EuGRZ 2019 |
12. Juni 2019
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46 Jg. Heft 7-11
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Informatorische Zusammenfassung
Andreas Haratsch, Hagen, behandelt in einer kritischen Untersuchung „Das Bundesverfasungsgericht und die Sperrklauseln bei Europawahlen – Europarechtsfreundlichkeit, Unionstreue und der kategorische Imperativ“
Die Fünf-Prozent-Klausel bei Wahlen zum EP hat das BVerfG im Jahr 2011 für verfassungswidrig erklärt, ebenso mit Urteil vom Februar 2014 die ersatzweise eingeführte Drei-Prozent-Klausel.
Der Autor stellt zunächst den aktuellen politischen Kontext her: «Waren im Jahr 2009 noch Abgeordnete von sechs Parteien aus Deutschland in das Europäische Parlament eingezogen, waren es bei den Europawahlen der Jahre 2014 und zuletzt 2019 jeweils Abgeordnete von vierzehn Parteien.
Angesichts der politischen Großwetterlage war bereits im Vorfeld zu erwarten, dass bei den Europawahlen des Jahres 2019 europaskeptische und europafeindliche Abgeordnete in größerer Zahl als bislang in das Europäische Parlament einziehen würden. Diese Befürchtungen haben sich bestätigt. In Frankreich mit dem „Rassemblement National“ und in Italien mit der „Lega Nord“ sind in zwei europäischen Kernländern jeweils europaskeptische, rechtsnationale Parteien als stärkste Kraft aus den Wahlen hervorgegangen. In Großbritannien hat die „Brexit Party“ Nigel Farages mehr Stimmen erhalten als die „Labour Party“ und die „Conservative Party“ zusammen. Es steht zu befürchten, dass die Infiltrierung des Europäischen Parlaments durch Europagegner die „Stoßkraft der europäischen Integration“ nicht unwesentlich schwächen könnte. Bedenkt man zudem, dass im neu zusammengesetzten Europäischen Parlament Abgeordnete aus mehr als 180 verschiedenen Parteien vertreten sein werden, ist zu erwarten, dass dies die Arbeit des Parlaments, aber auch die Arbeit anderer Unionsorgane, insbesondere von Rat und Kommission, die bei der Unionsgesetzgebung eng mit dem Europäischen Parlament zusammenarbeiten, deutlich schwieriger gestalten wird.»
Haratsch zieht folgendes Fazit: «Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die beiden Sperrklausel-Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts aus den Jahren 2011 und 2014 einen schalen Beigeschmack hinterlassen, nicht zuletzt aufgrund handwerklicher Fehler, die dem Gericht unterlaufen. Der Grundsatz der Europarechtsfreundlichkeit, der in der Rechtsprechung des Gerichts in zahlreichen Entscheidungen der letzten Jahre immer wieder herangezogen worden ist, bleibt aus unerfindlichen Gründen unberücksichtigt. Gleiches gilt für den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit, der als Unionsrecht zwar nicht verfassungsgerichtlicher Prüfungsmaßstab sein kann, der dem Gericht in anderen Verfahren aber immer wieder als Argumentationstopos gedient hat. Auch der Schluss, den das Bundesverfassungsgericht daraus zieht, dass der deutsche Gesetzgeber beim Erlass des deutschen Europawahlrechts funktional als Unionsgesetzgeber agiert, überzeugt nicht. Man mag dies als symptomatisch dafür ansehen, dass tektonische Verschiebungen zwischen dem Europäischen Unionsrecht und dem nationalen Verfassungsrecht zu verzeichnen sind, die neu kartiert werden müssen. Ein Ärgernis bleiben die beiden höchstrichterlichen Entscheidungen gleichwohl. Der Versuch der Schadensbegrenzung über eine obligatorische Sperrklausel-Regelung im Direktwahlakt erweist sich als mühsames Unterfangen, dessen Gelingen angesichts des Erfordernisses der Ratifikation durch alle Mitgliedstaaten ungewiss ist. Lang ist der Weg allemal, da die Änderung frühestens für die Europawahlen des Jahres 2029 Geltung erlangen wird.» (Seite 177)
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Straßburg, entwickelt Leitlinien für das personenstandsrechtliche Kindeswohl nach Geburt durch Leih-Mutter im Ausland (hier: USA und Indien) / Erstes Vorab-Gutachten gem. 16. ZP-EMRK
Die Große Kammer des EGMR gibt auf die Fragen des französischen Kassationsgerichtshofs (einstimmig) folgende Antworten:
«In einer Situation, in der, wie vom Kassationsgerichtshof in seinen Fragen beschrieben, ein von einer Leih-Mutter im Ausland geborenes Kind, das mit den Gameten des Wunsch-Vaters und einer dritten Spenderin gezeugt wurde, und wobei die Abstammungsbeziehung zwischen dem Kind und dem Wunsch-Vater vom innerstaatlichen Recht anerkannt wurde:
1. erfordert das Recht des Kindes auf Achtung seines Privatlebens i.S.v. Art. 8 der Konvention, dass das innerstaatliche Recht eine Möglichkeit bietet, ein rechtliches Band der Abstammungsbeziehung zwischen diesem Kind und der Wunsch-Mutter, die in der im Ausland rechtmäßig ausgefertigten Geburtsurkunde als die „rechtliche Mutter“ bezeichnet wurde, anzuerkennen.
