EuGRZ 2019 |
31. Oktober 2019
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46 Jg. Heft 17-19
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Informatorische Zusammenfassung
Petra Sußner, Berlin/Wien: „Wer geht, ist selber schuld? / Unionsrechtliche Perspektiven auf Gewaltschutzansprüche von LGBTIQ-Asylsuchenden in Unterkünften – unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des EGMR“
«Asylverfahren sind mit – oft belastenden – Wartezeiten verbunden. Asylsuchende verbringen diese Wartezeiten meist in organisierten Unterkünften. Die Mindeststandards, die ihnen in diesen Unterkünften zur Verfügung stehen müssen, regelt die Richtlinie 2013/33/EU (AufnahmeRL); der Schutz der physischen und psychischen Gesundheit, der Schutz vor Gewalt ist hier Teil der Basisversorgung. Trotzdem berichten insbesondere lesbische, schwule, bisexuelle, inter- und transgeschlechtliche sowie queere (LGBTIQ-)Asylsuchende von Bedrohung, Diskriminierung und Übergriffen.»
Die Autorin gelangt am Ende ihrer ausführlichen Untersuchung u.a. zu folgendem Ergebnis: «In asylrechtlichen Aufnahmeunterkünften wiederholen sich fluchtauslösende Ereignisse. Aus der aktuellen Berichtslage wissen wir, dass dazu LGBTIQ-feindliche Gewalt gehört. Betroffene sind von Übergriffen, Diskriminierung und Schikane bedroht. Wer eine Unterkunft verlässt, kann den existenzsichernden Zugang zum Aufnahmesystem verlieren. Gewalt hat hier – daran sei nochmals erinnert – System, nicht jedoch der Schutz vor Gewalt. (…)
Wesentliche Grundlagen für Schutzansprüche finden sich im Recht auf Leben (Art. 2 EMRK / GRCh) und dem Verbot von Folter, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (Art. 3 EMRK / Art. 4 GRCh). Der EGMR hat dazu einen umfassenden Judikaturbestand entwickelt, der präventive und einzelfallbezogene staatliche Handlungspflichten umfasst. Diese Handlungspflichten setzt er in ein Wechselverhältnis zur Vulnerabilität der Betroffenen. (…)
Die AufnahmeRL eröffnet den Mitgliedstaaten im Bereich von Unterbringungszentren und -räumlichkeiten ausreichende Möglichkeiten, diesen Anforderungen nachzukommen (Art. 17 und 18 AufnahmeRL). Als tatbestandliche Anknüpfungspunkte kommen dazu grundsätzlich Geschlecht und Schutzbedürftigkeit (Art. 21 AufnahmeRL) in Betracht. Eine praktikable und zeitgemäße Lösung wäre es, das gesamte LGBTIQ-Spektrum unter den Geschlechterbegriff der AufnahmeRL zu subsumieren und im Einzelfall in Zusammenschau mit dem Schutzbedürftigkeitstatbestand intersektional zu spezifizieren. (…)
Nach derzeitiger Sachlage ist nicht davon auszugehen, dass die EU-Mitgliedstaaten ihren Schutzpflichten (vollumfänglich) nachkommen. Ein – auch ursächlicher – Aspekt dieses Problems ist, dass viele Betroffene ihre sexuelle Orientierung und geschlechtliche Identität zum Schutz vor der Außenwelt verbergen. Zu beachten ist hier, dass dem Grundsatz nach Gewaltschutzgarantien ab Stellung des Antrags greifen. Für die Aufnahmestaaten gilt: Das sprichwörtliche Schrankversteck (Closet) stellt keinen – im Sinn der grund- und menschenrechtlichen Anforderungen – effektiven Gewaltschutz dar. Es ist prekär und kann selbst zu grundrechtlich relevanten psychischen Verletzungen führen. (…)
In Zukunft könnten Praxisdefizite die EU-Mitgliedstaaten unter empfindlichen Zugzwang setzen. (…) Gemäß Art. 26 AufnahmeRL haben die Mitgliedstaaten gegen Entscheidungen über Gewährung, Entzug oder Einschränkungen von Vorteilen aus der AufnahmeRL einen Rechtsbehelf zur Verfügung zu stellen. (…) Auf welchem Weg LGBTIQ-Asylsuchende ihre Ansprüche geltend machen, bemisst sich dabei vorrangig nach nationalem Recht. Sollten die EU-Mitgliedstaaten ihre Schutzsysteme nicht verbessern, könnten bald die Gerichte mit dem Problem LGBTIQ-feindlicher Gewalt in Unterkünften befasst sein.» (Seite 437)
