EuGRZ |
30. August 2022
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49 Jg. Heft 13-16
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Informatorische Zusammenfassungen
Andreas Paulus, Göttingen, mit einigen grundsätzlichen Bemerkungen über „Die Zukunft der Verfassungsgerichtsbarkeit in herausfordernden Zeiten“
In seiner Rede zur Verabschiedung nach zwölf Jahren als Richter im Ersten Senat des BVerfG geht Paulus zunächst auf sein Alter bei Amtsantritt ein: «Aber was macht ein damals 41-jähriger Völkerrechtler im Grundrechtssenat des Bundesverfassungsgerichts, mit Zuständigkeiten als Berichterstatter für Kunstfreiheit, geistiges Eigentum, Abgabenrecht, Glücksspielrecht, später auch das Betreuungs- und Wettbewerbsrecht, ein wahrer juristischer Gemischtwarenladen also, den die Geschäftsverteilung da für mich vorgesehen hatte?
Zunächst ist es ein Missverständnis, dass für das Gericht vor allem Fachleute für einzelne Gebiete gesucht werden. Hervorragende Fachgerichte hat das Land bereits. Es geht um eine allgemeine Grundrechts- und in diesem Rahmen Rationalitätskontrolle aus Bürgersicht. Dann aber ist internationale Erfahrung genauso relevant wie richterliche oder administrative.
Dazu kommt die steigende Relevanz des internationalen Menschenrechtsschutzes, der Rechtsvergleichung und des Europarechts für die Rechtsprechung beider Senate. Damit erfüllt das Gericht den Verfassungsauftrag, wie dies auch der Topos der Völkerrechts- und jetzt auch der Europarechtsfreundlichkeit zeigt.»
Paulus befasst sich mit der lauter werdenden Kritik an der Verfassungsgerichtsbarkeit, nicht hilfreichen Entscheidungen des US Supreme Court, bedrohlichen Entwicklungen im Vereinigten Königreich zur Beschränkung von Menschenrechten «durch ein Gesetz, das auch noch – adding insult to injury – Bill of Rights heißen soll» und Beeinträchtigungen der Unabhängigkeit der Justiz in Polen durch eine «verfassungs- und menschenrechtswidrige Fehlbesetzung des nur noch sogenannten polnischen Verfassungstribunals».
Zum internationalen Dialog und seinen Grenzen führt Paulus aus: «Die Rolle des internationalen, europäischen und ausländischen Rechts ist in einer Weise gewachsen, wie dies zum Zeitpunkt meines Studiums unvorstellbar war. (…)
Die Rechtsprechung beider Senate erfüllt den Integrationsauftrag des Grundgesetzes, in der europäischen Ordnung mitzuwirken, im europäischen Verfassungsgerichtsverbund, aber nicht um den Preis seiner Identität (Art. 23 Abs. 1 GG) – zu der allerdings auch die europäische Integration selbst gehört. (…)
Dialog heißt aber natürlich nicht, dass sich stets eine Seite durchsetzt; er erfordert Gesprächsbereitschaft auf beiden Seiten. Hier hat es in den vergangenen zwölf Jahren gelegentlich, und einmal laut vernehmlich, gekracht. Auch das gehört zu einem ehrlichen Dialog, dass Grenzen bestimmt, ja ausgetestet werden. Aber das sollte die absolute Ausnahme bleiben; und darin liegt eben keine Aberkennung des Anwendungsvorrangs europäischen Rechts im Rahmen der europäischen Zuständigkeiten, für deren Auslegung grundsätzlich der EuGH zuständig ist. Denn die Gerichte sind in Europa nur dann stark, wenn sie mit einer Stimme sprechen.» (Seite 357)
Rainer Hofmann und Alexander Heger, Frankfurt am Main, vertiefen die Frage nach der „Zukunft der Europäischen Union als Werteunion“
Die Autoren entfalten die in Art. 2 EUV angelegten Elemente der Werteunion. Sie setzen die Schwerpunkte auf Demokratie und Rechtsstaatlichkeit als Bestandteile der Werteunion, auf deren Inhalte und Zukunft im Verfassungsverbund sowie auf die Anforderungen an die Unabhängigkeit der Gerichte und deren dogmatische Grundlagen.
