EuGRZ 2020
29. November 2020
47 Jg. Heft 20-21

Informatorische Zusammenfassung

Osman Can, Istanbul, und Christian Rumpf, Stuttgart, kommentieren die Hagia-Sophia-Entscheidung des türkischen Staatsrats und erläutern die Zusammenhänge zwischen osmanischem Recht der Sultane und dem Recht der Republik
«Das Urteil, um das es hier geht [s.u. S. 651], ist ein Grenzfall richterlicher Weisheit. Im folgenden Beitrag soll nicht die Umwandlung in eine Moschee kritisiert werden, sondern die Methoden, mit denen der Staatsrat zu diesem Ergebnis kommt. Die Hagia Sophia ist weltweit bekannt als das größte Wahrzeichen und Symbol des orthodoxen Christentums, tausend (!) Jahre älter als der Petersdom in Rom, von einzigartiger Architektur (…). Mehmet II. der Eroberer hatte sie nach der Eroberung von Konstantinopel (Istanbul) im Jahre 1453 in eine Moschee umgewandelt. (…) Der Gründer der Türkischen Republik, Mustafa Kemal Atatürk, widmete das Bauwerk der Weltöffentlichkeit, indem seine Regierung im Jahre 1934 einen Ministerratsbeschluss erließ, mit welchem die Hagia Sophia in ein Museum umgewandelt und damit allen Gläubigen und Nichtgläubigen der Welt als einzigartiges historisches und kulturelles Denkmal und Museum zugänglich gemacht wurde. Das Eigentum im Rechtssinne an der Hagia Sophia hat die Stiftung von Mehmet dem Eroberer („Fatih Sultan Mehmet Vakfı“), die unter der Verwaltung und Kontrolle der Generaldirektion für das Stiftungswesen steht und durch das insoweit zuständige Kulturministerium (früher Bildungsministerium) betrieben wird bzw., nach dem hier besprochenen Urteil des Staatsrats, wurde.
Die Säkularisierung des Bauwerks als Symbol eines modernen Staates, der sich dem Laizismus verschrieben hat, blieb allerdings islamischen Zirkeln von Beginn an ein Dorn im Auge. (…)
Im Gegensatz zu den früheren Urteilen (10. Senat des Staatsrat, 2008, und Großer Senat des Staatsrats, 2012, betr. Hagia Sophia) beschloss der Staatsrat dieses Mal, den Ministerratsbeschluss von 1934 aufzuheben. Trotz völlig verunglückter und grob fehlerhafter Begründung erging die Entscheidung einstimmig. Die Begründung für das Urteil kann wie folgt zusammengefasst werden: Die Hagia Sophia Moschee gehöre zum Stiftungsgut der Fatih-Sultan-Mehmet-Han-Stiftung und laut Stiftungsurkunde sei sie auf ewig dem islamischen Gottesdienst gewidmet. Die Gesetzeslage sehe ausdrücklich insoweit die Fortgeltung osmanischen Rechts vor, der Wille des Stifters stehe unter dem Schutz des Rechts auf Eigentum und sei daher unüberwindbar. Gegen diese Rechtslage und das Eigentumsrecht der Stiftung verstoße der Ministerratsbeschluss von 1934 und sei daher aufzuheben. (…)
Wie nachstehend dargelegt wird, ist das Urteil so rechtsfehlerhaft, dass bei ordentlicher Durchprüfung der verwaltungsprozessrechtlichen Voraussetzungen und der Begründetheit auch in diesem Verfahren eine Klageabweisung hätte erfolgen müssen.»
