EuGRZ 2020
30. Oktober 2020
47 Jg. Heft 17-19

Informatorische Zusammenfassung

Markus Löffelmann, Berlin, kommentiert die neuere Rechtsprechung des Afrikanischen Gerichtshofs für die Rechte der Menschen und der Völker (AfrGRMV) / Entwicklungen 2018 bis 2020
«Nach den durchweg erfreulichen Entwicklungen des Afrikanischen Gerichtshofs für die Rechte der Menschen und der Völker (AfrGRMV), welche in den vergangenen Berichten zu verzeichnen waren, geben neuere Ereignisse Anlass zu Sorge. Der Gerichtshof ist zwar, wie noch näher darzustellen sein wird, in seiner Rechtsprechungstätigkeit unverändert und zunehmend aktiv. Stand 11. Juni 2020 wurden nach der vom Gerichtshof veröffentlichten Statistik bislang insgesamt 281 Menschenrechtsbeschwerden angebracht, von denen 92 abschließend entschieden und 4 an die Afrikanische Menschenrechtskommission verwiesen wurden. Darüber hinaus wurden insgesamt 71 Beschlüsse erlassen, darunter 43 einstweilige Anordnungen, welche überwiegend die Suspendierung der Vollstreckung verhängter Todesurteile betreffen. In zahlreichen Entscheidungen gegen Tansania hat der Gerichtshof seine Rechtsprechung zu verfahrensrechtlichen Problematiken im Zusammenhang mit strafrechtlichen Verurteilungen (Anforderungen an die Beweiswürdigung, Recht auf Prozesskostenhilfe, Recht auf effektive Verteidigung, Recht auf Akteneinsicht, Beschleunigungsgebot, Recht auf ein faires Verfahren) weiter konsolidiert. 195 Verfahren sind derzeit noch anhängig – nach der schleppenden Zunahme der Befassung des Gerichtshofs in den Anfangsjahren ein mittlerweile beachtlicher Rückstau. (…) Bemerkenswert ist zudem, dass mittlerweile bei der Besetzung der Richterposten eine vollkommene Geschlechterparität hergestellt wurde, auf deren Einhaltung nebst dem regionalen Proporz auch bei weiteren Besetzungen geachtet wird. Unter Berücksichtigung des Rotationsprinzips (es gibt 11 Richterposten für 5 Regionen – Norden, Süden, Osten, Westen und Zentralafrika) sind die Regionen jeweils mit einem Richter und einer Richterin vertreten; für Ostafrika gibt es zur Zeit drei Sitze: der derzeitige Vize-Präsident des Gerichtshofs kommt aus Kenia, seine zwei Richter-Kolleginnen kommen aus Tansania und Ruanda (wobei die Richterin aus Ruanda, Marie-Theresa Mukamulisa, den sog. floating seat inne hat).
Allerdings haben sich die politischen Rahmenbedingungen für den AfrGRMV in jüngerer Zeit dramatisch verschlechtert. Nachdem bereits Ruanda im Jahre 2016 seine Zusatzerklärung zum Individualbeschwerdeverfahren nach Art. 34 Abs. 6 EProt zurückgezogen und der Gerichtshof über die prozessualen Folgen für seine Zuständigkeit zu entscheiden hatte, hinterlegte am 21.11.2019 die Republik Tansania ihre Rückzugserklärung beim Sekretariat der Kommission der Afrikanischen Union. Dem voraus gingen zahlreiche Entscheidungen des Gerichtshofs, die systemische Defizite in der tansanischen Strafgerichtsbarkeit nahelegen sowie ein kontroverses Verfahren zur Praxis der Verhängung von Todesstrafen (Fall Rajabu, s.u. S. 510). Dieser Rückzug ist insbesondere deshalb bedauerlich, weil Tansania als Sitzstaat eine besondere Verantwortung für die Funktionsfähigkeit des Gerichtshofs übernommen hatte und seit Juli 2018 mit Lady Justice Imani Daud Aboud eine Richterin stellte. Auch für Tansania selbst werden durch diesen Rückzug weitere wirtschaftliche und rechtsstaatliche Rückschritte erwartet. Im März und April 2020 zogen schließlich die Staaten Benin und Côte d'Ivoire – letzterer stellt den derzeitigen Präsidenten des AfrGRMV Hon. Silvain Oré – ihre Zusatzerklärungen zurück, weil die Entscheidungen des Gerichtshofs sich zu sehr in ihre internen Angelegenheiten einmischten. Keiner der drei Staaten hatte vorab den Gerichtshof von der Absicht des Rückzugs unterrichtet. Die Republik Côte d'Ivoire hatte ihre Erklärung erst 2013, Benin seine 2016 hinterlegt. Damit haben von den unverändert lediglich 30 Vertragsstaaten, die die Kompetenz des AfrGRMV grundsätzlich anerkannt haben, nur noch 6 – die Staaten Burkina Faso, Gambia, Ghana, Malawi, Mali und Tunesien – das wirkungsvolle Individualbeschwerdeverfahren akzeptiert. Zusicherungen anderer Staaten im Rahmen von Sensibilisierungsbesuchen des Gerichtshofs, diesem Verfahren beizutreten, wurden bislang nicht in die Tat umgesetzt.
Das ist ein sehr ernüchternder, enttäuschender Befund, der umso bedauerlicher erscheint, als der Gerichtshof gerade in den vergangenen beiden Jahren eine Reihe von Entscheidungen erlassen hat, die die Wirkmächtigkeit seines Mandats eindrucksvoll unterstreichen.»
Folgende sieben Verfahren werden ausführlich analysiert: Rajabu u.a. gegen Tansania (Todesstrafe für Mord), Rashidi gegen Tansania (körperliche Durchsuchung im Justizvollzug), Penessis gegen Tansania (Anspruch auf Staatsbürgerschaft), Gihana u.a. gegen Ruanda (Reisepass-Entzug), Ajavon gegen Benin (Recht auf effektive Verteidigung, Unschuldsvermutung), Woyome gegen Ghana (Anspruch auf unparteiisches Gericht), Soro u.a. gegen Republik Côte d'Ivoire (strafrechtl. Verfolgung hochrangiger Politiker, einstweiliger Rechtsschutz). (Seite 509)