«Mit den Werten wird ein allgemeiner rechtlicher Ordnungsrahmen bereitgestellt, der vielfältige Interaktion und Kooperation ermöglicht und darin allmählich politische Identität stiften soll. Dieser Ordnungsrahmen ist auch notwendig, da in der EU verschiedene Mitgliedstaaten verbunden sind, die jeweils unterschiedlich ausgestaltet sind. Erforderlich ist jedoch ein Kernbestand an Werten, den Art. 2 EUV sichert. Funktional schaffen die Wertegewährleistungen ein Mindestmaß an normativer Homogenität (vgl. die vertikale Dimension des Art. 2 S. 2 EUV). Diese ist auch notwendig, da die gewisse Homogenität der Mitgliedstaaten die Handlungsfähigkeit der Union sichert. Eine funktionsfähige EU kann nicht aus beliebigen staatlichen Ordnungen bestehen, sondern setzt eine gewisse notwendige Nähe und Verbundenheit voraus. Schließlich wirken die Nationalstaaten am Erlass von supraoder internationalen Vorschriften mit und sind deren zentrales Vollzugsorgan. Die Mitgliedstaaten und ihre Bürger sind demnach Teil des Staatenverbundes und durch die Unionsbürgerschaft miteinander vernetzt und verbunden.
Es ist in diesem Zusammenhang nicht untertrieben, wenn Art. 2 EUVals das „Bollwerk“ für die EU bezeichnet wird. Die enthaltenen Werte bilden somit einen Teil der materiellen Verfassung der Europäischen Union und sind – neben dem Vorrang des Unionsrechts – integraler Teil des identitätsstiftenden Kerns.
Dieser Befund kann Kritik hervorrufen, gerade mit Blick auf den Verlust von mitgliedstaatlicher Autonomie. Der Vorwurf, der Werten entgegengebracht wird, bezieht sich auf deren Konturlosigkeit und Beliebigkeit. Auch eine strikte Auslegung des homogenen Kerntatbestandes bedinge somit die Gefahr, die mitgliedstaatliche Autonomie zu unterwandern.
Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass die Mitgliedstaaten der Wertefestlegung durch Art. 2 EUV zugestimmt und einen Teil ihrer Souveränität bewusst an die EU übertragen haben. Die festgelegten Werte sind dabei auch nicht willkürlich gewählt, sondern als Teil einer gemeinsamen Verfassungskultur eingebracht worden. Sie waren auch schon zuvor notwendige Voraussetzung für die Mitgliedschaft in der EU. Hierbei ist stets zu betonen, dass die EU kein Bundesstaat ist und somit auch keine Kompetenz-Kompetenz besitzt. (…)
Bezogen auf den Wert ‚Demokratie‘ ist festzuhalten, dass dieser in einer pluralistischen Gesellschaft einen intrinsischen Wert aufweist, da sie eine „inhaltsunabhängige“ Form der Legitimierung kollektiver Entscheidungen gewährt. Gerade aufgrund der dualen Legitimation in der EU – EP und Ministerrat – bedeutet die übermäßige Einbeziehung von Ansichten demokratisch rückständiger Staaten in die Entscheidungsfindung der EU eine Beeinträchtigung der demokratischen Qualität der EU, insbesondere im Rat. Art. 2 EUV konzipiert die EU nämlich als Union der Demokratien. Nach diesen Grundsätzen bedeutet Demokratie wiederum nicht, dass durch Verfassungs- und Gesetzesänderungen Regierungsgewalt systematisch gefestigt und aus dieser Rechtssetzung geschlossen wird, dass diese Änderungen demokratisch und rechtsstaatlich seien. Es gibt zudem einen Unterschied zwischen der Staatsform ‚Demokratie‘ und dem eigentlichen Regieren. Illiberale Deutungen von Verfassungsidentität und Verfassungspluralismus, die gegen die EU und die gemeinsamen Werte in Stellung gebracht werden, können somit keinen Beurteilungsspielraum eröffnen. Auf dieser Linie liegt auch die Entscheidung des EuGH bezüglich des ungarischen Transparenzgesetzes, welches Melde- und Offenlegungspflichten für Vereine und Stiftungen, die finanzielle Unterstützung aus dem Ausland erhalten, normierte. Der EuGH erklärte dieses Gesetz für mit der Kapitalverkehrsfreiheit aus Art. 63 AEUV sowie einigen Grundrechten aus der GRCh unvereinbar. Allerdings wird zutreffend kritisiert, dass der EuGH in diesem Urteil nicht auf Art. 2 EUV eingeht, obwohl Auslegungsfragen des Demokratieprinzips betroffen sind.»