2. erfordert es das Recht auf Achtung des Privatlebens des Kindes i.S.v. Art. 8 der Konvention nicht, dass diese Anerkennung durch Übertragung der im Ausland rechtmäßig ausgefertigten Geburtsurkunde in das Personenstandsregister erfolgt; sie kann auch auf anderem Wege erfolgen wie über eine Adoption des Kindes durch die Wunsch-Mutter, insofern die vom innerstaatlichen Recht vorgesehenen Modalitäten eine dem Kindeswohl entsprechende Wirksamkeit und Schnelligkeit der Umsetzung garantieren.»
Grundsätzlich führt der EGMR aus: «Generell betrachtet, benachteiligt die im innerstaatlichen Recht fehlende Anerkennung einer Abstammungsbeziehung zwischen dem Kind und der Wunsch-Mutter (…) das Kind, weil es dies einer gewissen rechtlichen Ungewissheit aussetzt, wenn es um seine Identität in der Gesellschaft geht (…). Insbesondere ist das Risiko gegeben, dass das Kind keinen Zugang zur Staatsangehörigkeit der Wunsch-Mutter unter den durch eine rechtliche Abstammungsbeziehung gewährleisteten Voraussetzungen hat. Dies kann seinen Verbleib in dem Wohnsitzland der Wunsch-Mutter erschweren (wenn auch dieses Risiko in dem vor dem Kassationsgerichtshof anhängigen Fall nicht besteht, da der Wunsch-Vater, der auch der biologische Vater ist, die französische Staatsangehörigkeit hat). Das Erbrecht des Kindes kann im Hinblick auf die Wunsch-Mutter gemindert sein. Es kann sich zum Nachteil des Kindes auswirken, wenn es die Verbindung zur Wunsch-Mutter in dem Fall aufrechterhält, dass die Wunsch-Eltern sich trennen oder der Wunsch-Vater verstirbt. Es ist nicht gegen eine Weigerung der Wunsch-Mutter geschützt, überhaupt nicht oder nicht mehr für den Unterhalt des Kindes aufzukommen.
Der Gerichtshof ist sich dessen bewusst, dass im Kontext der Leih-Mutterschaft das Kindeswohl sich nicht nur auf die Achtung seines Rechts auf Privatleben beschränkt. Es umfasst auch weitere grundlegende Elemente, die nicht notwendigerweise für die Anerkennung einer Abstammungsbeziehung zu der Wunsch-Mutter sprechen, wie die Missbrauchsgefahr, die eine Leih-Mutterschaft mit sich bringt (…) und die Möglichkeit, die eigene Herkunft kennen zu wollen (…).