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Straßburg, billigt Ausweisung eines in Deutschland geborenen Türken (Vater einer in Deutschland geborenen Tochter) wegen massiver Straffälligkeit (Drogendelikte) / Keine Verletzung von Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) / Yunus Cabucak gegen Deutschland
«Im Hinblick auf das Verhalten des Bf. stellt der Gerichtshof fest, dass dieser im Jahr 2009 zum letzten Mal straffällig geworden ist und Ende 2014 aus der Haft entlassen wurde. Zwar ist er seitdem nicht erneut straffällig geworden, aber es muss angemerkt werden, dass er einen erheblichen Teil dieser Zeitspanne in Haft verbracht hat. Die innerstaatlichen Stellen waren der Ansicht, dem Bf. seien bereits mehrfach Chancen zur Änderung seines Verhaltens eingeräumt worden und er habe es versäumt, diese zu nutzen, selbst wenn günstige Umstände wie eine Beziehung und die Geburt seiner Tochter Anlass zu einer Wende hätten geben können, und dass sich in seinem Leben eine Abfolge von Straftaten, Sanktionen, Resozialisierung und verhältnismäßig kurzen Zeitspannen mit gebessertem Verhalten vor dem Begehen weiterer Straftaten verstetigt habe. Sie gelangten zu dem Ergebnis, dass sein Verhalten seit 2009, einschließlich des erlangten Hauptschulabschlusses und der Auseinandersetzung mit seinen psychischen Problemen und seiner Mehrfachabhängigkeit, nicht den Schluss zuließ, dass keine Gefahr mehr bestehe, dass er weitere Straftaten begehen werde. Der Gerichtshof hält diese Schlussfolgerung nicht für unangemessen.
Im Hinblick auf die familiäre Situation des Bf. und das Wohl des Kindes ist anzumerken, dass der Bf. nicht mit dem Kind und der Kindesmutter, die beide deutsche Staatsangehörige sind, in häuslicher Gemeinschaft lebt, und dass ein solches Zusammenleben nur für einen kurzen, etwa zweimonatigen Zeitraum zwischen der Geburt des Kindes im September 2009 und seiner Inhaftierung im November 2009 stattgefunden hat. In der Zeit der Haft und Therapie des Bf. war ihre Beziehung eingeschränkt.»
Der Gerichtshof erkennt an, «dass die innerstaatlichen Gerichte die widerstreitenden Interessen sorgfältig gegeneinander abgewogen und explizit die in der Rechtsprechung des Gerichtshofs festgelegten Kriterien berücksichtigt haben. Unter Berücksichtigung der Schwere der von dem Bf. begangenen Betäubungsmitteldelikte und angesichts der Souveränität der Mitgliedstaaten in Bezug auf die Kontrolle und Regelung des Aufenthalts von Ausländern in ihrem Hoheitsgebiet ist der Gerichtshof überdies der Auffassung, dass es relevante und ausreichende Gründe für den Eingriff gab und dieser verhältnismäßig war.» (Seite 454)
Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH), Luxemburg, kritisiert ausgehend von der Nichtbeachtung eines Handy-Notrufes nach einem Gewaltverbrechen in höchster Lebensgefahr die mangelhafte Standortermittlung bei der europaeinheitlichen Notrufnummer 112 in Litauen / Rs. AW u.a.
Das Ausgangsverfahren: «AW u.a. sind Angehörige von ES, einer siebzehnjährigen Jugendlichen, die Opfer einer Straftat wurde. Aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten ergibt sich, dass ES am 21. September 2013 gegen sechs Uhr morgens in einem Vorort von Panevėžys (Litauen) entführt, vergewaltigt und im Kofferraum eines Autos lebendig verbrannt wurde. Während sie im Kofferraum eingesperrt war, sandte sie mit einem Mobiltelefon unter der europaweit einheitlichen Notrufnummer 112 (im Folgenden: Nummer 112) etwa ein Dutzend Mal einen Hilferuf an das litauische Gemeinsame Notfallzentrum. Den Bediensteten des Gemeinsamen Notfallzentrums wurde jedoch die Nummer des verwendeten Mobiltelefons nicht angezeigt, so dass sie dessen Standort nicht ermitteln konnten. Es ließ sich nicht feststellen, ob das von ES verwendete Mobiltelefon über eine SIM-Karte verfügte und warum seine Nummer im Gemeinsamen Notfallzentrum nicht angezeigt wurde.