Die Autoren begründen ihre Kritik durchgehend detailliert wie z.B. zur Klagebefugnis: «(…), ist eine Anfechtungsklage nur zulässig, wenn der Kläger substantiiert geltend macht, durch den Verwaltungsakt in seinen Interessen verletzt worden zu sein (Art. 2 lit. a VerwProzG). (…) Nur versäumt es der Staatsrat in diesem Zusammenhang zu erklären, worin die Verletzung der Interessen des Klägers bestehen soll. Der Staatsrat unterlässt die Prüfung einer essenziellen Klagevoraussetzung. Der klagende Verein nennt sich „Verein für den Dienst an den Ständigen Stiftungen, Historischen Denkmälern und der Umwelt“, hat keine registrierte Adresse, ein Zugang zu seiner Satzung im Internet war nicht möglich. Es gab keinen Hinweis darauf, welche Art von legitimer, aktueller und ernsthafter Beziehung diesen Verein mit dem Betreiben der Hagia Sophia als Museum oder dem Bedürfnis nach Umwandlung in eine Moschee verbindet, ob er von Satzungs wegen überhaupt eine solche Klage erheben durfte, oder was er mit dem Eigentumsrecht der Stiftung an dem Gebäude der Hagia Sophia zu tun hat. Im Urteil ist dazu nichts zu finden.»
Als Zwischenergebnis halten Can und Rumpf fest: «Die vom Staatsrat vorgenommene Zulässigkeitsprüfung weist unverständliche Fehler auf, die nicht zu rechtfertigen sind. Die Klage hätte wegen Ablaufs der Klagefrist und im Hinblick auf den res-iudicata-Grundsatz als unzulässig abgewiesen werden müssen.»
Zu methodischen Fragen der Begründetheit heißt es in dem Aufsatz: «Völlig unbeachtet lässt der Staatsrat (…) eine Vorschrift, die ihn als Verwaltungsgericht eigentlich besonders interessieren müsste. Denn Art. 2 des Einführungsgesetzes zum ZGB a.F. stellte klar, dass osmanisches Recht nur so weit weiterhin Geltung beanspruchen sollte, wie es nicht im Widerspruch zur „öffentlichen Ordnung“ der Republik steht, welche sich als nationaler, laizistischer, dem Volk verbundener, etatistischer, revolutionärer und republikanischer Staat etabliert hatte, mit der bewussten vollständigen Abkehr von dem, was das Osmanische Reich ausmachte. Diese Vorschrift verschloss den Organen der Republik und den Gerichten jeglichen Weg zurück in die osmanische Welt. Der Staatsrat unterlässt eine ordentliche verfassungsrechtliche Wertung, welche im Hinblick auf Art. 2 und Art. 174 türk. Verf. zwingend geboten gewesen wäre und genau denjenigen Argumentationsstrang verhindert hätte, auf dem das Urteil jetzt beruht.»
Die Autoren eröffnen dem Leser einen für das Verständnis der Stiftungen aus osmanischer Zeit notwendigen Überblick betr. die Stiftungen der Sultane (Selatin-Stiftungen) und deren Übergang in die Gegenwart. Sie setzen sich mit der Konstruktion des Staatsrats zur Ewigkeitsgarantie auseinander, bieten einen Vergleich mit den nichtmuslimischen Gemeindestiftungen und gehen in einem Exkurs auf das Antiquitätengesetz von 1906 ein.
Can und Rumpf bemerken zum Ergebnis: «Unterstellt man den politischen Willen des heutigen Staatspräsidenten, ohnehin die Hagia Sophia wieder zur Moschee machen zu wollen, ist es bemerkenswert, dass dieses Verfahren überhaupt durch Urteil beendet wurde. Denn nach der aktuellen Verfassungslage hätte Präsident Erdoğuan den Ministerratsbeschluss von 1934 jederzeit durch einen eigenen Beschluss ersetzen und dasselbe Ergebnis herbeiführen können. (…)
In den letzten 570 Jahren vor der Gründung der Republik hat das Osmanische Reich das Kommen und Gehen, die Geburt und den Untergang, den Erhalt und die Veränderung unzähliger Stiftungen gesehen. Der Staatsrat schafft hier, was sich kein Sultan jemals hätte träumen lassen: dass der großherrliche Stifterwille über das eigene Leben hinaus auf Ewigkeit festgeschrieben wird – ausgerechnet durch das oberste Verwaltungsgericht der Republik.» (Seite 605)

Julia Hänni, Lausanne, untersucht die inzwischen zu Gerichten vordringenden klimarechtlichen Fragen: „Menschenrechtlicher Schutz in der Klimakrise – Das Leiturteil Urgenda“
Ausgangspunkt ist die vom niederländischen Höchstgericht, Hoge Raad, am 20.12.2019 getroffene Entscheidung im Fall der Stiftung Urgenda.
