EuGRZ 2020
29. Dezember 2020
47 Jg. Heft 22-23

Informatorische Zusammenfassung

Rainer Hofmann, Frankfurt am Main, würdigt die nach zehnjährigem Rechtsstreit von Schwedens Oberstem Gerichtshof gefällte Entscheidung zu den Landrechten der Sami im Fall Girjas Sameby mot Staten
Der Autor beschreibt einleitend das Gesamtbild dieses über zehn Jahre lang vom Girjas Sameby gegen das Königreich Schweden geführten Rechtsstreits: «[Der Oberste Gerichtshof] entschied, dass in dem Gebiet, in dem die Mitglieder des Girjas Sameby, eine aus Rentierhaltung betreibenden Sami bestehende Körperschaft des öffentlichen Rechts, das ausschließliche Recht zur Rentierhaltung sowie zu Jagd und Fischerei haben, sie auch das ausschließliche Recht besitzen, solches Jagd- und Fischereirecht auf Personen zu übertragen, die nicht Mitglieder des Girjas Sameby sind – und zwar ohne staatliche Zustimmung. Während das erstinstanzliche Gericht (Tingsrätten) diesen Anspruch uneingeschränkt bestätigt hatte, war das Hofgericht für Ober-Norrland (Hovrätten för Övre Norrland) als Berufungsgericht zum Schluss gekommen, dass Girjas Sameby zwar das Recht zustand, solche Jagd- und Fischereirechte an dritte Personen zu übertragen, aber nur mit staatlicher Zustimmung.
Das Urteil weckte große Aufmerksamkeit in den schwedischen Medien und wird als wahrlich wegweisende Entscheidung mit möglichen Auswirkungen über den Bereich des Jagd- und Fischereirechts, gegebenenfalls sogar über die Grenzen Schwedens hinaus, gesehen. Der Grund hierfür liegt darin, dass der Gerichtshof sein Urteil nicht auf gesetzliche Normen zur Rentierhaltung oder Jagd- und Fischereirecht gründete, sondern für sein Urteil einen ganz besonderen Rechtstitel heranzog, nämlich urminnes hävd, einen Rechtstitel oder Rechtsanspruch (hävd) auf die Nutzung von Land, der auf solch einer seit unvordenklichen Zeiten (urminnes) ausgeübten Nutzung beruht. Dieser Ansatz könnte auch für Nachbarstaaten wie Finnland, das ja bis 1809 Teil des Königreich Schwedens war, oder Norwegen, auch wenn dieses niemals Teil Schwedens, sondern nur zwischen 1814 und 1905 in einer Personalunion mit Schweden verbunden war, und ihrer beachtlichen Sami-Bevölkerung von Bedeutung werden.»
Zum tatsächlichen Hintergrund wird erläutert: «Die Sami, früher im Deutschen als Lappen bezeichnet, sind als Ureinwohner der nördlichen Teile von Norwegen, Schweden, Finnland und Russland (auf der Kola-Halbinsel), einem Gebiet, das sie selbst als Sápmi bezeichnen und im Deutschen üblicherweise Lappland genannt wird, ein indigenes Volk im völkerrechtlichen Sinne. Ihre traditionelle Lebensweise beruhte auf Rentierhaltung sowie Jagd und Fischerei. Heute beschäftigt sich nur noch ein kleiner Teil der Sami mit Rentierzucht, während die Mehrheit der Sami in mehr oder weniger städtischen Plätzen innerhalb und auch außerhalb von Sápmi lebt.»
Sameby heißt wörtlich „Sami-Dorf“ und übt nach dem Renntierhaltungsgesetz von 1971 eine Reihe von Funktionen im Finanz- und Verwaltungsbereich aus. In ganz Schweden gibt es 51 solcher Samebyar. Die in dem Prozess obsiegende Girjas Sameby liegt in einem Gebiet zwischen Kiruna im Norden und Gällivare im Süden. Der Oberste Gerichtshof betont, sein Urteil betreffe nur die Rechtsbeziehungen zwischen Girjas Sameby und dem schwedischen Staat, nicht jedoch Rechtsbeziehungen zwischen Girjas Sameby und sonstigen möglicherweise Betroffenen wie insbesondere in der Gegend ansässigen, aber nicht Girjas Sameby zugehörigen Sami.