Angesichts der oben (…) nachgezeichneten Erwägungen (…) ist der Gerichtshof dennoch der Meinung, dass die generelle und absolute Unmöglichkeit, die Anerkennung einer Abstammungsbeziehung zwischen einem von einer Leih-Mutter im Ausland geborenen Kind und der Wunsch-Mutter zu erreichen, nicht mit dem Kindeswohl vereinbar ist, was zumindest die Prüfung des Einzelfalls und seiner besonderen Umstände erfordert.» (Seite 185)
Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH), Luxemburg, erkennt in dem geplanten Freihandelsabkommen der EU mit Kanada (CETA) keinerlei Beeinträchtigung der Autonomie der Unionsrechtsordnung bzw. der EU-Grundrechte (Gleichbehandlung, Diskriminierungsverbot, Zugang zu einem unabhängigen Gericht) / Gutachten 1/17
Gegenstand des von Belgien beantragten Gutachtens ist die Vereinbarkeit des Mechanismus zur Beilegung von Streitigkeiten zwischen Investoren und Staaten mit dem Unionsrecht.
Dieser Mechanismus besteht aus einem 15-köpfigen CETA- Gericht (5 Richter aus EU-Staaten, 5 Richter aus Kanada und 5 Richter aus Drittstaaten), einer entsprechenden Rechtsbehelfsinstanz sowie einem (diese beiden Organe ablösenden) künftigen multilateralen Investitionsgerichtshof außerhalb des Unionsrechts. In seiner detaillierten Prüfung sämtlicher vorgetragenen Bedenken findet der EuGH (Plenum) keinen Grund zur Beanstandung. (Seite 191)
EuGH bestätigt die Entziehung der durch Täuschung erlangten Aufenthaltstitel von Drittstaatsangehörigen (hier: Chinesen) / Rs. Y.Z., Z.Z., Y.Y.
«Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs können sich die Rechtsunterworfenen jedoch nicht in betrügerischer Weise auf die Rechtsvorschriften der Union berufen, da der Grundsatz des Verbots von Betrug einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts darstellt, der von den Rechtsunterworfenen zu beachten ist (…). Die Versagung oder der Entzug eines Rechts wegen betrügerischer Tätigkeiten ist nur die bloße Folge der Feststellung, dass im Fall von Betrug die objektiven Voraussetzungen für die Erlangung dieses Rechts in Wirklichkeit nicht erfüllt sind. (…)
Angesichts der mit der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten verbundenen umfassenden Rechte ist es erforderlich, dass die Mitgliedstaaten gegen Betrug wirksam vorgehen können, indem sie dem Begünstigten die auf einer Täuschung beruhende Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten entziehen.» (Seite 213)
EuGH zu Aberkennung bzw. Verweigerung der Flüchtlingseigenschaft nach schwerer Straftat im Inland wegen Gefahr für die Sicherheit oder die Allgemeinheit des Aufnahmemitgliedstaats (hier: Tschechien, Belgien) / Verb. Rsn. M und X, X
Das Urteil der Großen Kammer weist nach, dass der Schutz der RL 2011/95/EU trotz schwerer Straftaten weiter reicht als jener der Genfer Flüchtlingskonvention:
«Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich insgesamt, dass die Personen, die von einer der in Art. 14 Abs. 4 und 5 der Richtlinie 2011/95 beschriebenen Fallgestaltungen erfasst werden – während gegen sie nach Art. 33 Abs. 2 des Genfer Abkommens eine Maßnahme ergriffen werden kann, mit der sie in ihr Herkunftsland zurückgewiesen oder ausgewiesen werden, und zwar auch dann, wenn dort ihr Leben oder ihre Freiheit bedroht sind –, nach Art. 21 Abs. 2 dieser Richtlinie nicht zurückgewiesen werden können, wenn sie dadurch Gefahr liefen, in ihren durch Art. 4 und Art. 19 Abs. 2 der Charta verankerten Grundrechten verletzt zu werden.» (Seite 220)
EuGH präzisiert „Flucht“-Kriterien bei Vereitelung der Überstellung eines Asylantragstellers an den nach den Dublin-Regeln eigentlich zuständigen Staat (hier: Italien) und die Reichweite von Art. 4 GRCh (Verbot der Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung) / Rs. Jawo
Die Große Kammer hält fest: «Art. 29 Abs. 2 Satz 2 der Dublin-III-Verordnung ist dahin auszulegen, dass ein Antragsteller „flüchtig ist“ im Sinne dieser Bestimmung, wenn er sich den für die Durchführung seiner Überstellung zuständigen nationalen Behörden gezielt entzieht, um die Überstellung zu vereiteln. Dies kann angenommen werden, wenn die Überstellung nicht durchgeführt werden kann, weil der Antragsteller die ihm zugewiesene Wohnung verlassen hat, ohne die zuständigen nationalen Behörden über seine Abwesenheit zu informieren, sofern er über die ihm insoweit obliegenden Pflichten unterrichtet wurde, was das vorlegende Gericht zu prüfen hat. Der Antragsteller behält die Möglichkeit, nachzuweisen, dass er diesen Behörden seine Abwesenheit aus stichhaltigen Gründen nicht mitgeteilt hat, und nicht in der Absicht, sich den Behörden zu entziehen.»