Hofmann/Heger setzen sich sodann mit der Unabhängigkeit der Gerichte auseinander, gehen auch auf die Rechtsprechung des EGMR hierzu ein und knüpfen an das vom EuGH festgestellte Rückschrittsverbot die Schlussfolgerung: «Dieses Rückschrittsverbot stellt die mitgliedstaatliche Verfassungspluralität nicht in Frage. Vorschriften des nationalen Rechts dürfen nicht die verfassungsrechtlichen Grundsätze, auf denen die EU beruht, untergraben.»
In ihrem Fazit halten die Autoren fest: «Abschließend bleibt zu betonen, dass die Werte des Art. 2 EUV Mindeststandards auch für die Mitgliedstaaten setzen, deren Einhaltung sowohl Aufgabe der europäischen Institutionen als auch der Mitgliedstaaten selbst ist. Diese Werte stehen dabei aufgrund von mitgliedstaatlichen Maßnahmen, vor allem aus Polen und Ungarn, erheblich unter Druck. Gleichwohl muss die Wertediskussion offen geführt und durch vertrauensbildende Maßnahmen flankiert werden.» (Seite 361)
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Straßburg, stellt auf Antrag des Ministerkomitees (MK) nach Art. 46 Abs. 4 EMRK Pflichtverletzung der Türkei durch Nichtbefolgung des Kavala-Urteils von 2019 fest
Der auf diese Weise von der Großen Kammer (GK) festgestellte Verstoß gegen Art. 46 Abs. 1 EMRK (Urteilsbefolgungspflicht) macht für das MK den Weg frei, gegenüber der Türkei Sanktionen zu verhängen, die bis zum Ausschluss aus dem Europarat führen können.
- Der bisherige Verfahrensgang
Der EGMR war im Kavala-Urteil vom 10. Dezember 2019 zu dem Ergebnis gelangt, dass die für die fortgesetzte Inhaftierung von Herrn Kavala vorgebrachten Verdachtsgründe unzureichend waren und deshalb Art. 5 Abs. 1 allein sowie i.V.m. Art. 18 der Konvention verletzt waren. Die Faktenlage zeige, der eigentliche Zweck der Strafverfolgungsmaßnahmen habe darin bestanden, Herrn Kavala zum Schweigen zu bringen und eine abschreckendeWirkung auf Menschenrechtsverteidiger auszuüben.
Im Kammer-Urteil von 2019 hatte der Gerichtshof ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die fortdauernde Haft eine fortdauernde Verletzung der Konvention darstellt, der nur durch die unverzügliche Freilassung des Bf. abgeholfen werden könne. Unmissverständlich war im Tenor des Urteils von 2019, Ziff. 7, festgestellt worden: „… die unverzügliche Freilassung des Bf. ist sicherzustellen“.
- Der Antrag des MK gem. Art. 46 Abs. 4 EMRK
Nachdem die türkischen Behörden immer wieder neue strafrechtliche Gründe vorgebracht haben, um Herrn Kavala in Haft zu behalten, die allerdings auf den alten Fakten basierten, die der Gerichtshof bereits in dem ursprünglichen Urteil vom 10. Dezember 2019 geprüft und für unzureichend befunden hatte, war das Ministerkomitee zu der Überzeugung gelangt, dass die türkische Regierung sich pflichtwidrig weigert, das Urteil zu befolgen, und hat deshalb nach Art. 46 Abs. 4 den Gerichtshof angerufen.
- Das Urteil der Großen Kammer vom 11. Juli 2022 im Pflichtverletzungsverfahren (Art. 46 Abs. 4 EMRK)
Die GK stellt grundsätzlich fest: «Ein Pflichtverletzungsverfahren hat nicht zum Ziel, die Frage einer Verletzung [der Konvention], die der Gerichtshof in seinem ursprünglichen Urteil bereits entschieden hat oder die Zuerkennung einer Entschädigungszahlung erneut zu behandeln; das Pflichtverletzungsverfahren versucht, Druck aufzubauen, um die Vollstreckung des ursprünglichen Urteils des Gerichtshofs sicherzustellen (…). Es wurde eingeführt, um die Effektivität des Überwachungsverfahrens zu steigern – um es zu stärken und zu beschleunigen.»