AW u.a. haben vor dem vorlegenden Gericht gegen den litauischen Staat eine Klage auf Ersatz des dem Opfer, ES, und ihnen selbst, seinen Angehörigen, entstandenen immateriellen Schadens erhoben. Sie stützen ihre Klage darauf, dass die Republik Litauen die praktische Umsetzung von Art. 26 Abs. 5 der Richtlinie 2002/22 nicht ordnungsgemäß sichergestellt habe. Dies habe dazu geführt, dass den örtlichen Polizeidienststellen die Angaben zum Standort von ES nicht hätten übermittelt werden können, und sie daran gehindert, ihr Hilfe zu leisten.»
Der EuGH stellt fest: «[Daher] müssen die Kriterien für die Genauigkeit und Zuverlässigkeit der Angaben zum Anruferstandort im Rahmen der technischen Machbarkeit stets gewährleisten, dass der Standort des Anrufers so zuverlässig und genau bestimmt werden kann, wie es erforderlich ist, damit die Notdienste ihm wirksam helfen können.
Das den Mitgliedstaaten bei der Festlegung dieser Kriterien zustehende Ermessen findet seine Grenze daher darin, dass gewährleistet sein muss, dass die übermittelten Angaben eine effektive Ermittlung des Anruferstandorts ermöglichen, damit die Notdienste tätig werden können.
Da die Beurteilung dieser Gegebenheiten in hohem Maß technischen Charakter hat und eng mit den Besonderheiten des litauischen Mobilfunknetzes verbunden ist, ist sie Sache des vorlegenden Gerichts.»
Zur Staatshaftung heißt es im Tenor: «Das Unionsrecht ist dahin auszulegen, dass ein nach dem nationalen Recht eines Mitgliedstaats für den Eintritt der Haftung dieses Staates ausreichender mittelbarer Kausalzusammenhang zwischen einem Rechtsverstoß der nationalen Behörden und dem entstandenen Schaden auch als ausreichend dafür anzusehen ist, dass der Staat für einen ihm zuzurechnenden Verstoß gegen das Unionsrecht haftet.» (Seite 459)
EuGH bestätigt die (durch ein nationales Gericht im Einklang mit internationalen Regeln verfügte) weltweite Pflicht eines Hosting-Anbieters zur Löschung oder Sperrung von Beleidigung und Diffamierung auf Facebook / Rs. Glawischnig-Piesczek
Klägerin im Ausgangsverfahren ist eine ehemalige Abgeordnete zum österreichischen Nationalrat, Klubobfrau (Fraktionsvorsitzende) der „Grünen“ im Parlament und Bundessprecherin dieser Partei. Es geht um einen auf Facebook geposteten Kommentar, der nach den Feststellungen des vorlegenden Gerichts geeignet ist, die Klägerin „in ihrer Ehre zu beleidigen, sie zu beschimpfen und zu diffamieren“. (Seite 463)
EuGH zu Reichweite und Eingrenzung der Pflicht von Suchmaschinenbetreibern (hier: Google) zur Auslistung von Links zu Webseiten mit personenbezogenen Daten bei namentlicher Suche / Rs. GC u.a.
In den Ausgangsverfahren vor dem französischen Conseil d’État (Staatsrat) geht es um folgende Sachverhalte, bei denen Google eine Auslistung ablehnte:
– Eine satirische Fotomontage, bei der der Kabinettsdirektorin (GC) eines Gemeindebürgermeisters angebliche intime Beziehungen unterstellt wurden;
– Links zu einem Artikel in der Tageszeitung „Libération“, über den Selbstmord eines Anhängers der Scientology-Kirche, in dem der Kläger des Ausgangsverfahrens (AF) als Verantwortlicher für die Öffentlichkeitsarbeit von Scientology bezeichnet wurde – eine Tätigkeit, die er heute nicht mehr ausübt;
– Links zu Presseartikeln über die gerichtliche Voruntersuchung zur Finanzierung der französischen Republikanischen Partei (Parti républicain (PR)). Das den Kläger des Ausgangsverfahrens (BH) betreffende Verfahren endete mit einem Einstellungsbeschluss. Die meisten der streitigen Links führen zu Artikeln aus der Zeit der Ermittlungen, nicht zu Berichten über den Einstellungsbeschluss.