Hofmann geht sodann auf die beiden wichtigsten Aspekte des Urteils ein, nämlich Jagd- und Fischereirecht aufgrund des (1) Rentierhaltungsgesetzes und (2) aufgrund von urminnes hävd (Rechtstitel beruhend auf Nutzung von Land seit unvordenklichen Zeiten). Er untersucht die unmittelbaren Folgen des Urteils, die möglichen künftigen Folgen und stellt abschließend fest: «Aufmerksamkeit verdienen auch einige obiter dicta des Obersten Gerichtshofs, die erhebliches Potential für seine künftige Rechtsprechung bergen. Dies gilt vor allem für die Feststellung, dass die der ILO Konvention 169 – obgleich Schweden diesen Vertrag nicht ratifiziert hat – und den Art. 26 UNDRIP [UN Declaration on the Rights of Indigenous Peoples (2007)] und Art. 27 ICCPR zugrundeliegenden Prinzipien als völkerrechtliches Gewohnheitsrecht angesehen und als solche in Schweden bei Fragen betreffend Landrechte indigener Völker angewendet werden können. Da der Gerichtshof zum Schluss kam, dass Girjas Sameby Inhaber des beanspruchten Rechts auf der Grundlage von urminnes hävd war, musste er nicht auf die Frage der Bedeutung dieser (völker)gewohnheitsrechtlichen Regeln für den vorliegenden Fall eingehen. Dies schließt natürlich keineswegs aus, dass dieser Ansatz in anderen Fällen, in denen es um Landrechte der Sami geht – erfolgreich oder nicht –, herangezogen werden kann.
Bei Überlegungen, ob Urteile nationaler Höchstgerichte Bedeutung über die jeweilige Rechtsordnung hinaus haben könnten, ist selbstverständlich ganz erhebliche Zurückhaltung geboten. Andererseits wäre es durchaus denkbar, dass dieses Urteil gewisse, nicht völlig unbeachtliche Auswirkungen auf die Rechtsentwicklung in den Nachbarstaaten Finnland und Norwegen haben könnte, wo es dem schwedischen Rechtsinstitut urminnes hävd ähnelnde Konzepte gibt. Es könnte aber auch sein, dass dieses Urteil aus Schweden, oder vielmehr sein ihm zu Grunde liegendes rationale, dass althergebrachte, traditionelle (Land)Rechte indigener Völker gegenüber modernen einfachgesetzlichen Bestimmungen Vorrang einzuräumen ist, einen gewichtigen Beitrag zur weltweiten Diskussion um die tatsächlichen Auswirkungen der Prinzipien leisten wird, die in der Erklärung der Vereinten Nationen von 2007 zu den Rechten indigener Völker enthalten sind.» (Seite 665)

Lamiss Khakzadeh, Innsbruck, erarbeitet rechtsvergleichende Betrachtungen über „Die Rolle der Verfassungsgerichte bei der Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare“
Ausgangspunkt ist ein Urteil des Staatsgerichtshofs des Fürstentums Liechtenstein, EuGRZ 2020, 715 (in diesem Heft). Der Beitrag geht auf die Entwicklungen in Österreich und Deutschland ein sowie in einem kurzen Exkurs auf die Schweiz, wo noch keine Rechtsprechung des Bundesgerichts in der Sache vorliegt.
