 Zum einschlägigen rechtlichen Rahmen und zur innerstaatlichen Praxis werden das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB), das Gesetz über die Änderung der Vornamen und die Feststellung der Geschlechtszugehörigkeit in besonderen Fällen (Transsexuellengesetz – TSG) und das Personenstandsgesetz (PStG) angeführt. Es folgt eine Analyse der Rechtsprechung des BVerfG und der Zivilgerichtsbarkeit.

 Zum internationalen Recht und zur internationalen Praxis nimmt der Gerichtshof Bezug auf eine Entschließung der Parlamentarischen Versammlung des Europarats (Privat- und Familienleben, unabhängig von der sexuellen Orientierung). Es folgt das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte des Kindes sowie der Bericht des Sonderberichterstatters zum Recht auf Privatheit vor dem Menschenrechtsrat (A/HRC/43/52).

 Zur Rechtsvergleichung verweist der EGMR auf den Index für Transrechte in Europa und Zentralasien, der von der NGO Transgender Europe veröffentlicht wurde, sowie auf kürzlich ergangene Rspr. in Frankreich und im Vereinigten Königreich (England und Wales).

 In den breit angelegten Entscheidungsgründen setzt sich der EGMR nicht nur mit dem Vorbringen der Bf. und der betroffenen Regierung auseinander, sondern auch mit den Stellungnahmen zahlreicher Drittbeteiligter: Slowakische Regierung, TGEU, ILGA und Bundesvereinigung Trans*, European Centre for Law & Justice, Ordo-Juris-Institut, Professorin Sally Hines, Slowakisches Institut für Menschenrechte und Familienpolitik, Vereinigung der slowakischen Richter für Familienrecht, Slowakische Bischofskonferenz.

 Zusammenfassend stellt der EGMR fest: «In Anbetracht der Tatsache, dass einerseits das Abstammungsverhältnis zwischen den Bf. an sich nicht in Frage gestellt wurde, und angesichts der begrenzten Anzahl von Situationen, die bei der Vorlage einer Geburtsurkunde des zweiten Bf. zur Offenlegung der Transsexualität des ersten Bf. führen können, sowie des weiten Beurteilungsspielraums des beklagten Staates andererseits, ist der Gerichtshof der Ansicht, dass die deutschen Gerichte einen angemessenen Ausgleich zwischen den Rechten des ersten Bf., den Interessen des zweiten Bf., den Erwägungen zum Wohl des Kindes und den öffentlichen Interessen hergestellt haben.» Folglich kommt der EGMR zu dem Schluss, dass Art. 8 der Konvention nicht verletzt worden ist. Der weitere Beschwerdepunkt einer behaupteten Diskriminierung und damit Verletzung von Art. 14 i.V.m. Art. 8 wird als offensichtlich unbegründet zurückgewiesen. (Seite 417)

 EGMR sieht weiten Beurteilungsspielraum beim Schutz des Privatlebens (Art. 8 EMRK) im Transsexuellenrecht, er verneint eine Verletzung des Diskriminierungsverbots (Art. 14 i.V.m. Art. 8 EMRK) und betont Vorrang des Kindeswohls / Zeugung eines Kindes mit dem männlichen Samen einer transsexuellen Frau verleiht keinen Anspruch darauf, als „Mutter“ des Kindes eingetragen zu werden / A.H. u.a. gegen Deutschland