Carsten Stahn, Leiden und Belfast, beschäftigt sich im Hinblick auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts mit der Frage: „Öffnung im Umgang mit dem eigenen judikativen Erbe? – 150 Bände BVerfGE, das Phänomen der Pfadabhängigkeit und Vergessen IIals Chance“
Der Autor analysiert in einem ersten Schritt die „Pfadabhängigkeit als Phänomen“, deren Kontext, die Erscheinungsformen der Selbstreferentialität (Argument durch Verweis), Maßstabsbildung und Verwendung von Leitbildern. In einem zweiten Schritt wendet er sich den Gegenströmungen zu: Selbstreflexion, methodische Öffnung durch Historisierung und Kontextualisierung sowie dem transparenten Umgang mit dem judikativen Erbe.
In seinen Schlussfolgerungen führt Stahn u.a. aus: «Die Rechtsprechung des BVerfG ist lebende Zeitgeschichte. Das Gericht genießt hohe gesellschaftliche und rechtliche Akzeptanz, auch durch seine Unabhängigkeit und detaillierte Begründung von Entscheidungen. Dies führt zu einem demokratietheoretischen Paradox. Verfassungskonkretisierung und die Begründung neuer Grundrechtsgehalte durch das Gericht genießen teilweise mehr Zustimmung als explizite Verfassungsänderungen durch den Gesetzgeber. Doch die eigene Rechtsprechung sollte nicht zum Denkmal werden.
Die Pfadabhängigkeit, die durch 150 Bände entstanden ist, stiftet Stabilität und Kontinuität, aber zugleich auch Inflexibilität. In Selbstverweisen, Maßstabsbildung und Leitbildern zeigen sich eine gewisse Introvertiertheit. So weist etwa die Rechtsprechungslinie von Maastricht über Lissabon zu PSPP durch ein binnenorientiertes Demokratieverständnis und binäre Gegenüberstellungen, wie z.B. Volk und Nicht-Volk (Unionsbürgerschaft) oder Staat und Nicht-Staat (auf europäischer Ebene), ein introvertiertes Verständnis von Verfassungsidentität auf, das dem Geist der offenen und global verflochtenen Staatlichkeit widerspricht. Einige Entscheidungen wie z.B. Schwangerschaftsabbruch I oder Leitbilder („streitbare Demokratie“) sind rückgewandt. Sie definieren Verfassungsentwicklung bewusst im Sinne der Überwindung der Erfahrungen der Weimarer Republik oder der NS-Zeit. Andere Leitbilder wie das Parteien- oder Abgeordnetenverständnis oder die Idee der „dienenden Rundfunkfreiheit“ beinhalten verkürzte Betrachtungsweisen oder bedürfen besserer empirischer Begründung. Historisierung und Kontextualisierung der eigenen Rechtsprechung werden in diesem Zusammenhang immer dringender.
Methodologisch kann das Gericht von der Praxis anderer Gerichte lernen. Das Bekenntnis zur Anwendung der Grundrechtecharta in Vergessen II [EuGRZ 2019, 702] bietet auch eine Chance, Grundrechtsdiskurs zu überdenken. Das Gericht gibt sich damit selbst den Auftrag, an der weiteren Konkretisierung der Grundrechte auf EU-Ebene mitzuwirken. Dies kann deutsche Praxis auch für überstaatliche Gewährleistungen und Methoden öffnen. Zugleich signalisiert es eine gewisse Notwendigkeit der Selbstzurücknahme, wenn es anerkennt, dass „die Charta in Wechselwirkung mit sehr verschiedenen Rechtsordnungen steht“ und die Maßstäbe des Grundgesetzes nicht „auch als Maßstäbe für die anderen Mitgliedstaaten verstanden“ werden dürfen.
Bei der Anwendung europäischer Grundrechte muss sich das Gericht stärker rechtsvergleichend ausrichten. Maßstab ist hier nicht nur der EuGH, sondern die „Rechtsprechung der europäischen Gerichte“ und „das Grundrechtsverständnis in den Mitgliedstaaten der Union insgesamt“. Dies hat Einfluss auf die Methode der Maßstabsbildung. Bezeichnenderweise zieht das Gericht bei der Anwendung europäischer Grundrechte in Vergessen II nicht die Lehre der „mittelbaren Drittwirkung“ heran, sondern europäische Rechtsprechung, wonach widerstreitende Grundrechte bei Streitigkeiten zwischen Privaten in Ausgleich gebracht werden müssen. Vergessen II illustriert in beeindruckender Weise, dass mit der neuen Judikatur auch differenzierende Erwägungen zu Entscheidungen des EuGH und des EGMR zu einem wichtigen Bestandteil der Methodik des BVerfG werden. Vorlagen an den EuGH können ein wichtiges Instrument sein, um an der Entwicklung der europäischen Grundrechte mitzuwirken und die Arbeitsteilung mit dem EuGH auszugestalten. Die „unterschiedliche[n] Verständnisse der Unionsgrundrechte“ in den Mitgliedstaaten sind dabei ein wichtiges Indiz. Die Karlsruher Perspektive ist Teil des Grundrechtsverbunds, muss aber gleichzeitig für methodischen Pluralismus und Wandel offen bleiben. Öffnung im Umgang mit dem eigenen judikativen Erbe ist insofern nicht nur Voraussetzung für die Bewältigung der eigenen Vergangenheit, sondern auch Maßgabe für die Gestaltung der Zukunft.» (Seite 524)