Zum Erkenntnis des StGH-FL vom 3.9.2019 heißt es: «Im Ergebnis ist der Entscheidung des StGH zuzustimmen: Die gemeinsame Elternschaft ist in der Tat ein überzeugender Grenzstein zwischen gleich- und verschiedengeschlechtlichen Paaren. Von diesem nachvollziehbaren Ergebnis abgesehen gibt es im Urteil mehrere Aspekte, die besonders bemerkenswert erscheinen: Der StGH betont mehrfach, dass Art. 25 liecht. PartG nicht Gegenstand des Normenkontrollverfahrens ist. Außerdem betont er die Rolle des Gesetzgebers in zwei Punkten: der Zulassung gleichgeschlechtlicher Paare zur Elternschaft und zur Ehe. Im „gewaltenteilenden demokratischen Rechtsstaat“ sei nämlich in erster Linie die Gesetzgebung dazu aufgerufen, „für eine diskriminierungsfreie Ausgestaltung der familiären Beziehungen zu sorgen“. Der StGH lege sich bei der Prüfung von Gesetzen eine besondere Zurückhaltung auf, „wo europaweit eine intensive und kontroverse Wertediskussion im Gange“ sei und überdies sei zu berücksichtigen, dass der Erlass des liecht. PartG auf einer Volksabstimmung basiere.»
Insgesamt gelangt Khakzadeh zu folgendem Resümee: «Vergleicht man die Rolle, die die Verfassungsgerichte in Liechtenstein, Österreich und Deutschland bei der Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare spiel(t)en, so zeigt sich ein differenziertes Bild. In Liechtenstein hat der StGH mit seiner jüngsten Entscheidung unmittelbar zu Recht keinen nennenswerten Impuls gesetzt: Unterscheiden sich Ehe und eingetragene Partnerschaft hinsichtlich der gemeinsamen Elternschaft, so lässt sich die Separierung in unterschiedliche Rechtsinstitute sachlich rechtfertigen. Mittelbar freilich regt der StGH den Gesetzgeber an, das Verbot der Stiefkindadoption zu adaptieren. In Österreich und Deutschland, wo die Ehe bereits für gleichgeschlechtliche Paare geöffnet wurde, haben sowohl der VfGH als auch das BVerfG eine ganz zentrale Rolle gespielt. In Österreich hat der VfGH Diskriminierungen im Adoptions- und Fortpflanzungsmedizinrecht sukzessive aufgegriffen, die Konsequenzen dieser Angleichung deutlich gemacht und auch selbst vollzogen: Die Ehe und die eingetragene Partnerschaft haben sich zu rechtlich gleichen Rechtsinstituten entwickelt, weswegen eine Separierung nicht mehr sachlich zu rechtfertigen war. Der österreichische Gesetzgeber hat in dieser Entwicklung seine Gestaltungsfunktion kaum wahrgenommen, sondern sich darauf beschränkt, die Erkenntnisse des VfGH nachzuvollziehen. Demgegenüber waren in Deutschland sowohl der Gesetzgeber als auch das BVerfG aktiv: Der Gesetzgeber hat die zentralen Impulse gesetzt – etwa die Öffnung der Stiefkindadoption –, das BVerfG hat sie verfassungsrechtlich abgesichert und weiter befördert.
Auch in Liechtenstein ist – davon kann ohne weiteres ausgegangen werden – die Entwicklung auf dem Weg zur Ehe für gleichgeschlechtliche Paare noch nicht abgeschlossen. Welche Rolle der StGH dabei spielen wird, ist wohl maßgeblich vom Gestaltungswillen des Gesetzgebers abhängig.» (Seite 670)

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Straßburg, sieht in Anordnung von Sicherheitshaft (Art. 231 schw. StPO) nach Freispruch in erster Instanz ohne Erwägung von Ersatzmaßnahmen eine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK / I.S. gegen Schweiz
Der Bf. war in der Berufungsinstanz vom Obergericht des Kantons Aargau wegen mehrfacher Vergewaltigung, einfacher Körperverletzung, Drohung, versuchter Nötigung und mehrfacher Tätlichkeiten, begangen an seiner Lebenspartnerin, zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren, Geldstrafe und einer Buße verurteilt worden. Zuvor allerdings hatte ihn das Bezirksgericht Baden einstimmig freigesprochen. Dennoch wurde der Bf. für die Dauer des Berufungsverfahrens in Sicherheitshaft (Art. 231 Abs. 2 schw. StPO) gehalten.