Da Art. 2 (Recht auf Leben) und Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) die möglichen Anspruchsgrundlagen in Gerichtsverfahren zu den Folgen der Klimakrise sind, erarbeitet die Autorin im ersten Teil ihrer Abhandlung eine umfassende Analyse der Rechtsprechung des EGMR hierzu:
«Der EGMR setzt dabei gerade im Umweltbereich keine besonders hohen Anforderungen an die Beschwerdelegitimation. Im Urteil Di Sarno [2012] etwa hatten 18 italienische Staatsangehörige wegen der sog. Abfallkrise den EGMR angerufen und u.a. vorgebracht, die Untätigkeit der Regierung verletze ihre Ansprüche aus Art. 8 EMRK. Der EGMR wies dabei den Einwand der Regierung zurück, es handle sich – weil sich die Beschwerdeführer lediglich über die Abfallpolitik des Staates beschweren würden – um eine actio popularis. Vielmehr sei die Abfallkrise geeignet, deren eigenes Wohlbefinden direkt zu beeinträchtigen. (…)
Traditionell wurde Art. 8 EMRK als Abwehrrecht verstanden: Er verbietet dem Staat, sich in das Privat- und Familienleben eines Einzelnen einzumischen; der Staat hat sogenannte „negative Pflichten“. (…)
Ob und unter welchen Umständen die positiven Schutzpflichten des Staates auch im Bereich der Klimaschädigungen gelten, ist derzeit nicht durch den EGMR geklärt. Die Frage der staatlichen Zurechenbarkeit, des anzuwendenden Sorgfaltsmassstabs und der Kausalität stellen spezifische Herausforderungen für Rechtsstreitigkeiten im Zusammenhang mit dem Klimawandel dar.»
Das niederländische Leiturteil in der Sache Urgenda bildet den zweiten Teil der Abhandlung. Die Stiftung dieses Namens macht den niederländischen Staat für sein unzureichendes Handeln in der Klimakrise verantwortlich. In erster Instanz hatte Urgenda vor der Rechtbank Den Haag obsiegt. (Siehe hierzu bereits Hänni in EuGRZ 2019, S. 1 ff.) Die Regierung hat (am Ende erfolglos) Rechtsmittel eingelegt.
Hänni führt aus: «Die in der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 2 und 8 EMRK entwickelten Anwendungsmassstäbe zu allgemeinen Umweltbeeinträchtigungen bezieht der Hoge Raad denn auch spezifisch auf den Bereich der Klimaschädigungen.
Er hält fest, das Phänomen der Klimaveränderung stelle eine reale und unmittelbare Gefahr dar, die das Risiko mit sich bringe, das Leben und Wohlergehen der niederländischen Bevölkerung ernsthaft zu gefährden (…).
Die Tatsache, dass dieses Risiko in wenigen Jahrzehnten eintreten könnte und dabei spezifische Personen oder Gruppen von Personen nicht treffen könnte, bedeute nach der angeführten Rechtsprechung des EGMR nicht, dass Art. 2 und Art. 8 EMRK keinen Schutz hierfür bieten würden. (…)
Vor diesem Hintergrund, so der Hoge Raad weiter, bestünde kein Zweifel, dass Vertragsstaaten gestützt auf Art. 2 und 8 EMRK verpflichtet wären, Massnahmen gegen den Klimawandel zu ergreifen, – wenn dies denn ein bloss nationales Problem wäre. Beim Klimawandel handle es sich allerdings um ein Geschehnis, das von Aktivitäten auf der ganzen Welt herrühre, nicht nur vom niederländischen Territorium, und dessen Folgen weltweite Auswirkungen haben werden, auch in den Niederlanden.
Das Höchstgericht stellt sich entsprechend die Frage, ob angesichts der globalen Natur der Emissionen und der globalen Folgen hiervon ein Schutz aus den Artikeln 2 und 8 EMRK entfalle. Es tut dies, um die aufgeworfene Frage sogleich wieder zu verneinen: Die Anwendbarkeit von Art. 2 und 8 EMRK ist für das Höchstgericht so klar, dass es auch auf die Einholung eines Gutachtens vom EGMR hierzu gemäss dem Protokoll Nr. 16 zur Konvention explizit verzichtet.»