 Der Fall betrifft drei Bf., nämlich die Bf. zu 1, Frau A.H., eine transsexuelle Frau, ferner die Bf. zu 2, die den Bf. zu 3 geboren hat, der mit dem Samen der Bf. zu 1 gezeugt worden war. Der EGMR billigt die Ablehnung der Behörden und Gerichte, die 1. Bf., Frau A.H., als zweite Mutter im Geburtenregister einzutragen: «Der Gerichtshof stellt (…) fest, dass es unter den europäischen Staaten keinen Konsens darüber gibt, wie in Einträgen in Personenstandsregistern, die ein Kind betreffen, angegeben werden soll, dass eine der Personen, die die Elternschaft innehaben, transgeschlechtlich ist. Wie aus den von der Organisation Transgender Europe veröffentlichten Daten hervorgeht (…), sehen nur fünf Staaten des Europarats eine Eintragung des anerkannten Geschlechts in diesen Registern vor, wohingegen die Mehrheit der Staaten weiterhin die Person, die ein Kind geboren hat, als dessen Mutter bezeichnet, und es der Person, die zur Zeugung mit ihrem Samen beigetragen hat, ermöglicht, die Vaterschaft für das Kind anzuerkennen. Dieser fehlende Konsens zeigt, dass die Elternschaft einer Person, die ihre Geschlechtszugehörigkeit geändert hat, sensible ethische Fragen aufwirft, und spricht dafür, dass den Staaten grundsätzlich ein weiter Beurteilungsspielraum eingeräumt werden sollte.

 Der Gerichtshof stellt schließlich fest, dass die deutschen Behörden mehrere private und öffentliche Interessen und verschiedene widerstreitende Rechte gegeneinander abwägen mussten: erstens die Rechte der beiden Beschwerdeführerinnen; zweitens die Grundrechte und Interessen des Bf. zu 3 [des Kindes], d.h. sein Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung sowie sein Interesse an einer stabilen Zuordnung zu seinen Eltern, Rechte und Interessen, die nach den vom Bundesgerichtshof gemachten Ausführungen in seiner Grundsatzentscheidung vom 6. September 2017, auf die er sich in großen Teilen in seiner Entscheidung in der vorliegenden Rechtssache gestützt hat (…), einen anderen Schwerpunkt haben als die Bf. zu 1-3 meinen (…); schließlich das öffentliche Interesse, das in der Kohärenz der Rechtsordnung und der Richtigkeit und Vollständigkeit der Personenstandsregister liegt, denen eine besondere Beweiskraft zukommt. Auch dieser Umstand spricht dafür, dass es einen weiten Beurteilungsspielraum gibt.

 In Anbetracht all dieser Umstände ist der Gerichtshof daher der Ansicht, dass die deutschen Behörden in diesem Fall über einen weiten Beurteilungsspielraum verfügten.

 Der Gerichtshof verweist jedoch darauf, dass die vom Staat getroffenen Entscheidungen, selbst wenn sie sich innerhalb der Grenzen dieses Spielraums bewegen, der Kontrolle des Gerichtshofs unterliegen. Ihm obliegt es nämlich, die Argumente, die für die gewählte Lösung vorgebracht wurden, sorgfältig zu prüfen und zu untersuchen, ob ein angemessener Ausgleich zwischen den Interessen des Staates und den Interessen der von dieser Lösung direkt betroffenen Personen geschaffen wurde. Dabei muss, wann immer es um die Situation eines Kindes geht, der wesentliche Grundsatz beachtet werden, dass das Kindeswohl Vorrang hat.» (Seite 434)

 Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH), Luxemburg, gibt der Vertragsverletzungsklage der Kommission gegen Polen wegen Verletzung der Unabhängigkeit und des Rechts auf Achtung der Privatlebens von Richtern weitestgehend statt / Rs. Kommission gegen Polen

 In seinem Urteil (C-204/21) betont der Gerichtshof erstens den Grundwert der Rechtsstaatlichkeit, aus dessen rechtlich bindenden Verpflichtungen sich kein Mitgliedstaat unter Berufung auf innerstaatliche Bestimmungen oder Rechtsprechung lossagen könne.

 Der Gerichtshof bekräftigt zweitens seine Rechtsprechung, dass die Disziplinarkammer des Obersten Gerichts die gebotenen Anforderungen an Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nicht erfüllt. Die bloße Aussicht für Richter, die das Unionsrecht anzuwenden haben, Gefahr zu laufen, dass eine solche Instanz über ihren Status und ihre Amtsausübung entscheiden kann, könne ihre Unabhängigkeit beeinträchtigen, insofern diese Disziplinarkammer über Strafverfolgung incl. Festnahme oder Versetzung in den Ruhestand wegen deren Rechtsprechung entscheiden kann.