Die Verurteilung wurde vom Bundesgericht wegen Verletzung des Rechts auf rechtliches Gehör und wegen Mängeln bei der Sachverhaltsfeststellung sowie Beweiswürdigung aufgehoben und zu neuer Beurteilung an das Obergericht des Kantons Aargau zurückverwiesen. Das Bundesgericht wies das Obergericht außerdem an, den Bf. aus der Haft zu entlassen und weniger strenge Ersatzmaßnahmen anstelle der Sicherheitshaft anzuordnen. Das Obergericht gelangte in der Folge zu einem Freispruch und stellte fest, dass die Sicherheitshaft nicht gerechtfertigt gewesen war, sprach dem Bf. 69.795,– SFr. als Genugtuung für die erlittene Beeinträchtigung zu. Für die Auszahlung der Summe legte das Obergericht allerdings die Bedingung fest, dass in dem im Kanton Basel-Stadt anhängigen Berufungsverfahren wegen gleichartiger von seiner Lebensgefährtin angezeigter Delikte keine Freiheitsstrafe verhängt würde, auf die die erlittene Haft angerechnet werden könnte.
Somit blieb der Bf. für seine Individualbeschwerde in Straßburg als Opfer i.S. der Konvention beschwert. Der EGMR spricht ihm 25.000,– Euro für erlittenen immateriellen Schaden und 7.000,– Euro an Kosten und Auslagen zu.
In der Begründung führt der EGMR aus: «Obwohl es zutrifft, dass der Wortlaut von Art. 5 Abs. 1 lit. c der Konvention keine auf die erstinstanzliche Gerichtsbarkeit beschränkte Begrenzung der Untersuchungshaft enthält, hat der Gerichtshof nichtsdestoweniger Gelegenheit gehabt (…), diese Frage bereits 1968 im vorzitierten Fall Wemhoff zu klären und danach seine Position in mehreren Urteilen der Großen Kammer und Kammer-Urteilen zu bestätigen: Die Haft i.S.v. Art. 5 Abs. 1 lit. c der Konvention endet mit dem Freispruch des Betroffenen, selbst wenn es sich um ein Gericht erster Instanz handelt.
Eine derartige Betrachtungsweise ist auch im vorliegenden Fall angebracht. Nach Prüfung der maßgeblichen Fakten in einem kontradiktorischen Verfahren und nach einer gründlichen Beweiswürdigung in der Hauptverhandlung ist das Bezirksgericht Baden, gestützt auf das Verfahren in seiner Gesamtheit, einstimmig zu der innersten Überzeugung gelangt, dass der Bf. nicht für die ihm von der Anklage vorgeworfenen Straftaten verurteilt werden kann.
In einer derartigen Situation erlischt nach dem Freispruch in erster Instanz, selbst wenn das Urteil nur mündlich verkündet wurde und es noch nicht endgültig ist, der Rechtfertigungsgrund für die auf Art. 5 Abs. 1 lit. c der Konvention gestützte Haft. (…)
Im vorliegenden Fall nimmt der Gerichtshof den Standpunkt der Regierung zur Kenntnis, die allgemein dafür plädiert, dass die nach einem Freispruch in erster Instanz verhängte Sicherheitshaft notwendig ist, um zu verhindern, dass gefährliche Personen der Strafjustiz entkommen und neue Straftaten begehen, weil sie „irrtümlich“ in erster Instanz freigesprochen worden sind.
In dieser Hinsicht möchte der Gerichtshof unterstreichen, dass ein derartiger Vorwurf [eines „irrtümlichen“ Freispruchs] offensichtlich in keinem Augenblick des innerstaatlichen Verfahrens gegenüber dem Bezirksgericht Baden erhoben wurde – weder ausdrücklich noch sinngemäß. Im Gegenteil weist nichts darauf hin, dass in der Justizgewährung ein Fehler gemacht wurde. Und dies erst recht nicht, da der Freispruch in dem 44 Seiten umfassenden schriftlichen Urteil angemessen begründet und von dem Gericht erster Instanz einstimmig ausgesprochen wurde.