– Links zu Artikeln in „Nice-Matin“ und „Le Figaro“ über ein Strafverfahren gegen den Kläger des Ausgangsverfahrens (ED), der zu Freiheitsstrafe von 7 Jahren wegen sexueller Übergriffe auf mehrere 15-jährige Jugendliche verurteilt wurde. In der Reportage werden mehrere ED betreffende intime Details erwähnt.
Die Große Kammer betont die Notwendigkeit der Abwägung im Einzelfall zwischen Schutz der Privatsphäre und Recht auf Information.
Der EuGH nimmt auch Bezug auf den EGMR: «Bei der Suche nach diesem angemessenen Ausgleich ist der wesentlichen Rolle Rechnung zu tragen, die der Presse in einer demokratischen Gesellschaft zukommt und zu der das Verfassen von Berichten und Kommentaren zu Gerichtsverfahren gehört. Ferner tritt zu der Funktion der Medien, solche Informationen und Ideen zu vermitteln, das Recht der Öffentlichkeit, diese zu erhalten. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in diesem Zusammenhang anerkannt, dass die Öffentlichkeit nicht nur ein Interesse daran hat, über ein aktuelles Ereignis informiert zu werden, sondern auch, Recherchen zu vergangenen Ereignissen durchführen zu können, wobei der Umfang des öffentlichen Interesses bei Strafverfahren jedoch variabel ist und sich mit der Zeit insbesondere nach Maßgabe der Umstände der Rechtssache ändern kann.» (Seite 467)
EuGH gesteht den mitgliedstaatlichen Aufsichts- und Justizbehörden die Möglichkeit zu, Suchmaschinenbetreibern nach stattgebendem Auslistungsantrag die Entfernung von namensbezogenen Links in seinen sämtlichen Domains aufzugeben / Rs. Google
Die Große Kammer führt aus: «Schließlich ist noch darauf hinzuweisen, dass das Unionsrecht zwar, (…) nach derzeitigem Stand nicht vorschreibt, dass die Auslistung, die möglicherweise gewährt wird, für alle Versionen der Suchmaschine gilt, doch verbietet es dies auch nicht. Daher bleibt eine Aufsichts- oder Justizbehörde eines Mitgliedstaats befugt, anhand von nationalen Schutzstandards für die Grundrechte (…) eine Abwägung zwischen dem Recht der betroffenen Person auf Achtung des Privatlebens und auf Schutz der sie betreffenden personenbezogenen Daten einerseits und dem Recht auf freie Information andererseits vorzunehmen und nach erfolgter Abwägung gegebenenfalls dem Suchmaschinenbetreiber aufzugeben, eine Auslistung in allen Versionen seiner Suchmaschine vorzunehmen.» (Seite 478)
EuGH präzisiert Kriterien für die rechtswirksame Einwilligung der betroffenen Person zum Setzen von Cookies / hier: mit vorangestelltem Häkchen versehenes Ankreuzkästchen auf Webseite zur Teilnahme an einem Gewinnspiel / Rs. Bundesverband der Verbraucherzentralen gegen Planet49
Cookies liefern dem Webseiten-Betreiber Informationen über das Nutzerverhalten im Netz. Die Große Kammer entscheidet, «dass keine wirksame Einwilligung (…) vorliegt, wenn die Speicherung von Informationen oder der Zugriff auf Informationen, die bereits im Endgerät des Nutzers einer Website gespeichert sind, mittels Cookies durch ein voreingestelltes Ankreuzkästchen erlaubt wird, das der Nutzer zur Verweigerung seiner Einwilligung abwählen muss. (…)
Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2002/58 in der durch die Richtlinie 2009/136 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass Angaben zur Funktionsdauer der Cookies und dazu, ob Dritte Zugriff auf die Cookies erhalten können, zu den Informationen zählen, die der Diensteanbieter dem Nutzer einer Website zu geben hat.» (Seite 486)
EuGH qualifiziert die Vollstreckung eines durch die österreichische Staatsanwaltschaft nach richterlichem Bewilligungsbeschluss ausgestellten Europäischen Haftbefehls als unionsrechtskonform / Rs. NJ
«Die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls unterliegt daher nach österreichischem Recht in vollem Umfang einer objektiven und unabhängigen Kontrolle durch ein Gericht, das insoweit eine umfassende Überprüfung der Voraussetzungen für die Ausstellung des Haftbefehls und seiner Verhältnismäßigkeit vornimmt. Erst nach der Bewilligung des betreffenden Haftbefehls durch das Gericht entfaltet er Rechtswirkungen und kann übermittelt werden. Da eine solche Kontrolle systematisch und von Amts wegen stattfindet, bevor der Haftbefehl Rechtswirkungen entfaltet und übermittelt werden kann, unterscheidet sie sich von einem Rechtsbehelf, der [wie in Deutschland] erst nachträglich zum Tragen kommt und vom Betroffenen eingelegt werden muss.»