 Die Disziplinarordnung und die darin vorgesehenen Sanktionen können offenbar drittens dafür eingesetzt werden, um die nationalen Gerichte daran zu hindern, zu beurteilen, ob ein Gericht oder ein Richter den sich aus dem Unionsrecht ergebenden Anforderungen in Bezug auf einen wirksamen Rechtsschutz genügt, und dabei ggf. den EuGH um Vorabentscheidung zu ersuchen.

 Viertens verstößt es gegen Unionsrecht, dass die Zuständigkeit zur Überprüfung der Beachtung der wesentlichen Anforderungen an einen wirksamen Rechtsschutz einer einzigen nationalen Instanz (Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten beim Obersten Gericht) übertragen wurde. Die durch das Änderungsgesetz eingeführte monopolistische Kontrolle trage in Verbindung mit der Einführung der oben genannten Verbote und Disziplinarsanktionen dazu bei, das im Unionsrecht verankerte Grundrecht auf einen wirksamen Rechtsschutz weiter zu schwächen.

 Die nationalen Bestimmungen, die Richter verpflichten, eine schriftliche Erklärung mit Angaben zu ihrer etwaigen Mitgliedschaft in Vereinen, Stiftungen, Parteien vorzulegen, die dann im Internet veröffentlicht werden, können sie fünftens der Gefahr einer unzulässigen Stigmatisierung aussetzen. In einem Punkt allerdings wird die Klage der Kommission als unzulässig abgewiesen, und zwar soweit sie in ihrer ersten Rüge die Feststellung eines Verstoßes gegen Art. 267 AEUV (Vorabentscheidungsverfahren) begehrt. «Im vorliegenden Fall wird Art. 267 AEUV zwar u.a. in dem die erste Rüge betreffenden Klageantrag erwähnt, doch enthalten die Ausführungen in der Klageschrift im Rahmen der kurzen Darstellung dieser Rüge und das damit verbundene Vorbringen der Kommission überhaupt keinen Hinweis auf diesen Artikel und seine etwaige Verletzung und erst recht keine genauere Begründung, inwiefern die mit dieser Rüge beanstandeten nationalen Bestimmungen geeignet sein sollen, gegen den genannten Artikel zu verstoßen.» (Seite 446)

 Schweizerisches Bundesgericht (BGer), Lausanne, befasst sich mit Beschwerde gegen Löschung eines Kommentars zu Corona-Tests auf Instagram durch SRF News und betont Analogie zur Grundrechtsbindung der SRG (Schweizerische Radio- und Fernsehgesellschaft) im Werbebereich / Zurückweisung an Ombudsstelle SRG zur weiteren Prüfung

 Ausgangspunkt war ein Beitrag von SRF News auf Instagram: «Deutschland schafft kostenlose Corona-Tests ab». Der Kommentar von Frau A. lautete: «Sollen sie nur auch in der Schweiz einführen. Ich muss weder in eine Bar, noch sonst etwas. Von mir aus kann ich auch auf der Strasse tanzen und meine Drinks selbst mixen, zudem benötige ich keine Ferien im Ausland. Bin bisher gut ohne irgend einen Test oder eine Impfung ausgekommen.»

 Die SRF-News-Redaktion löschte den entsprechenden Kommentar wenige Stunden danach. Sie ging davon aus, dass dieser mit ihrer «Netiquette» (Regeln für das soziale Kommunikationsverhalten der SRG) unvereinbar sei.

 Nachdem die Bf. von keiner Instanz – SRG Deutschschweiz / Bundesamt für Kommunikation (BAKOM) / Unabhängige Beschwerdeinstanz für Radio und Fernsehen (UBI) – eine Sachentscheidung erlangen konnte, gelangte sie an das Bundesgericht, das die Sache an die Ombudsstelle SRG zurückverweist.