Aus der gemeinsamen Verantwortung der Staaten ergibt sich eine Teilverantwortung für jeden einzelnen Staat. Diese bemisst sich am Anteil des konkreten Staates an der Klimakrise und hat entsprechende Sorgfalts- und Handlungspflichten zur Folge: «Die Bezugnahme auf die Teilverantwortung erfolgt durch den Hoge Raad zwar im Hinblick darauf, eine individuelle Sorgfaltspflicht der Niederlande für das globale Problem der Klimaerwärmung zu ermitteln. Dieser Aspekt ist jedoch eng mit der Kausalität verbunden: Der Hoge Raad ermittelt einerseits die Gefahr schwerer Schäden für die niederländische Bevölkerung im Fall einer weiterhin markanten Klimaerwärmung, mithin bei einer Nichterfüllung der Reduktionsziele durch die internationale Gemeinschaft. Damit wird implizit die Kausalität anerkannt zwischen einer Unterlassung der internationalen Gemeinschaft, ihre Klimaziele zu erreichen, und einer Gefahr für die niederländische Bevölkerung. (…)
Der Hoge Raad greift insoweit – ohne dies ausdrücklich als Voraussetzung zu statuieren – auf eine Form von Kausalität zurück, die man unter Bezugnahme auf den internationalen Kooperationsgrundsatz als „beitragende Kausalität“ bezeichnen könnte: Alle Vertragsstaaten haben je ihre Sorgfaltspflicht zu wahren, damit die Beeinträchtigung der durch Art. 2 und 8 EMRK geschützten Rechtsgüter aufgrund übermässiger Gesamtemissionen abgewendet werden kann; sie tragen für dieses gemeinsame Ziel dabei eine je individuelle Verantwortung.»
Zur Trennung der Kompetenzen von Gesetzgebung und Rechtsprechung wird ausgeführt: «Augenfällig ist denn auch die Zurückweisung der Rüge der Regierung, wonach die Verpflichtung zu einer Treibhausgasreduktion von 25 % ein legislativer Akt sei, der einem Gericht nicht zustehe. Denn die Regierung bringt vor, es sei nicht Sache der Gerichte, Überlegungen betreffend politische Entscheidungen über die Reduktion von Treibhausgasen anzustellen.
Der Hoge Raad merkt an, die Beschlussfassung über eine Reduktion der Treibhausgasemissionen sei zweifellos primär eine Aufgabe von Parlament und Regierung. Ihnen stünde ein erheblicher Handlungsspielraum zu, um die hierfür erforderlichen politischen Entscheidungen zu treffen. Gerichten sei demgegenüber die Aufgabe übertragen zu überprüfen, ob sich die anderen staatlichen Akteure an die sie bindenden Rechtsvorschriften gehalten haben. Das Gericht ruft in Erinnerung, dass die Regierung „als eine fundamentale Grundregel der Rechtsstaatlichkeit“ von den Gerichten aufgefordert werden kann, ihre Verpflichtungen einzuhalten.