Zu dem Überstellungshindernis unhaltbarer Zustände in dem Zielland heißt es: «Diese besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit wäre erreicht, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre.» (Seite 230)
EuGH (GK) billigt den Verlust der niederländischen Staatsangehörigkeit nach 10-jährigem Auslandsaufenthalt von Doppelstaatlern und den damit verbundenen Verlust der EU-Bürgerschaft grundsätzlich / Rs. Tjebbes u.a.
Allerdings müssten die nationalen Behörden und Gerichte in der Lage sein, die Staatsangehörigkeit unter Beachtung der Verhältnismäßigkeit rückwirkend wiederherzustellen. (Seite 240)
EuGH (GK) sieht in der algerischen „Kafala“ (Vormundschaft) kein zur Einreise in die EU berechtigendes Abstammungsverhältnis des Kindes zu dessen Vormündern (EU-Bürgern) / Rs. SM
Wohl aber gebietet bei tatsächlichem Familienleben das Grundrecht auf Achtung des Familienlebens unter Berücksichtigung des Kindeswohls grundsätzlich die Gewährung eines Rechts auf Einreise und Aufenthalt, um es dem Kind zu ermöglichen, mit seinem Vormund in dem Aufnahmemitgliedstaat zu leben. (Seite 245)
EuGH (GK) spricht der deutschen Staatsanwaltschaft die Gewähr der Unabhängigkeit „als ausstellende Justizbehörde“ eines Europäischen Haftbefehls ab / Rsn. OG und PI
Das auf Vorlage zweier irischer Gerichte ergangene Urteil sieht in der Weisungsbefugnis des Justizministers ein Unterordnungsverhältnis gegenüber der Exekutive. (Seite 251)
Schweizerisches Bundesgericht (BGer), Lausanne, moniert eine überlange Verfahrensdauer (2 J., 7 M.) beim Bundesverwaltungsgericht trotz gesetzlich vorgeschriebener kurzer Behandlungsfristen (Asylverfahren)
Vorliegend hatte ein strukturelles Problem in der Koordination der Rechtsprechung zu der beanstandeten Verfahrensdauer geführt. Das Bundesverwaltungsgericht wird vom BGer im Rahmen seiner administrativen Aufsicht «eingeladen, zu prüfen, welche Mechanismen für eine rasche Entscheidung bereitgestellt werden können». (Seite 258)
BGer stellt Beweisverwertungsverbot für Videoüberwachung am Arbeitsplatz zur Aufklärung einer Straftat wegen rechtlicher Mängel fest
Es fehlt an einer Anordnung der Staatsanwaltschaft und an einer Genehmigung durch das Zwangsmaßnahmengericht. Die Anordnung durch die Polizei war unzulässig. (Seite 260)
Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, besteht auf effektiver Durchsetzung des grundrechtssichernden Richtervorbehalts durch richterlichen Bereitschaftsdienst
Der Zweite Senat betont: «Zu den Anforderungen an einen dem Gebot der praktischen Wirksamkeit des Richtervorbehalts entsprechenden richterlichen Bereitschaftsdienst gehört die uneingeschränkte Erreichbarkeit eines Ermittlungsrichters bei Tage, auch außerhalb der üblichen Dienststunden. Die Tageszeit umfasst dabei ganzjährig die Zeit zwischen 6 Uhr und 21 Uhr. Während der Nachtzeit ist ein ermittlungsrichterlicher Bereitschaftsdienst jedenfalls bei einem Bedarf einzurichten, der über den Ausnahmefall hinausgeht.