 In dem Urteil des BGer wird u.a. ausgeführt: «Die UBI wird somit jeweils (…) auf Gesuch hin, deshalb einzelfallbezogen zu prüfen haben, ob die SRG mit der Löschung eines Kommentars im übrigen publizistischen Angebot (üpA) unzulässigerweise in die Meinungsäusserungsfreiheit von dessen Autorinnen oder Autoren eingegriffen hat. Als Richtlinie kann dabei – in analoger Anwendung – die Rechtsprechung des Bundesgerichts zum ebenfalls privatrechtlich geregelten Werbebereich dienen (…). Die «Netiquette» für die Social- Mediaplattformen ist analog zu dieser zu handhaben, soweit die SRG sich solcher Kanäle bedient und in deren Rahmen Drittkommentare zulässt (…).» (Seite 485)

 BGer gegen Anerkennung der im deutschen Personenstandsregister vorgenommenen Streichung der Geschlechtsangabe einer intersexuellen Person / Änderung des Vornamens von bisher „C.“ in „A.“ anerkannt

 C.B., geb. 1989 mit Bürgerrecht in V. (Kanton Aargau) hat Wohnsitz in Deutschland und ist dort nach Änderung des deutschen Personenstandsregisters nur noch mit dem Vornamen „A.“ eingetragen. Deshalb wollte A.B. durch die Schweizerische Botschaft in W. die von den deutschen Behörden vorgenommene Streichung der Geschlechtsangabe und die Umwandlung des Vornamens von „C.“ in „A.“ erreichen, damit dies in der Schweiz anerkannt werde. Das in der Folge befasste Departement für Volkswirtschaft und Inneres (DVI) lehnte das Gesuch in Bezug auf die Streichung der Geschlechtsangabe ab. Hingegen wurde die Änderung des Vornamens anerkannt.

 Das Obergericht des Kantons Aargau hob die ablehnende Verfügung des DVI auf und ordnete in Anerkennung der vor dem Standesamt W. abgegebenen Erklärung die Streichung der Geschlechtsangabe im schweizerischen Personenstandsund Geburtenregister an.

 Hiergegen erhob das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement, handelnd durch das Bundesamt für Justiz (BJ), Beschwerde in Zivilsachen und verlangte die Aufhebung des obergerichtlichen Entscheids und die Bestätigung der Verfügung des DVI.

 In dem Urteil des BGer heißt es: «Fest steht, dass die beschwerdegegnerische Person – in der Schweiz geboren und mit Schweizer Bürgerrecht – im schweizerischen Personenstandsregister mit dem Geschlecht „weiblich“ eingetragen ist. (…) Das BJ beanstandet daher zu Recht, dass das Obergericht die Nachbeurkundung der im Ausland erfolgten Streichung der Geschlechtsangabe nicht abgelehnt hat. (…) Es ist Sache des Gesetzgebers, die rechtliche Regelung zu ändern. Das Obergericht hat – wie sich aus der Einführung von Art. 40a IPRG ergibt – den Zweck der Eintragung, die binäre Angabe des Geschlechts, und damit schweizerische Grundsätze der Registerführung unrichtig angewendet. Nach dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers ist die Weiterführung der bisherigen Geschlechtsangabe (Mann oder Frau) im Register einstweilen hinzunehmen.» (Seite 489)

 Österreichischer Verfassungsgerichtshof (VfGH), Wien, erklärt auf Antrag der Burgenländischen Landesregierung das ORF-Gesetz teilweise für verfassungswidrig, weil die Leitungsorgane – Stiftungs- und Publikumsrat – den Anforderungen an Unabhängigkeit und Pluralismus nicht entsprechen

 Zusammengefasst bringt die Burgenländische Landesregierung u.a. mit Verweis auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom25.März 2014 [Urteil zum ZDF-Staatsvertrag, EuGRZ 2014, 351] vor, die Ausgestaltung der Gremien des ORF würde einen „Staatsferne-Test“ nicht bestehen, weil die Mitglieder dieser Gremien überwiegend nicht hinreichend staatsfern bestellt würden und weil gesetzliche Vorkehrungen für Vielfalt in den Gremien und für ausreichende Transparenz fehlten.