Außerdem ist der Gerichtshof der Ansicht, dass das innerstaatliche Recht weniger einschneidende Maßnahmen als den Freiheitsentzug vorsah, um die Anwesenheit der betroffenen Person im Berufungsverfahren sicherzustellen. Er stellt fest, dass der Entzug der Ausweispapiere und weiterer amtlicher Dokumente des Bf. sich als hinreichende Ersatzmaßnahme erwiesen hätte, um die Anwesenheit des Bf. im Berufungsverfahren sicherzustellen.» (Seite 676)

Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH), Luxemburg, lässt Vorratsspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten aus elektronischer Kommunikation zum Schutz der nationalen Sicherheit, zur Bekämpfung des Terrorismus sowie (schwerer) Kriminalität zu, allerdings nur bei Kontrolle durch ein Gericht oder eine unabhängige Verwaltungsstelle / verb. Rsn. La Quadrature du Net u.a.
Die Große Kammer des EuGH hält jedoch in ihrem detaillierten Tenor fest, dass Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie (RL) 2002/58 im Lichte der Art. 7, 8 und 11 sowie von Art. 52 Abs. 1 GRCh einer nationalen Gesetzgebung entgegenstehen, die präventiv eine allgemeine und unterschiedslose Vorratsspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten vorsehen.
Hingegen steht die RL Rechtsvorschriften nicht entgegen, die
«– es zum Schutz der nationalen Sicherheit gestatten, den Betreibern elektronischer Kommunikationsdienste aufzugeben, Verkehrs- und Standortdaten allgemein und unterschiedslos auf Vorrat zu speichern, wenn sich der betreffende Mitgliedstaat einer als real und aktuell oder vorhersehbar einzustufenden ernsten Bedrohung für die nationale Sicherheit gegenübersieht, sofern diese Anordnung Gegenstand einer wirksamen, zur Prüfung des Vorliegens einer solchen Situation sowie der Beachtung der vorzusehenden Bedingungen und Garantien dienenden Kontrolle durch ein Gericht oder eine unabhängige Verwaltungsstelle sein kann, deren Entscheidung bindend ist, und sofern die Anordnung nur für einen auf das absolut Notwendige begrenzten, aber im Fall des Fortbestands der Bedrohung verlängerbaren Zeitraum ergeht;» (…)
Dasselbe gilt für Vorschriften, die
«– zum Schutz der nationalen Sicherheit, zur Bekämpfung schwerer Kriminalität und zur Verhütung schwerer Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit auf der Grundlage objektiver und nicht diskriminierender Kriterien anhand von Kategorien betroffener Personen oder mittels eines geografischen Kriteriums für einen auf das absolut Notwendige begrenzten, aber verlängerbaren Zeitraum eine gezielte Vorratsspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten vorsehen;
– zum Schutz der nationalen Sicherheit, zur Bekämpfung schwerer Kriminalität und zur Verhütung schwerer Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit für einen auf das absolut Notwendige begrenzten Zeitraum eine allgemeine und unterschiedslose Vorratsspeicherung der IP-Adressen, die der Quelle einer Verbindung zugewiesen sind, vorsehen;
– zum Schutz der nationalen Sicherheit, zur Bekämpfung schwerer Kriminalität und zum Schutz der öffentlichen Sicherheit eine allgemeine und unterschiedslose Vorratsspeicherung der die Identität der Nutzer elektronischer Kommunikationsmittel betreffenden Daten vorsehen;
– es zur Bekämpfung schwerer Kriminalität und, a fortiori, zum Schutz der nationalen Sicherheit gestatten, den Betreibern elektronischer Kommunikationsdienste mittels einer Entscheidung der zuständigen Behörde, die einer wirksamen gerichtlichen Kontrolle unterliegt, aufzugeben, während eines festgelegten Zeitraums die ihnen zur Verfügung stehenden Verkehrs- und Standortdaten umgehend zu sichern.»