Die bindenden Rechtsvorschriften beinhalteten dabei auch die Konventionsrechte der EMRK. Die Niederlande seien an die EMRK gebunden und die niederländischen Gerichte nach Art. 93 f. der niederländischen Verfassung dazu verpflichtet, die entsprechenden Bestimmungen in Übereinstimmung mit der Praxis des EGMR auszulegen, und zwar auch im Falle von dringlichen Ausnahmensituationen wie derjenigen der Bedrohung der Bevölkerung durch den Klimawandel.» (Seite 616)

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Straßburg, bekräftigt die Gewährleistung der Immunität von EGMR-Richtern auch in Bezug auf deren Ehepartner
Das Plenum des EGMR weist den Antrag der ukrainischen Behörden zurück, die verlangt hatten, Georgii Volodymyrovych Logvynskyi's Immunität aufzuheben; seine Immunität ergibt sich aus der Immunität seiner Ehefrau, Ganna Yudkivska, der in Bezug auf die Ukraine gewählten Richterin des EGMR. (Seite 634)

Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH), Luxemburg, billigt grundsätzlich die Verweigerung der Übernahme der Mehrkosten einer Krankenhausbehandlung im Ausland (hier: in Polen), die im Inland (Lettland) möglich wäre, aber aus religiösen Gründen abgelehnt wird (Bluttransfusion, Zeugen Jehovas), wenn die Weigerung der Mehrkostenübernahme dem legitimen Ziel dient, eine hochwertige Krankenhausversorgung aufrechtzuerhalten und die finanzielle Stabilität des Sozialversicherungssystems zu schützen / Rs. Veselības ministrija
Im Ausgangsverfahren geht es darum, dass der minderjährige Sohn des Klägers sich einer Operation am offenen Herzen unterziehen musste. In Lettland wäre dies im Prinzip möglich gewesen, allerdings unter Einbeziehung einer Bluttransfusion, die von Zeugen Jehovas aus religiösen Gründen allgemein und grundsätzlich abgelehnt wird. Wohingegen dieselbe Operation in Polen ohne Bluttransfusion ausgeführt werden konnte. Die Übernahme der im Ausland anfallenden Mehrkosten verweigerten die lettischen Behörden.
Auf Vorlage des Obersten Gerichtshofs Lettlands erklärt der EuGH, es sei Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob diese Weigerung ein geeignetes und erforderliches Mittel sei, das oben genannte Ziel zu erreichen.
Andernfalls führe die RL 2011/24/EU über die Ausübung der Patientenrechte in der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung im Lichte von Art. 21 Abs. 1 GRCh zu einem Erstattungsanspruch. (Seite 635)

Schweizerisches Bundesgericht (BGer), Lausanne, erklärt die Durchführung einer Hauptverhandlung per Videokonferenz im Zivilverfahren entgegen dem Willen einer Prozesspartei für unzulässig
«Die Durchführung einer Hauptverhandlung in Form einer Videokonferenz wirft verschiedene rechtliche und praktische Fragen auf; dies jedenfalls dann, wenn alle Verfahrensbeteiligten – wie vorliegend – „von ihrem jeweiligen Standort aus über ihre Mobiltelefone“ teilnehmen sollen. So fragt sich, wie die Öffentlichkeit des Verfahrens (Art. 54 ZPO) sichergestellt wird und wie die Persönlichkeitsrechte der Beteiligten gewahrt werden können. Es sind datenschutz- und datensicherheitsrechtliche Vorgaben zu beachten. Ferner werden sich säumnisrechtliche Fragen stellen, wenn die Videokonferenz nicht zustande kommt oder die technische Verbindung abbricht (oder – was davon nicht immer unterscheidbar sein dürfte – von einem Teilnehmer absichtlich abgebrochen wird; vgl. Art. 234 ZPO). Hält sich eine Partei im Ausland auf, sind rechtshilferechtliche Bestimmungen einzuhalten. Auch ist diskutiert worden, wie sich die Durchführung einer Verhandlung mittels Videokonferenz zum Anspruch der Parteien auf gleiche und gerechte Behandlung (vgl. Art. 29 Abs. 1 BV sowie Art. 6 Abs. 1 EMRK [droit à un procès équitable]) und zum „Unmittelbarkeitsprinzip“ verhält (…).