(Seite 493)
EuGH zu Kriterien für Gründe einer Ablehnung der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls wegen Haftbedingungen im Ausstellungsmitgliedstaat (hier: in Rumänien) / Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung (Art. 3 EMRK und Art. 4 GRCh) / Rs. Dorobantu
Die Große Kammer stellt fest: «Was speziell den persönlichen Raum betrifft, über den jeder Gefangene verfügt, so muss die vollstreckende Justizbehörde, da im Unionsrecht gegenwärtig keine Mindestnormen hierzu existieren, die Mindestanforderungen berücksichtigen, die sich aus Art. 3 [EMRK] in der Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ergeben. Bei der Berechnung dieses verfügbaren Raums ist zwar die durch Sanitärvorrichtungen belegte Fläche nicht einzuschließen, wohl aber die durch Möbel eingenommene Fläche. Den Gefangenen muss es jedoch möglich bleiben, sich in der Zelle normal zu bewegen.» (Seite 498)
EuGH setzt sich mit der maximal zulässigen Dauer von sukzessiven befristeten Arbeitsverträgen für Teilzeit-Beschäftigte im Verhältnis zu Vollzeit-Beschäftigten auseinander / Rs. Schuch-Ghannadan
Es geht konkret um eine Teilzeit-beschäftigte Wissenschaftlerin an der Medizinischen Universität Wien und darum, ob Frauen gegenüber Männern diskriminiert werden. Der EuGH betont: «Art. 19 Abs. 1 der Richtlinie 2006/54 ist dahin auszulegen, dass er von der Partei, die sich durch eine (…) Diskriminierung für beschwert hält, nicht verlangt, dass sie, um den Anschein einer Diskriminierung glaubhaft zu machen, in Bezug auf die Arbeitnehmer, die von der nationalen Regelung betroffen sind, konkrete statistische Zahlen oder konkrete Tatsachen vorbringt, wenn sie zu solchen Zahlen oder Tatsachen keinen oder nur schwer Zugang hat.» (Seite 506)
Schweizerisches Bundesgericht (BGer), Lausanne, bekräftigt den Anspruch eines mutmaßlichen Opfers von Menschenhandel auf Erteilung einer Kurzaufenthaltsbewilligung für die Dauer eines Strafverfahrens zur Verfolgung des Menschenhandels
Die maßgebliche völkerrechtliche Vorschrift ist Art. 14 ÜBM (Übereinkommen zur Bekämpfung des Menschenhandels).
(Seite 513)
BGer bestätigt die Pflicht des Fahrzeughalters zur Bekanntgabe des Fahrzeugführers im Falle des Bestreitens seiner Täterschaft bei zu schnellem Fahren
Allerdings scheitert die Bestrafung einer juristischen Person (GmbH) am Fehlen einer ausdrücklichen gesetzlichen Grundlage, d.h. wegen Verstoßes gegen das Legalitätsprinzip. (Seite 517)
Bundesverfassungsgericht (BVerfG), sieht keinen Grund zur Beanstandung der sog. Mietpreisbremse
Zwei Richtervorlagen des LG Berlin werden von der 3. Kammer des Ersten Senats für unzulässig erklärt und die Verfassungsbeschwerde einer Vermieterin wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Die Kammer führt aus: «Die Regulierung der Miethöhe bei Mietbeginn durch § 556d Abs. 1 BGB verstößt weder gegen die Garantie des Eigentums aus Art. 14 Abs. 1 GG noch gegen die Vertragsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG noch den allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG.