 Der VfGH gibt nur einem Teil der Anträge statt, ansonsten weist er sie als unzulässig zurück. Aus dem detailliert begründeten Erkenntnis ergeben sich u.a. folgende Grundsätze:

 Das BVG Rundfunk und Art. 10 EMRK konstituieren – über Art. 10 Abs. 1 Satz 3 EMRK verbunden – eine Funktionsverantwortung des Bundesgesetzgebers für die Ausgestaltung der Rundfunkordnung, die umfassend die Freiheit des öffentlichen Diskurses im Wege des Rundfunks gewährleisten soll.

 Die Funktions- und Finanzierungsverantwortung des Gesetzgebers für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk umfasst die Verpflichtung, die gesetzlichen Rahmenbedingungen so auszugestalten, dass eine den Grundsätzen des Art. I Abs. 2 zweiter Satz BVG Rundfunk entsprechende öffentlich-rechtliche Rundfunkveranstaltung gewährleistet ist, ebenso wie die institutionelle Verpflichtung, diese Programmveranstaltung durch einen öffentlich-rechtlichen Rundfunkveranstalter zu organisieren.

 Die Unabhängigkeitsgarantie des Art. I Abs. 2 zweiter Satz BVG Rundfunk schützt den ORF und seine Organe vor staatlichen wie privaten Einflussnahmen und Abhängigkeiten, die ihre Funktionsfähigkeit beeinträchtigen. Insbesondere sollen weder staatliche noch private Kräfte über Einflussnahme auf die Leitungsorgane des ORF die Tätigkeit der programmgestaltenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des ORF für ihre Zwecke beeinflussen können.

 Ist die Bestellung der Mitglieder kollegialer Leitungsorgane des ORF aus Gründen der Repräsentation der Allgemeinheit und damit entsprechender demokratischer Legitimation obersten staatlichen Organen anvertraut, muss die Unabhängigkeit der laufenden Tätigkeit der (kollegialen) Leitungsorgane des ORF gerade auch gegenüber diesen staatlichen Organen und den politischen Kräften, die sie repräsentieren, gewährleistet sein.

 Konkret bezogen auf die Bestellung bestimmter Mitglieder im Stiftungsrat (ihm gehören insgesamt 35 Personen an), betont der VfGH, es sei nicht zu rechtfertigen, dass die Bundesregierung, soweit sie neun Mitglieder bestellen kann, keinen über die allgemeinen persönlichen und fachlichen Anforderungen hinausgehenden Bindungen unterliegt, die eine Vielfalt im Stiftungsrat bewirken soll: Das verschafft der Bundesregierung ein deutliches Übergewicht gegenüber den für die Vielfalt im Stiftungsrat besonders relevanten Mitgliedern, die der Publikumsrat bestellt. Aufgrund Art. I Abs. 2 BVG Rundfunk muss zumindest gewährleistet sein, dass der Publikumsrat nicht weniger Mitglieder bestellt als die Bundesregierung. § 20 Abs. 1 erster Satz Z 3 und Z 4 ORF-G sind daher verfassungswidrig.

 Die Aufhebung der für verfassungswidrig erklärten Bestimmungen tritt mit Ablauf des 31. März 2025 in Kraft. (Seite 494)

 Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, sieht in der Verurteilung eines Apothekers zu zwölf Jahren Freiheitsstrafe wegen des Verkaufs von über 14.000 unterdosierten patientenindividuellen Medikamenten keinen Grundrechtsverstoß / Grundsätze gleichartiger Wahlfeststellung wurden verfassungsgemäß angewendet

 Die inkriminierten Arzneimittelzubereitungen enthielten entweder eine zu niedrige Menge des ärztlich verordneten Wirkstoffs oder gar keinen Wirkstoff. Das LG Essen stellte fest, der Bf. wollte durch das heimliche Einsparen von Wirkstoffen den «Gewinn der Apotheke maximieren, um seinen luxuriösen Lebensstil zu finanzieren».