Es erübrigt sich, darauf im Einzelnen einzugehen. Entscheidend ist, dass die Zivilprozessordnung den Einsatz technischer Hilfsmittel – dort, wo dies der Gesetzgeber als sinnvoll erachtete – vorsieht und regelt. Sie bietet dagegen keine Handhabe, eine Partei zur Teilnahme an einer via Videokonferenz durchgeführten Hauptverhandlung zu verpflichten.» (Seite 643)

BGe billigt Verbot einer Gedenkveranstaltung der Türkischen Föderation Schweiz zur Schlacht von Gallipoli (im Ersten Weltkrieg) wegen kurzfristig bekannt gewordener Pläne gewaltbereiter Gegendemonstranten und bestätigt die Anwendung der polizeilichen Generalklausel bei konkreter Gefahr für Leib und Leben durch die Gegenveranstaltung
«Das strittige Veranstaltungsverbot traf nicht nur die Beschwerdeführerin, sondern richtete sich vor allem gegen die möglichen Gegenaktionen. Folgerichtig untersagte die Polizei Basel-Landschaft nebst der Veranstaltung der Beschwerdeführerin und deren Verlegung an eine andere Örtlichkeit alle sonstigen mit der Versammlung der Beschwerdeführerin zusammenhängenden Veranstaltungen am 18. März 2017 auf dem Gebiet der Gemeinde Reinach. (…)
Die Schutzpflicht des Staates ist jedoch an den Kapazitäten und konkreten tatsächlichen Möglichkeiten der Behörden, namentlich der Polizeikräfte, zu messen. Wie das Kantonsgericht zu Recht festhält, wäre im vorliegenden Fall die direkte physische Präsenz der Polizei mit entsprechenden Interventionsmöglichkeiten grundsätzlich geeignet gewesen, der Gefährdungslage wirksam zu begegnen. Ein erfolgversprechender Einsatz hätte jedoch aufgrund des erkannten Eskalationspotenzials ein umfangreiches Sicherheitsdispositiv mit starken Polizeikräften vor Ort erfordert. Aufgrund des am fraglichen Abend angesetzten Fussballmatches, der als Hochrisikopartie eingestuft war, sah sich die Polizei ausser Stande, innerhalb eines Tages die erforderlichen Einsatzkräfte zu mobilisieren. Das ist nachvollziehbar. Was die Beschwerdeführerin dagegen einwendet, ist spekulativ und beruht auf reinen Behauptungen. Es ist nicht ersichtlich, wie ihre Argumentation, es wäre möglich gewesen, innert der ausgesprochen kurzen Frist genügend zusätzliche Polizeikräfte aufzubieten oder vom Fussballmatch an ihre Veranstaltung umzuteilen, den Realitäten zielführender Polizeiarbeit entsprechen könnte. Unter diesen Umständen ist ein wirksames milderes Mittel als das verfügte Verbot nicht ersichtlich.» (Seite 647)

Türkischer Staatsrat, Ankara, ebnet den Weg für Umwidmung der Hagia Sophia in eine Moschee, indem er den unter Kemal Atatürk gefassten Ministerratsbeschluss von 1934 zur Umwandlung in ein Museum für nichtig erklärt
Kläger ist ein unbekannter Verein, der seit mehreren Jahren Entscheidungen aus der früheren Zeit der Republik bekämpft, mit denen byzantinische Kirchen, welche in osmanischer Zeit als Moscheen genutzt worden waren, in Museen umgewandelt wurden. Der Staatsrat als oberstes Verwaltungsgericht, das wie hier in bestimmten Fällen auch erstinstanzlich befasst werden kann, hatte entsprechende Klagen bislang abgewiesen. Das vorliegende Urteil ist nicht das erste, aber das wichtigste seiner Art, und steht für eine Abkehr von dieser Rechtsprechung.
Die entscheidende Passage des Urteils lautet: «Bei gemeinsamer Würdigung der oben zitierten Gesetzesvorschriften und Urteile des Verfassungsgerichts, des Kassationshofs und des Staatsrats kommt man bezüglich der vor dem Inkrafttreten des Zivilgesetzbuchs Nr. 743 am 4.10.1926 gegründeten Stiftungen zu folgendem Ergebnis: (i) Die Stiftung bzw. Stiftungsurkunde ist eine Urkunde des Stifters, diese Urkunden enthalten Regelungen zum Gegenstand, Zweck und zu den Organen, die den Willen des Stifters zum Ausdruck bringen. (ii) Die Bestimmungen der Stiftung bzw. Stiftungsurkunde haben die Wirkung, den Wert und die Kraft von Rechtsregeln, die nach Abschluss des Stiftungsakts den Stifter, die Stiftungsverwalter, die Begünstigten der Stiftung und Dritte sowie den Staat binden, weshalb niemand die Stiftung bzw. Stiftungsurkunde ändern darf. (iii) Das Stiftungsvermögen muss zwingend dem Willen des Stifters entsprechend genutzt werden.