Zwar greift die Miethöhenregulierung in das durch Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG geschützte Eigentum zur Vermietung bereiter Wohnungseigentümer ein. Dies bewirkt § 556d Abs. 1 BGB, der alle für den Grundrechtseingriff bedeutsamen gesetzgeberischen Entscheidungen trifft, und nicht erst die jeweils aufgrund von § 556d Abs. 2 Satz 1 BGB erlassene Landesverordnung. Der Eingriff ist aber gerechtfertigt. (…)
Die Miethöhenregulierung in § 556d Abs. 1 BGB wahrt auch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Nach dem Verhältnismäßigkeitsprinzip muss der Eingriff zur Erreichung eines legitimen Eingriffsziels geeignet sein und darf nicht weiter gehen, als es die Gemeinwohlbelange erfordern; ferner müssen Eingriffszweck und Eingriffsintensität in einem angemessenen Verhältnis stehen (…)
Mit der Miethöhenregulierung in § 556d Abs. 1 BGB verfolgt der Gesetzgeber ein legitimes Ziel. Der gesetzgeberische Zweck, durch die Begrenzung der Miethöhe bei Wiedervermietung der direkten oder indirekten Verdrängung wirtschaftlich weniger leistungsfähiger Bevölkerungsgruppen aus stark nachgefragten Wohnquartieren entgegenzuwirken, liegt im öffentlichen Interesse.
Die Regelung ist auch geeignet, dieses Ziel zu erreichen. Verfassungsrechtlich genügt für die Eignung, dass der erstrebte Erfolg gefördert werden kann, dass also die Möglichkeit der Zweckerreichung besteht. (…)
Der Gesetzgeber hat die schutzwürdigen Interessen des Eigentümers und die Belange des Gemeinwohls in einen gerechten Ausgleich und in ein ausgewogenes Verhältnis gebracht. (…)
Die Eigentumsgarantie gebietet nicht, einmal ausgestaltete Rechtspositionen für alle Zukunft in ihrem Inhalt unangetastet zu lassen. Der Gesetzgeber kann im Rahmen der Bestimmung von Inhalt und Schranken des Eigentums einmal geschaffene Regelungen nachträglich verändern und fortentwickeln (…), auch wenn sich damit die Nutzungsmöglichkeiten bestehender Eigentumspositionen verschlechtern. Die Abänderung kann durch Gründe des öffentlichen Interesses unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit gerechtfertigt sein.» (Seite 520)
BVerfG zur Definition eines „faktischen Leiters“ einer nicht angemeldeten Demonstration und seiner strafrechtlichen Verantwortlichkeit gem. § 26 Nr. 2 Versammlungsgesetz
«Die Entscheidung des Amtsgerichts und des Oberlandesgerichts, auch den „faktischen Leiter“ einer nicht angemeldeten Versammlung als tauglichen Täter nach § 26 Nr. 2 VersammlG anzusehen, verstößt nicht gegen das strafrechtliche Analogieverbot (Art. 103 Abs. 2 GG).» (Seite 533)
BVerfG zur Abwägung von Meinungsfreiheit und Jugendschutz
Hier: Vorrang der Meinungsfreiheit auf einer politischen Internet-Seite des Landesverbands Berlin der NPD. (Seite 536)
BVerfG verwirft Organstreit-Antrag der Bundestagsfraktion DIE LINKE gegen Beteiligung deutscher Streitkräfte am Einsatz gegen „Islamischen Staat“ (IS)
Der Zweite Senat stellt fest: «Der Antrag ist mangels Antragsbefugnis unzulässig. Die Antragstellerin hat nicht hinreichend substantiiert dargelegt, dass die von ihr behauptete Verletzung der in Prozessstandschaft geltend gemachten verfassungsmäßigen Rechte des Bundestages möglich erscheint.» (Seite 538)
EGMR-Richterwahlen – Ana Maria Guerra Martins neue portugiesische Richterin. (Seite 546)
Gericht der Europäischen Union (EuG) – Innergerichtliche Wahlen: Marc van der Woude (Niederländer) neuer Präsident des EuG, Savvas Pappasavvas (Zypriote) neuer Vize-Präsident des EuG. Sämtliche Mandate belaufen sich jeweils auf drei Jahre.
Die neuen Präsidenten der zehn Kammern des EuG sind: Heikki Kanninen (Finne), Vesna Tomljenović (Kroatin), Anthony Michael Collins (Ire), Stéphane Gervasoni (Franzose), Dean Spielmann (Luxemburger), Anna Marcoulli (Zypriotin), Ricardo da Silva Passos (Portugiese), Jesper Svenningsen (Däne), Maria José Costeira (Portugiesin), Alexander Kornezov (Bulgare).
(Seite 547)
EGMR befasst sich mit einem Fall zur Demonstrationsfreiheit, der sowohl private als auch öffentliche Aspekte aufweist / Beschwerde Haschke gegen Deutschland zugestellt
Es geht um eine Demonstration gegen die Teilnahme der Bundeswehr an einer überwiegend privaten Jobmesse. Der Bf. wendet sich gegen seine Verurteilung wegen Hausfriedensbruchs. (Seite 548)