 Die dritte Kammer des Zweiten Senats des BVerfG nimmt die Vb. nicht zur Entscheidung an und führt aus: «Die Verurteilung des Beschwerdeführers stellt keinen Verstoß gegen den Schuldgrundsatz dar, und auch eine anderweitige Grundrechtsverletzung ist nicht dargetan oder ersichtlich.» (Seite 511)

 BVerfG hält Erlass einer einstweiligen Verfügung allein auf der Basis des Vortrags des Antragstellers ohne Anhörung der Gegenseite (hier: zum wiederholten Male durch LG Berlin) grundsätzlich für verfassungswidrig / Durchsetzung des Rechts auf prozessuale Waffengleichheit

 Die 1. Kammer des Ersten Senats führt aus: «Entbehrlich ist eine vorherige Anhörung nur in Ausnahmefällen. Voraussetzung der Verweisung auf eine nachträgliche Anhörung ist, dass ansonsten der Zweck des einstweiligen Verfügungsverfahrens vereitelt würde. (…) Eine stattgebende Entscheidung über den Verfügungsantrag kommt grundsätzlich nur in Betracht, wenn die Gegenseite die Möglichkeit hatte, auf das mit dem Antrag und weiteren an das Gericht gerichteten Schriftsätzen geltend gemachte Vorbringen zu erwidern. (…)

 In jedem Fall unzulässig ist es, wegen einer gegebenenfalls durch die Anhörung des Antragsgegners befürchteten Verzögerung oder wegen einer durch die Stellungnahme erforderlichen, arbeitsintensiven Auseinandersetzung mit dem Vortrag des Antragsgegners bereits in einem frühen Verfahrensstadium gänzlich von einer Einbeziehung der Gegenseite abzusehen und sie stattdessen bis zum Zeitpunkt der auf Widerspruch hin anberaumten mündlichen Verhandlung mit einem einseitig erstrittenen gerichtlichen Unterlassungstitel zu belasten.» (Seite 514)

 Eingehend hierzu s. Raven Kirchner, Grundsatzkritik an der wiederholten Weigerung der Pressekammer des LG Berlin, der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Recht auf prozessuale Waffengleichheit zu folgen, EuGRZ 2023, 410 ff. (in diesem Heft).

 BVerfG betont Erforderlichkeit der Rechtswegerschöpfung auch in äußerungsrechtlichem Eilverfahren

 Die Beschwerdeführer, eine lokale politische Initiative und ihr Vorstand, wenden sich mit ihrer Verfassungsbeschwerde gegen eine einstweilige Verfügung des LG Potsdam, durch die ihnen teilweise untersagt wurde, auf der von ihnen verantworteten Internetseite „Potsdam – Stadt für alle“ über ein mit Immobilieninvestitionen in Potsdam engagiertes, im internationalen Erdölhandel tätiges Unternehmen zu berichten. Titel: „Wie Profite aus dem Geschäft mit russischen Erdölprodukten in Potsdam angelegt werden.“

 Die Bf. rügen eine Verletzung ihres Rechts auf prozessuale Waffengleichheit, da das LG die einstweilige Verfügung erlassen habe, ohne ihre Schutzschrift zur Kenntnis zu nehmen. Das BVerfG nimmt die Vb. wegen Nichterschöpfung des Rechtswegs nicht zur Entscheidung an und stellt im Unterschied zu der hier kritisierten Pressekammer des LG Berlin fest: «Insbesondere ist weder vorgetragen noch auch nur ersichtlich, dass der gerügte Verfahrensfehler statt eines im Einzelfall unterlaufenen Versäumnisses Ausdruck einer ständigen Entscheidungspraxis des Landgerichts wäre.» (Seite 517)

 Siehe auch hier Raven Kirchner, EuGRZ 2023, 410 ff. (in diesem Heft).

 BVerfG kritisiert überlange Dauer eines Haftprüfungsverfahrens (1 Jahr) als Verletzung des Grundrechts auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG)

 Der Bf. steht im Verdacht, diverse Wirtschaftsstraftaten begangen zu haben. Auf seine Nachfrage, wann mit einer Entscheidung zu rechnen sei, teilte das OLG Frankfurt am Main mit, der Berichterstatter sei längerfristig krankheitsbedingt verhindert. Die vertretungsweise zur Berichterstatterin bestellte Richterin wollte angesichts „eigener“ vorrangig zu bearbeitender Haftsachen, eines anstehenden Urlaubs sowie einer Corona-Erkrankung in der Familie keinerlei Angaben machen, wann mit einer Entscheidung zu rechnen sei.