&BP;Diese Rechtsvorschriften müssen durch klare und präzise Regeln sicherstellen, dass bei der Speicherung der fraglichen Daten die für sie geltenden materiellen und prozeduralen Voraussetzungen eingehalten werden und dass die Betroffenen über wirksame Garantien zum Schutz vor Missbrauchsrisiken verfügen.
Dasselbe gilt ferner für eine automatisierte Analyse und Erhebung in Echtzeit von Verkehrs- und Standortdaten sowie der technischen Daten zum Standort der verwendeten Endgeräte, sofern
«– der Rückgriff auf die automatisierte Analyse auf Situationen beschränkt ist, in denen sich ein Mitgliedstaat einer als real und aktuell oder vorhersehbar einzustufenden ernsten Bedrohung für die nationale Sicherheit gegenübersieht, und Gegenstand einer wirksamen, zur Prüfung des Vorliegens einer die fragliche Maßnahme rechtfertigenden Situation sowie der Beachtung der vorzusehenden Bedingungen und Garantien dienenden Kontrolle durch ein Gericht oder eine unabhängige Verwaltungsstelle sein kann, deren Entscheidung bindend ist», und
«– der Rückgriff auf die Erhebung von Verkehrs- und Standortdaten in Echtzeit auf Personen beschränkt ist, bei denen ein triftiger Grund für den Verdacht besteht, dass sie auf irgendeine Weise in terroristische Aktivitäten verwickelt sind, und einer vorherigen Kontrolle durch ein Gericht oder eine unabhängige Verwaltungsstelle unterliegt, deren Entscheidung bindend ist, wobei dieses Gericht oder diese Stelle sich vergewissern muss, dass eine solche Erhebung in Echtzeit nur in den Grenzen des absolut Notwendigen gestattet wird. In hinreichend begründeten Eilfällen muss die Kontrolle kurzfristig erfolgen.»
Beweisverwertungsverbote gelten in Strafverfahren gegen Personen, die im Verdacht stehen, Straftaten begangen zu haben, in Bezug auf Informationen, die durch unionsrechtswidrige allgemeine und unterschiedslose Vorratsspeicherung erlangt wurden, «wenn diese Personen nicht in der Lage sind, sachgerecht zu diesen Informationen und Beweisen Stellung zu nehmen. (…)» (Seite 681)

Schweizerisches Bundesgericht (BGer), Lausanne, beanstandet Nichtzulassung eines Wörterbuchs für eine italienischsprachige Tessinerin in einer Prüfung an der ETH Zürich und Ausschluss aus dem Studiengang (Biologie)
«Zusammenfassend ist damit zu konstatieren, dass der Beschwerdeführerin in der streitbetroffenen Prüfung Physikalische Chemie II zu Unrecht der Gebrauch eines Deutsch-Italienisch / Italienisch-Deutsch-Wörterbuchs verweigert worden ist und dass insofern ein Verstoss gegen den verfassungsrechtlichen Grundsatz der Chancengleichheit im Prüfungsrecht vorliegt, der einer (indirekten) Diskriminierung gleichkommt. Auch kann der Beschwerdeführerin nicht vorgeworfen werden, den Mangel verspätet geltend gemacht zu haben. Die Beschwerde [gegen das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts] ist deshalb gutzuheissen (…); die Beschwerdeführerin ist erneut zur Prüfung Physikalische Chemie II zuzulassen, und ihr ist dabei der Gebrauch eines Wörterbuchs zu gestatten. Zur Prüfungsvorbereitung ist ihr hinreichend Zeit zu gewähren.» (Seite 710)

Staatsgerichtshof des Fürstentums Liechtenstein (StGH), Vaduz, sieht in dem Ausschluss gleichgeschlechtlicher Paare von der Ehe weder einen Verstoß gegen die liechtensteinische Landesverfassung noch gegen die EMRK