Weiter heißt es abschließend: «Der Gerichtshof stellt jedoch fest, dass an dem Tag, an dem ihm das Ministerkomitee die Sache vorgelegt hat, und trotz dreier Entscheidungen, Herrn Kavala gegen Kaution freizulassen und einem freisprechenden Urteil, er immer noch seit vier Jahren, drei Monaten und vierzehn Tagen in Untersuchungshaft gehalten wurde, und zwar auf der Grundlage von Fakten, die der Gerichtshof in seinem ursprünglichen Urteil für unzureichend befunden hat, um den Verdacht zu rechtfertigen, dass er „irgendeine kriminelle Tat“ begangen hat, vielmehr handelte er „weitgehend in Ausübung von Konventionsrechten“ (…).»
«Im Lichte der vorstehenden Ausführungen gelangt der Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass die von der Türkei angegebenen Maßnahmen nicht die Schlussfolgerung erlauben, dass die Vertragspartei „in gutem Glauben“ gehandelt hat, in einer Weise, die mit den „Schlussfolgerungen und dem Geist“ des Kavala-Urteils vereinbar ist oder geeignet wäre, bezüglich der vom Gerichtshof in jenem Urteil für verletzt befundenen Konventionsrechte praktischen und effektiven Schutz zu gewährleisten.
In Beantwortung der vom Ministerkomitee vorgelegten Frage gelangt der Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass die Türkei sich geweigert hat, ihrer Verpflichtung aus Art. 46 Abs. 1 nachzukommen, das Urteil Kavala ./. Türkei vom 10. Dezember 2019 zu befolgen.» (Seite 378)
EGMR (in der Besetzung als Ausschuss von drei Richtern) stellt fest, dass er keine Entscheidungsbefugnis für die erneute Prüfung der Dauer von Ermittlungen hat und dass eine erneute Beschwerde in derselben Sache unzulässig ist / [Teresa] Jordan ./. Vereinigtes Königreich
In der Sache geht es um die Tötung eines jungen Mannes durch britische Sicherheitskräfte in Nordirland und die sich hinziehenden Ermittlungen. Im vorliegenden Verfahren ist Bf. die Mutter des getöteten Pearse Jordan und die Witwe von Hugh Jordan, der als Vater des Getöteten vor dem EGMR das hier maßgebliche Urteil vom 4. Mai 2001 (Hugh Jordan ./. Vereinigtes Königreich) erwirkt hatte. In dem genannten Urteil hatte der Gerichtshof eine Verletzung von Art. 2 EMRK (Recht auf Leben) unter dem verfahrensrechtlichen Aspekt identifiziert, u.a. weil die Untersuchung der Umstände des Todes nicht unverzüglich aufgenommen und nicht mit angemessenem Nachdruck geführt wurde. Dem beschwerdeführenden Vater wurden damals vom EGMR 10.000,– brit. Pfund für immateriellen Schaden zugesprochen.
In der jetzigen Entscheidung des EGMR heißt es: «Wenn es auch bedauerlich ist, dass elf Jahre zwischen dem Urteil des Gerichtshofs von 2001 und dem Beginn der zweiten gerichtlichen Untersuchung (inquest) vergangen sind, so hat der Gerichtshof – angesichts der Tatsache, dass er bereits eine Verletzung der verfahrensmäßigen Verpflichtung aus Art. 2 festgestellt hat, was die Feststellung einschloss, dass die Untersuchung (investigation) weder unverzüglich aufgenommen noch mit angemessenem Nachdruck durchgeführt wurde – keine Entscheidungsbefugnis, das Problem der Ermittlungsverzögerung jetzt erneut zu prüfen.» (Seite 388)
Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH), Luxemburg, beanstandet Disziplinarverfahren gegen Richter in Rumänien / Hintergrund: Anwendung des Unionsrechts in der Auslegung des EuGH in Abweichung von der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts / Rs. RS
Im Kern geht es bei der auf Vorlage des Berufungsgerichts Craiova ergangenen Vorabentscheidung der Großen Kammer (GK) darum, dass das rumänische Verfassungsgericht – gestützt auf die Verfassungsbestimmung zum Vorrang des Unionsrechts – den ordentlichen Gerichten in bestimmten Fragen die Anwendung des Unionsrechts in der Auslegung des EuGH durch die eigene Auslegung des Unionsrechts verwehren will. Diese Problematik ist – abgesehen von dem hier vorliegenden Fall betr. Rumänien – darüber hinaus im Zusammenhang mit den politisch bestimmten Versuchen der polnischen und ungarischen Regierung zu sehen, die Autorität des EuGH zu untergraben, um eigene Macht ohne die rechtsstaatliche Kontrolle durch eine unabhängige Justiz zu festigen.