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR, GK), Straßburg, verneint Anspruch auf „humanitäre Visa“ zu kurzzeitiger Einreise für Asyl-Antrag im Zielland / M.N. u.a. gegen Belgien
Das Hauptproblem liegt in der Frage, ob Asylsuchende (Syrer), die sich in die Botschaft (hier: in Beirut, Libanon) eines Asyl-Ziellandes (Belgien) begeben, um ein humanitäres Visum zu beantragen, damit unter die nationale Hoheitsgewalt (jurisdiction) des Ziellandes gelangen – mit der Folge, dass sie gem. Art. 1 EMRK den Schutz der Konvention gegen eine Art. 3 EMRK (Verbot der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung) verletzende Behandlung, der sie in ihrem Herkunftsort (Aleppo, Syrien) ausgesetzt waren, beanspruchen können. Das ist nach der Entscheidung des EGMR (Große Kammer) nicht der Fall.
In der ablehnenden Entscheidung aus Straßburg heißt es: «Der Gerichtshof hat (…) eindeutig befunden, die simple Tatsache, dass ein Bf. in einem Staat, zu dem er keinerlei Verbindung hat, ein Verfahren in Gang bringt, nicht hinreicht, die Hoheitsgewalt ihm gegenüber zu begründen (…). Der Gerichtshof gelangt zu dem Ergebnis, dass eine andere Entscheidung dazu führen würde, eine quasi-universelle Anwendung der Konvention auf der Basis einer einseitigen Wahl jedweder Person, wo immer auf der Welt sie sich befinden mag, festzuschreiben und so den Vertragsstaaten eine unbegrenzte Verpflichtung aufzuerlegen, jeder Person, die dem Risiko ausgesetzt ist, außerhalb ihrer Hoheitsgewalt eine konventionswidrige Behandlung zu erleiden, die Einreise in ihr Territorium zu gestatten (…). Wenn der Umstand, dass ein Staat über einen Einwanderungsantrag entscheidet, genügen würde, den Antragsteller unter seine Hoheitsgewalt zu bringen, könnte sich daraus eine derartige Verpflichtung ergeben. Der Antragsteller könnte ein Band der Hoheitsgewalt schaffen (…) und so ggf. eine Verpflichtung aus Art. 3 entstehen lassen, die sonst nicht bestehen würde.
Eine derartige Ausdehnung des Anwendungsbereichs der Konvention hätte außerdem die Wirkung, den im Völkerrecht fest verankerten und vom Gerichtshof anerkannten Grundsatz zur Bedeutungslosigkeit zu reduzieren, wonach die Vertragsstaaten das Recht haben, die Einreise, den Aufenthalt und die Ausreise von Ausländern zu kontrollieren, ohne dass ihre Verpflichtungen aus völkerrechtlichen Verträgen, inklusive der Konvention, berührt werden.» (Seite 538)

Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH, GK), Luxemburg, qualifiziert Zwangsaufenthalt in geschlossener Transitzone (hier: an der ungarischen Grenze zu Serbien) als Ort der Unterbringung von Asylbewerbern und illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen als „Haft“ im Sinne des einschlägigen Unionsrechts / Verb. Rsn. FMS u.a.
Die Kläger der Ausgangsverfahren waren aus Afghanistan bzw. aus dem Iran kommend über die Türkei, Bulgarien und Serbien nach Ungarn eingereist. Ihre Asylanträge wurden ohne Prüfung der Begründetheit als unzulässig abgelehnt. Die mit Wohncontainern ausgestattete Transitzone, in die sie eingewiesen wurden, wird vom vorlegenden Gericht als geschlossen in dem Sinne beschrieben, dass sie von einem hohen Stacheldrahtzaun umgeben ist. Polizisten sowie bewaffnete Wachleute verhinderten ein Verlassen der Transitzone. Die Bereiche für Asylbewerber und abgelehnte Asylbewerber sind durch einen Zaun getrennt.

Zur Definition der Haft i.S.d. RL 2008/115 bzw. 2013/33 befindet der EuGH: « …, dass die Verpflichtung eines Drittstaatsangehörigen, sich ständig in einer Transitzone aufzuhalten, die eingegrenzt und geschlossen ist, in der seine Bewegungen beschränkt sind und überwacht werden und die er aus eigenen Stücken rechtmäßig in keine Richtung verlassen kann, einer Freiheitsentziehung gleichkommt, wie sie für eine Haft im Sinne der genannten Richtlinien charakteristisch ist.»
Nach dem Urteil ist es nicht erlaubt: « …, dass eine Person, die internationalen Schutz beantragt, länger als vier Wochen in einer Transitzone in Gewahrsam genommen wird». Ebenso ist es nicht erlaubt, eine solche Person allein deshalb in Haft zu nehmen, weil sie außerstande ist, sich selbst zu unterhalten.
Des Weiteren steht RL 2008/115 dem entgegen, dass nach nationalem Recht «die Haft länger als 18 Monate dauern und aufrechterhalten werden kann, obwohl Abschiebungsvorkehrungen überhaupt nicht mehr oder nicht mit der gebotenen Sorgfalt durchgeführt werden».
Schließlich hat der Grundsatz des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts und der in Art. 47 der GRCh garantierte Anspruch auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz die Rechtsfolge, «dass sie dem nationalen Gericht gebieten, wenn es keine nationale Vorschrift gibt, die eine gerichtliche Überprüfung der Rechtmäßigkeit einer behördlichen Entscheidung vorsieht, mit der die Inhaftierung von Personen, die internationalen Schutz beantragen, oder von Drittstaatsangehörigen, deren Asylantrag abgelehnt wurde, angeordnet wird, sich für die Entscheidung über die Rechtmäßigkeit einer solchen Inhaftierung für zuständig zu erklären, und dass sie dieses Gericht ermächtigen, die betreffenden Personen unverzüglich freizulassen, wenn es der Auffassung ist, dass die Inhaftierung eine unionsrechtswidrige Haft darstellt».
Das Gleiche gilt für die Unterhaltspflichten des Staates, d.h. für den gerichtlich durchsetzbaren Anspruch auf Geldleistung zur Bezahlung einer Unterbringung oder auf Unterbringung als Sachleistung. (Seite 546)