 Die 3. Kammer des Zweiten Senats gelangt zu dem Ergebnis: «Indem die Entscheidung des Oberlandesgerichts aber erst knapp sechs Monate nach Ablauf der Sechsmonatsfrist des § 121 Abs. 1 StPO ergangen ist, hat das Oberlandesgericht durch die überlange Verfahrensdauer dem Beschwerdeführer faktisch nicht nur die gemäß § 121 Abs. 1, § 122 StPO vorgesehene Sechsmonatsprüfung, sondern auch die durch § 122 Abs. 4 StPO vorgeschriebene Nachprüfung nach neun Monaten genommen.» (Seite 520)

 BVerfG erklärt die Wiederaufnahme des Strafverfahrens (wegen Vergewaltigung und Mordes) zu Ungunsten des vor über 30 Jahren rechtskräftig Freigesprochenen aufgrund neuer Tatsachen bzw. Beweismittel für verfassungswidrig / Verstoß gegen Art. 103 Abs. 3 GG auch i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG (Vertrauensschutz) / • Abw. Meinung Müller und Langenfeld

 Die Leitsätze des Zweiten Senats lauten: «1. Das grundrechtsgleiche Recht des Art. 103 Abs. 3 GG enthält kein bloßes Mehrfachbestrafungsverbot, sondern ein Mehrfachverfolgungsverbot, das Verurteilte wie Freigesprochene gleichermaßen schützt.

 2. Es entfaltet seine Wirkung auch gegenüber dem Gesetzgeber, wenn dieser die gesetzlichen Voraussetzungen für eine erneute Strafverfolgung durch die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens schafft.

 3. Das in Art. 103 Abs. 3 GG statuierte Mehrfachverfolgungsverbot trifft eine Vorrangentscheidung zugunsten der Rechtssicherheit gegenüber der materialen Gerechtigkeit. Diese Vorrangentscheidung steht einer Relativierung des Verbots durch Abwägung mit anderen Rechtsgütern von Verfassungsrang nicht offen, sodass dem Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des Wiederaufnahmerechts insoweit kein Gestaltungsspielraum zukommt.

 4. Art. 103 Abs. 3 GG umfasst nur eine eng umgrenzte Einzelausprägung des Vertrauensschutzes in rechtskräftige Entscheidungen. Er schützt den Einzelnen allein vor erneuter Strafverfolgung aufgrund der allgemeinen Strafgesetze, wenn wegen derselben Tat bereits durch ein deutsches Gericht ein rechtskräftiges Strafurteil ergangen ist.

 5. Im Rahmen dieses begrenzten Schutzgehalts verbietet Art. 103 Abs. 3 GG die Wiederaufnahme von Strafverfahren zum Nachteil des Grundrechtsträgers nicht generell, jedenfalls aber die Wiederaufnahme aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel.

 6. Freigesprochene dürfen darauf vertrauen, dass die Rechtskraft des Freispruchs nur aufgrund der zum Zeitpunkt des Eintritts der Rechtskraft geltenden Rechtslage durchbrochen werden kann. Der Grundsatz ne bis in idem erkennt die Schutzwürdigkeit des Vertrauens in ein freisprechendes Strafurteil an und Art. 103 Abs. 3 GG verleiht diesem Vertrauensschutz Verfassungsrang.» (Seite 524)

 Abw. M. Müller/Langenfeld: «Der Auffassung der Senatsmehrheit, dass der Strafklageverbrauch nach Art. 103 Abs. 3 GG einer Ergänzung der bestehenden Wiederaufnahmegründe zuungunsten der betroffenen Person prinzipiell entgegensteht, können wir nicht folgen.» (Seite 541)

 EGMR-Richterwahl: Serbische Liste wegen substantieller Mängel zurückgewiesen. (Seite 548)

 EGMR — Strafbarkeit der Sterbehilfe / Beschwerde der ungarischen Regierung zur Stellungnahme übermittelt / Dániel Karsai gegen Ungarn (Seite 548)