Die Große Kammer (GK) stellt im Tenor fest: «Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 2 und Art. 4 Abs. 2 und 3 EUV, Art. 267 AEUV und dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung oder Praxis entgegensteht, wonach ein nationaler Richter mit der Begründung disziplinarisch belangt werden kann, dass er das Unionsrecht in seiner Auslegung durch den Gerichtshof angewandt habe und damit von einer mit dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts unvereinbaren Rechtsprechung des Verfassungsgerichts des betreffenden Mitgliedstaats abgewichen sei.» (Seite 391)
EuGH beanstandet Anpassung (Herabsetzung) der Höhe von Familienleistungen (soziale und steuerliche Vergünstigungen) für Erwerbstätige in Österreich, deren Kinder ständig in einem anderen Mitgliedstaat leben, an das Preisniveau in deren Wohnstaat / KOM/Österreich
Klage der Kommission gegen Österreich wegen Verletzung von Art. 4, 7 und 67 der VO (EG) Nr. 883/2004 zur Koordinierung der Systeme der soziale Sicherheit sowie Art. 7 Abs. 2 VO (EU) Nr. 492/2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der EU stattgegeben. (Seite 399)
EuGH präzisiert die Grundsätze der Postulationsfähigkeit eines Hochschullehrers (hier: Beschäftigter im Rahmen eines öffentlich- rechtlichen Dienstverhältnisses der Universität Bremen) vor den Gerichten der Union / Rs. Universität Bremen/REA
Die Tatsache, dass der Betreffende im Rahmen eines öffentlich- rechtlichen Dienstverhältnisses bei der klagenden Universität beschäftigt und Koordinator sowie Teamleiter des streitgegenständlichen Projekts ist, stellt kein Hindernis dar. (Seite 410)
Schweizerisches Bundesgericht (BGer), Lausanne, stellt absolutes Verwertungsverbot für Geständnis (in einem Mordfall) fest, das durch eine von verdeckten Ermittlern unter Einsatz einer Ermittlerin als „Wahrsagerin“ aufgebaute innere Zwangslage des Verdächtigen erlangt wurde
«Vorliegend erfolgte das Geständnis des Beschwerdegegners gegenüber „C.“ nicht aus eigener Initiative und freien Stücken, sondern als Resultat einer von den verdeckten Ermittlern geschickt aufgebauten inneren Zwangslage, sukzessive genährten Angst und stetig intensivierten Drucksituation.
Sein Aussageverweigerungsrecht wurde unterlaufen. Die Vorgehensweise der verdeckten Ermittler ist mit dem Fairnessgebot (Art. 6 Ziff. 1 EMRK) nicht vereinbar und als verbotene Beweiserhebungsmethode im Sinne von Art. 140 Abs. 1 StPO einzustufen. Das aus der verdeckten Ermittlung hervorgegangene Geständnis des Beschwerdegegners ist daher unverwertbar im Sinne von Art. 141 Abs. 1 StPO.» (Seite 416)
BGer ordnet Umstände der Geburt mittels Eizellen-Spende dem Geheimbereich der Eltern zu / Verbreitung der Tatsache einer künstlichen Befruchtung ohne Zustimmung der Eltern stellt Persönlichkeitsverletzung nach Art. 28 ZGB dar
Die künstliche Befruchtung fand in den USA statt, wo die Eltern und die redselige Eizellen-Spenderin, die sich gegenüber Bekannten der Eltern als Mutter des Kindes ausgab, ein „Egg donation agreement“ geschlossen hatten. Die Eizellen- Spenderin wehrt sich vor dem BGer als Bf. gegen ein von den Eltern erwirktes strafbewehrtes Wiederholungsverbot ihrer Äußerungen (Art. 28 ZGB i.V.m. Art. 292 StGB).