Schweizerisches Bundesgericht (BGer), Lausanne, hebt Teile des Berner Polizeigesetzes auf betr. Wegweisung und Fernhaltung sowie polizeiliche Echtzeit-Überwachung per GPS, bestätigt jedoch Kostenersatz bei Demonstrationen mit Gewaltausübung
«Somit können nicht an der Gewaltausübung beteiligte Demonstrantinnen und Demonstranten bei einer anfänglich friedlichen Kundgebung, in deren Verlauf es zu Gewalttätigkeiten kommt, einzig dann kostenpflichtig werden, wenn sie sich auf behördliche Aufforderung hin nicht entfernen. Bei diesem Verständnis erweist sich die Bestimmung als zumutbar und somit verhältnismässig; indem die Kundgebungsteilnehmenden das Risiko auf Kostenersatz durch ihr eigenes Verhalten ausschliessen können, bewirken die Bestimmungen auch keinen unzulässigen Abschreckungseffekt (…), sondern tragen zur Rechtssicherheit und Vorhersehbarkeit bei.
Grundsätzlich werden hingegen jene Personen kostenpflichtig, die sich freiwillig einer Gruppe angeschlossen haben, aus der heraus Gewalt gegen Sachen oder Personen angewendet wurde. Diese friedensstörenden Demonstrantinnen und Demonstranten können sich von vornherein nicht auf die Meinungsäusserungs- und Versammlungsfreiheit berufen.» (Seite 574)

Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, ordnet per EAO Beseitigung der Sprachbarriere für akkreditierte arabische Journalisten zum Verständnis des Prozessgeschehens in Hauptverhandlung wegen Folterungen durch syrische Geheimdienstmitarbeiter in Syrien an
Vorrang der Pressefreiheit in einem Verfahren nach deutschem Völkerstrafgesetzbuch vor einem deutschen Gericht gilt auch für Journalisten, die der deutschen Sprache nicht mächtig sind. (Seite 587)

BVerfG bestätigt Verfassungsmäßigkeit der strafgerichtlichen Verurteilung wegen mehrfacher Beleidigung von Richtern (Bezeichnung u.a. als „asoziale Justizverbrecher“) im Internet
Der Bf. hat nach der Trennung von seiner Partnerin (Mutter einer gemeinsamen Tochter) vor verschiedenen bayerischen Gerichten – am Ende erfolglos – um das Umgangsrecht mit der Tochter prozessiert.
Zur Verdeutlichung der Maßlosigkeit des Bf. in Einträgen seines Weblogs nach der vollständigen Entziehung des Umgangsrechts mit seiner Tochter hält das BVerfG auszugsweise u.a. fest: «In den Beiträgen nennt er die drei beteiligten Richter und den Präsidenten des Oberlandesgerichts Bamberg namentlich, stellt zugleich Fotos von ihnen ins Netz und bezeichnet sie mehrfach als „asoziale Justizverbrecher“, „Provinzverbrecher“ und „Kindesentfremder“, die Rechtsbeugung begingen und Drahtzieher einer Vertuschung von Verbrechen im Amt seien.»
Zur Reichweite des Internets führt das BVerfG aus: «Die Fachgerichte haben (…) der spezifischen Verbreitungswirkung durch das Internet Rechnung getragen und in ihre Beurteilung eingestellt, dass sich hieraus besonders schwerwiegende Beeinträchtigungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts und spiegelbildlich auch besondere Grenzen für die rechtliche Zulässigkeit von Äußerungen ergeben können. Sowohl der ehrschmälernde Gehalt als auch die Breitenwirkung der Äußerungen waren daher gravierend, was maßgeblich zu berücksichtigen war.» (Seite 589)