Nachdem der Stiftungswille, der im Stiftungsakt als Privatrechtsakt gemäß dem gesetzlich bestimmten Verfahren zum Ausdruck gebracht worden ist, gewährt die Verfassung der Verfügungsbefugnis der Vermögensgesamtheit mit ihrer Privatrechtspersönlichkeit über die in ihr Eigentum übergegangenen Güter und Rechte den Schutz des Rechts auf Eigentum und ihrer Regeln, welche die Existenz ihrer Rechtspersönlichkeit durch die Garantie der Organisationsfreiheit sichern. Daher müssen die Regelungen zur privatrechtlichen Persönlichkeit der Stiftung dieser grundsätzlichen Eigenart der Institution der Stiftung entsprechen und darf mit auf die Stiftungen bezogenen Akten in den Willen des Stifters, abgesehen von den Verfassungsbestimmungen über das Recht auf Eigentum und die Organisationsfreiheit, nicht eingegriffen werden.» (Seite 651)
Zu dem vorstehenden Urteil siehe die Kritik von Osman Can und Christian Rumpf, Die Hagia-Sophia-Entscheidung des türkischen Staatsrats, EuGRZ 2020, 605 ff. (in diesem Heft).

Bundesverfassungsericht (BVerfG), Karlsruhe, gibt der Vb. einer Afro-Mauretanierin als offensichtlich begründet statt, die sich gegen eine Abschiebung mit dem Hauptargument wehrt, einem Sklavenstamm anzugehören
«Das Urteil des Verwaltungsgerichts verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Recht auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG), der Nichtzulassungsbeschluss des Oberverwaltungsgerichts in ihrem Recht auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG). Das Verwaltungsgericht hätte den entscheidungserheblichen Vortrag der Beschwerdeführerin zur Existenzsicherung von als Sklaven angesehenen Menschen in Mauretanien berücksichtigen (a) und das Oberverwaltungsgericht die Berufung wegen dieser Gehörsverletzung gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG zulassen müssen (b). (…) Die Beschwerdeführerin hatte bereits in der Anhörung beim Bundesamt im August 2017 angegeben, dass sie einem „Sklavenstamm“ angehöre und als Kind von ihrem Vater an eine Verwandte „verschenkt“ worden sei, dass sie keine Schulbildung habe, dass sie in Mauretanien nicht gearbeitet habe, dass sie von ihrer Familie, konkret ihrem Vater, verstoßen worden sei und dass weiße Mauren Schwarze nicht akzeptierten. (…)
Die Beschwerdeführerin hat im Berufungszulassungsverfahren geltend gemacht, dass das Verwaltungsgericht ihren Vortrag [gestützt auf diverse vorgelegte Berichte] zur Sicherung des Existenzminimums in Mauretanien unberücksichtigt gelassen habe (…) und unter Hinweis auf diese Berichte dargelegt habe, dass und warum sie als Angehörige eines „Sklavenstammes“, alleinstehende Frau, ohne Schulbildung, mit zu besorgender Erkrankung und ohne familiären Schutz nicht in der Lage sein werde, im Falle einer Rückkehr nach Mauretanien ihr Existenzminimum zu sichern. Wie aufgezeigt, hat das Verwaltungsgericht diesen wesentlichen und für die Frage eines Abschiebungsverbots entscheidungserheblichen Vortrag nicht hinreichend erwogen. Unter diesen Voraussetzungen war die Nichtzulassung der Berufung durch das Oberverwaltungsgericht nicht mehr vertretbar und hat den Zugang der Beschwerdeführerin zu effektivem Rechtsschutz übermäßig eingeschränkt.» (Seite 660)

EGMR wählt Marialena Tsirli (Griechin) ab 1. Dezember 2020 auf fünf Jahre zu seiner neuen Kanzlerin. (Seite 664)

EuGH – Gerichtsqualität des rumänischen Verfassungsgerichts in mehreren Vorlagen in Frage gestellt / Rs. Euro Box Promotion (C-357/19 u.a.) (Seite 664