Das BGer führt aus: «Beim Recht auf Achtung der Intim- und Privatsphäre, wie dies bereits die Vorinstanz ausgeführt hat und was die Beschwerdeführerin übersieht, geht es nicht darum, ob die bekanntgegebene Tatsache ehrenrührig ist bzw. „verwerflich“ oder „sozial unhygienisch“. Insofern ist auch nicht relevant, ob das gesellschaftliche Ansehen einer Person beeinträchtigt erscheint (…). Wie die Vorinstanz verbindlich feststellt, hat die Beschwerdeführerin die streitgegenständlichen Tatsachen im Bewusstsein um deren Geheimnischarakter (…) im Umfeld der Beschwerdegegner 1-3 [der Eltern und des Kindes] – und nicht etwa in ihrem eigenen, persönlichen Umfeld – verbreitet.» (Seite 422)
Verfassungsgerichtshof (VfGH), Wien, billigt das nicht strafbewehrte Impfpflichtgesetz (COVID-19-IG)
In den Leitsätzen der Bearbeiterin wird das Wesentliche aus dem Erkenntnis herausgearbeitet: Die gesetzliche Regelung begegnet im Ergebnis keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, denn das COVID-19-IG hat zur näheren Ausgestaltung der Impfpflicht Verordnungsermächtigungen geschaffen, die ein flexibles Reagieren auf die volatilen pandemischen und wissenschaftlichen Entwicklungen ermöglichen und damit sicherstellen, dass den Anforderungen an die Geeignetheit und Erforderlichkeit der Impfpflicht Rechnung getragen wird. Wegen der Schwere des Eingriffes sind diese Ermächtigungen verfassungskonform als kontinuierliche und strenge (Kontroll- und) Reaktionspflicht des zuständigen Bundesministers zu verstehen.
Der zuständige Bundesminister ist damit aber nicht nur ermächtigt, sondern im Lichte der verfassungsrechtlichen Einschränkungen verpflichtet, die gesetzliche Impfpflicht auf Basis dieser gesetzlichen Grundlagen stets den sich laufend ändernden Bedingungen anzupassen.
Diese Verordnungsermächtigungen sind weitreichend, doch das Gesetz gibt – mit Blick auf die Materie und den Gesamtzusammenhang – die wesentlichen Determinanten für das Handeln der Vollziehung vor und begegnet daher unter dem Blickwinkel des Art. 18 B-VG und des Rechtsstaatsprinzips keinen Bedenken. Verfassungskonform interpretiert, verpflichtet § 19 Abs. 2 COVID-19-IG den Verordnungsgeber, die Geeignetheit und Erforderlichkeit der Impfpflicht – in einer für den Verfassungsgerichtshof nachvollziehbaren Weise – kontinuierlich zu bewerten und regelmäßig zu evaluieren. Insgesamt hat der Verfassungsgerichtshof daher keine Bedenken gegen § 19 Abs. 2 COVID-19-IG.
Die Bearbeiterin merkt an:
Am 23. Juni 2022, also jenem Tag, an dem der VfGH das vorliegende Erkenntnis gefällt (aber wohl noch nicht zugestellt) hat, brachten Abgeordnete der Regierungsparteien in den Nationalrat einen Initiativantrag betreffend ein Bundesgesetz ein, „mit dem das COVID-19-Impfpflichtgesetz, die COVID-19-Impfpflichtverordnung und die Verordnung betreffend die vorübergehende Nichtanwendung des COVID-19-Impfpflichtgesetzes und der COVID-19-Impfpflichtverordnung aufgehoben werden […]“. Dieses Bundesgesetz wurde inzwischen beschlossen und kundgemacht, sodass das COVID-19-IG, die COVID-19-IV und die COVID-19-Nichtanwendungsverordnung nicht mehr gelten; das Erkenntnis des VfGH wird aber seine Bedeutung – auch rechtsvergleichend – für die Diskussion in anderen Ländern behalten. (Seite 424)
Bundesverfassungsgericht (BVerfG) Karlsruhe, stellt in einem Organstreitverfahren auf Antrag der AfD Verletzung der parteipolitischen Neutralität im Regierungsamt durch Bundeskanzlerin Merkel fest / Merkel-Beschluss
Es geht um die abgrenzende Äußerung zur AfD im Thüringer Landtag, verbunden mit Kritik am Verhalten der eigenen Partei (CDU) („keine Mehrheiten mit Hilfe der AfD“) bei der Ministerpräsidentenwahl im Thüringer Landtag am 5. Februar 2020 auf einer Pressekonferenz in Südafrika am 6. Februar 2020 und deren anschließender Veröffentlichung auf den Web- Seiten der Bundeskanzlerin und der Bundesregierung.