BVerfG sieht in strafgerichtlicher Verurteilung eines Steuerpflichtigen wegen Bezeichnung eines ehemaligen sozialdemokratischen NRW-Finanzministers als „rote Null“ eine Verletzung der Meinungsfreiheit
In einem personalisierten an den Beschwerdeführer (Bf.) adressierten Rundschreiben des Finanzministers, das mit seiner gedruckten Unterschrift versehen war, hieß es: „Steuern machen keinen Spaß, aber Sinn. Die Leistungen des Staates, die wir alle erwarten und gern nutzen, gibt es nicht zum Nulltarif.“
Der Bf., der die steuerliche Absetzbarkeit der Kosten für sein rechtliches Vorgehen gegen den Rundfunkbeitrag sowie den Verzicht auf die steuerliche Vorauszahlung für das folgende Jahr erreichen wollte, und auch allgemein eine „Drangsalierung“ und „Tyrannisierung“ der Bürger seitens des Fiskus kritisierte, reagierte auf das Anschreiben des Finanzministers in der Korrespondenz mit dem Finanzamt u.a. mit der Formulierung: „Solange in Düsseldorf eine rote Null als Genosse Finanzministerdarsteller dilettiert, werden seitens des Fiskus die Grundrechte und Rechte der Bürger bestenfalls als unverbindliche Empfehlungen, normalerweise aber als Redaktionsirrtum des Gesetzgebers behandelt. Aber vielleicht führt ja die Landtagswahl im Mai 2017 hier zu Verbesserungen.“
Gegen eine Strafbarkeit der Formulierung führt das BVerfG u.a. an: «Schließlich findet in den angegriffenen Entscheidungen nicht ausreichend Berücksichtigung, dass der Betroffene sich mit seinem personalisierten Schreiben selbst zu Wort gemeldet, einen allgemeinpolitischen Appell an den Beschwerdeführer gerichtet und damit einen konkreten Anlass für dessen Reaktion gesetzt hatte, was den Beschwerdeführer erst zu seiner herabsetzenden Äußerung veranlasste.» (Seite 595)

70 Jahre EMRK / Wegmarken und Errungenschaften – unter dieses Motto stellte der EGMR seine Jubiläumskonferenz am 18. September 2020 in Straßburg
Ein redaktioneller Rückblick ist dem Bericht vorangestellt. Er zeichnet die Entwicklung der Konventionsorgane Kommission und Gerichtshof nach sowie die Überwachung der Urteilsvollstreckung durch das Ministerkomitee und die Errichtung des ständigen Gerichtshofs durch Fusion von Kommission und Gerichtshof per 1. November 1998.
An der Jubiläumskonferenz wirkten neben amtierenden Richtern als Referenten bzw. Diskussionsleiter vier ehemalige EGMR-Präsidenten mit: Linos-Alexandre Sicilianos, Jean-Paul Costa (der auch des am 21. Juli 2020 in Basel verstorbenen ersten Präsidenten des ständigen Gerichtshofs für Menschenrechte (1998-2007) Luzius Wildhaber gedachte), Dean Spielmann und Guido Raimondi. (Seite 600)

EGMR – Ausreise-Genehmigung der russischen Regierung für Alexej Nawalnyj aus Omsk zur Berliner Charité / Behandlung nach Giftanschlag / Anordnung einstweiliger Maßnahmen / Nawalnyj gegen Russland
Der russische Oppositionspolitiker Alexej Nawalnyj war am 20. August 2020 (Donnerstag) auf einem Inlandsflug ohnmächtig geworden. Der Pilot des Verkehrsflugzeugs landete in Omsk (Sibirien), wo Nawalnyj sofort in ein Krankenhaus gebracht wurde. Er lag im Koma.
Erstaunlich schnell und geräuschlos erlaubte die russische Regierung, dass Nawalnyj am frühen Morgen des 22. August (Samstag) mit einem Flugzeug aus Deutschland in Omsk abgeholt und nach Berlin zur Behandlung in der Charité gebracht werden konnte. Dort wurde (wie auch später in weiteren ausländischen Laboren) festgestellt, dass Nawalnyj mit dem militärischen Kampfstoff Nowitschok vergiftet worden war. Nawalnyj ist inzwischen soweit genesen, dass er Anfang Oktober 2020 aus der Charité entlassen werden konnte.
Der Ablauf der Ereignisse macht deutlich, dass die Ausreise-Entscheidung der russischen Regierung auf ein Ersuchen des EGMR vom 21. August (Freitag) zurückgeht, bestimmte einstweilige Maßnahmen zu beachten, ohne dass dies ausdrücklich erwähnt oder von den Beteiligten in die Öffentlichkeit getragen wurde. (Seite 602)

BVerfG lehnt ab, den Gesetzgeber durch Einstweilige Anordnung zu verpflichten, verbindliche Regelungen zur Triage (Zuteilung lebensrettender medizinischer Behandlung bei nicht zu bewältigendem Patienten-Andrang, Priorisierung) zu erlassen
Die Beschwerdeführer (Risiko-Patienten (Covid 19)) werden auf das Hauptsacheverfahren verwiesen. (Seite 603)