Zwei Männer, deren Antrag beim Zivilstandsamt auf Eheschließung abgelehnt wurde, hatten nach erfolgloser Beschwerde an die Regierung vor dem Verwaltungsgerichtshof geklagt. Dieser unterbrach das Verwaltungsbeschwerdeverfahren und stellte beim StGH einen Normenkontrollantrag mit dem Ziel, in Art. 1 des Ehegesetzes die Wortfolge „verschiedenen Geschlechts“ zu streichen. Der StGH lehnte dies ab. In der Begründung heißt es u.a.:
«(…), hat der liechtensteinische Gesetzgeber die Ehe und die eingetragene Partnerschaft wegen der unterschiedlichen Rechtswirkungen, die ihnen zugemessen wurden, in getrennten Rechtsinstitutionen ausgestaltet. Vor allem fehlt eingetragenen Partnern die Möglichkeit zu einer gemeinsamen Elternschaft, die wegen der gesetzlich in Art. 25 PartG getroffenen Entscheidung anders als bei Ehepartnern auch nicht durch die Adoption eines Kindes oder durch eine medizinisch assistierte Fortpflanzung begründet werden kann. Ob diese Verbote und die damit verbundene Verweigerung der Begründung familiärer Beziehungen in ihrer konkreten Ausgestaltung gerechtfertigt werden können, hat der Staatsgerichtshof im Zusammenhang mit dem vorliegenden Normenkontrollantrag nicht zu entscheiden. (…)
Zudem ist zu beachten, dass sich der Staatsgerichtshof bei der Überprüfung der Verfassungsmässigkeit von Gesetzen aus Gründen der Demokratie und der Gewaltenteilung generell Zurückhaltung auferlegt (…). Dies muss gerade auch in besonders dynamischen Rechtssetzungsbereichen wie hier gelten, wo europaweit eine intensive und kontroverse Wertediskussion im Gange ist. In Bezug auf das Partnerschaftsgesetz ist für den Staatsgerichtshof auch deshalb Zurückhaltung angezeigt, weil über diesen Erlass nach Ergreifung des Referendums im Jahre 2011 eine Volksabstimmung durchgeführt wurde.» (Seite 715)
Siehe hierzu den Aufsatz von Lamiss Khakzadeh, Die Rolle der Verfassungsgerichte bei der Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare / Rechtsvergleichende Betrachtungen aus Anlass eines Urteils des Staatsgerichtshofs des Fürstentums Liechtenstein, EuGRZ 2020, 670 (in diesem Heft).

Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, bewertet eine grob menschenverachtende Beleidigung mit Affenlauten („Ugah, Ugah“) eines dunkelhäutigen Betriebsratsmitglieds in einer ordentlichen Betriebsratssitzung ausdrücklich nicht als grundrechtlich geschützte Meinungsäußerung
Die fristlose Kündigung des Beleidigers ist nicht zu beanstanden: «Zudem wurde berücksichtigt, dass dem Beschwerdeführer die Bedeutung seiner Äußerungen ausweislich vorheriger Auseinandersetzungen im Betrieb bekannt war, er auf eine frühere Abmahnung keinerlei Einsicht zeigte oder sich etwa entschuldigt hätte.» (Seite 719)

Eine heftige Wortwahl gegenüber einem Bundespolizisten bei Beschwerde über subjektiv empfundene Langsamkeit und Regelwidrigkeit einer Einreisekontrolle (am Flughafen München) ist im konkreten Fall durch Meinungsfreiheit gedeckt, die strafgerichtliche Verurteilung wegen Beleidigung demzufolge verfassungswidrig. (Seite 721)

Europarat/EGMR –- Corona-Blockade der Richterwahlen zum EGMR scheint durch Einsatz elektronischer Abstimmungs- und Wahlverfahren sowie Briefwahl per Kurierdienst bei „außergewöhnlichen Umständen“ überwunden. (Seite 723)

EuGH – GA Bobek empfiehlt, die Nichtigkeitsklage Ungarns gegen die Entschließung des EP mit der Aufforderung an den Rat, ein Verfahren nach Art. 7 Abs. 1 EUV gegen Ungarn einzuleiten, als unbegründet abzuweisen. (Seite 724)