In den Leitsätzen des Zweiten Senats zu seinem Urteil heißt es u.a.: «Für den Bundeskanzler gelten die Maßgaben zur Abgrenzung des Handelns in amtlicher Funktion von der nicht amtsbezogenen Teilnahme am politischen Wettbewerb grundsätzlich in gleicher Weise wie für die sonstigen Mitglieder der Bundesregierung.
Aus der Kompetenzordnung innerhalb der Bundesregierung folgt zwar – verglichen mit den übrigen Kabinettsmitgliedern – ein gegenständlich weiteres Äußerungsrecht des Bundeskanzlers, nicht jedoch ergeben sich daraus andere Anforderungen mit Blick auf die Beachtung des Neutralitätsund Sachlichkeitsgebots. » (Seite 440)
In ihrer abweichenden Meinung stellt Richterin Wallrabenstein fest: «Die Bundeskanzlerin hat keinen Verfassungsverstoß begangen. Äußert sie sich zu politischen Fragen, unterliegt der Aussageinhalt keiner Neutralitätskontrolle durch das Bundesverfassungsgericht.» (Seite 458)
BVerfG gibt Vb. einer Berufssportlerin (Eisschnellläuferin Claudia Pechstein) statt, weil ihre Anträge vor der Sportgerichtsbarkeit (Schiedsgerichtsbarkeit) auf Öffentlichkeit der mündlichen Verhandlung abgelehnt wurden und dies von der deutschen Zivilgerichtsbarkeit (BGH) hingenommen wurde / Pechstein-Beschluss
Gegen die Bf. war eine zweijährige Wettkampfsperre wegen unerlaubten Blutdopings verhängt worden, die vom Internationalen Sportgerichtshof (Court of Arbitration for Sports – CAS) in Lausanne bestätigt wurde. Die Bf. unterzog sich sodann einem neuen spezialdiagnostischen Verfahren, aus dem sich ergab, dass eine erbliche Blutanomalie für die erhöhten Blutwerte ursächlich war. Das Schweizerische Bundesgericht erkannte dies nicht als neue Tatsache an.
Der danach angerufene EGMR beanstandete nicht, dass die Bf. zur Erlangung einer vom Sportverband zu erteilenden Starterlaubnis die Anerkennung der Sport-Schiedsgerichtsbarkeit hatte unterschreiben müssen, wohl aber stellte er eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK insofern fest, als die Öffentlichkeit der mündlichen Verhandlung nicht vorgesehen war und auch trotz eines entsprechenden Antrags der Bf. verweigert wurde.
Vor der deutschen Zivilgerichtsbarkeit klagte die Bf. erfolglos bis zum BGH auf Schadensersatz und Schmerzensgeld. Das BVerfG gab ihrer Vb. mit folgender Begründung statt: «Indem der Bundesgerichtshof nicht berücksichtigt hat, dass die Statuten des CAS – wie die Beschwerdeführerin in den Instanzen und im Revisionsverfahren ausdrücklich geltend gemacht hatte – keinen Anspruch auf eine öffentliche Verhandlung vorsahen, die die Beschwerdeführerin bereits im vorangegangenen Schiedsverfahren erfolglos beantragt hatte, und damit die Anforderungen des Art. 6 Abs. 1 EMRK in ihrer Ausgestaltung durch die Rechtsprechung des EGMR verkannt hat, hat er in der Folge auch den Gewährleistungsgehalt des Justizgewährleistungsanspruchs der Beschwerdeführerin nicht mit dessen vollem Gewicht in die Abwägung eingestellt.» (Seite 460)
Polens Mitgliedschaft im Europarat ist gefährdet, wenn die Warschauer Regierung auf Dauer daran festhält, bestimmte Urteile des EGMR zur Unabhängigkeit der Justiz nicht zu befolgen. (Seite 466)
BVerfG setzt den im Rahmen eines Wiederaufnahmeverfahrens (umstrittene Neuregelung des § 362 Nr. 5 StPO, Wiederaufnahme zu Ungunsten) erlassenen Haftbefehl per einstweiliger Anordnung unter strengen Auflagen außer Vollzug
Der Bf. war vor 39 Jahren vom Vorwurf der Vergewaltigung und des Mordes freigesprochen worden. Zur Wiederaufnahme führten molekulargenetische Untersuchungen des LKA Niedersachsen von nach der Tat sichergestellten Sekretanhaftungen, denen zufolge der Bf. als Verursacher einer Spermaspur in Betracht kommt. (Seite 468)