Ob und inwieweit ein über den Ausnahmefall hinausgehender Bedarf an nächtlichen Durchsuchungsanordnungen die Einrichtung eines ermittlungsrichterlichen Bereitschaftsdienstes zur Nachtzeit erfordert, haben die Gerichtspräsidien nach pflichtgemäßem Ermessen in eigener Verantwortung zu entscheiden. Für die Art und Weise der Bedarfsermittlung steht ihnen ein Beurteilungs- und Prognosespielraum zu.» (Seite 263)
BVerfG erklärt den gesetzlichen Ausschluss der Stiefkindadoption allein in nichtehelichen Familien als Verstoß gegen das allgemeine Gleichbehandlungsgebot für verfassungswidrig
Der Erste Senat führt aus: «Es ist ein legitimes gesetzliches Ziel, eine Stiefkindadoption nur dann zuzulassen, wenn die Beziehung zwischen Elternteil und Stiefelternteil Bestand verspricht (…).
Der Gesetzgeber darf im Adoptionsrecht die Ehelichkeit der Elternbeziehung als positiven Stabilitätsindikator verwenden. Der Ausschluss der Adoption von Stiefkindern in allen nichtehelichen Familien ist hingegen nicht zu rechtfertigen. Der Schutz des Stiefkindes vor einer nachteiligen Adoption lässt sich auf andere Weise hinreichend wirksam sichern.
Auch jenseits der Regelung von Vorgängen der Massenverwaltung kommen gesetzliche Typisierungen in Betracht, etwa wenn eine Regelung über ungewisse Umstände oder Geschehnisse zu treffen ist, die sich selbst bei detaillierter Einzelfallbetrachtung nicht mit Sicherheit bestimmen lassen. Die damit verbundene Ungleichbehandlung ist jedoch nur unter bestimmten Voraussetzungen verfassungsrechtlich zu rechtfertigen.»
Das alte Recht ist bis zu einer gesetzlichen Neuregelung nicht anzuwenden. Die Frist dafür läuft bis März 2020. (Seite 271)
BVerfG bestätigt beweisrelevante Darlegungslast bei Urheberrechtsverletzung durch unerlaubtes Filesharing eines Musikalbums innerhalb einer Familie
Die Eltern als Inhaber des betreffenden Internetanschlusses wollten sich ihrer Haftung mit dem Hinweis entziehen, als Täter käme eines ihrer volljährigen Kinder infrage. Sie wollten allerdings auch nicht sagen, wer das war, um ihr Familienleben (Art. 6 Abs. 1 GG) zu schützen.
Die 2. Kammer des Ersten Senats lässt das nicht gelten: «Dadurch, dass Anschlussinhabern – hier den Beschwerdeführern – zur Abwendung ihrer täterschaftlichen Haftung im Rahmen der sekundären Darlegungslast im Zivilprozess Tatsachenvortrag abverlangt wird, der das Verhalten ihrer volljährigen Kinder betrifft und diese dem Risiko einer zivil- oder strafrechtlichen Inanspruchnahme aussetzt, wird die in den Schutzbereich von Art. 6 GG fallende innerfamiliäre Beziehung beeinträchtigt.
Die Beeinträchtigung ist jedoch von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden. Das Grundrecht aus Art. 6 Abs. 1 GG steht der Annahme einer zivilprozessualen Obliegenheit nicht entgegen, derzufolge die Beschwerdeführer zur Entkräftung der Vermutung für ihre Täterschaft als Anschlussinhaber ihre Kenntnisse über die Umstände einer eventuellen Verletzungshandlung mitzuteilen haben, mithin auch aufdecken müssen, welches ihrer Kinder die Verletzungshandlung begangen hat, sofern sie davon tatsächliche Kenntnis erlangt haben.» (Seite 285)
BVerfG ordnet vorläufigen Vollstreckungsschutz bei Suizidgefahr an
Die 53-jährige alleinstehende Beschwerdeführerin kann Forderungen von insgesamt knapp 25.000 Euro nicht begleichen. Sie wehrt sich gegen die Zwangsversteigerung ihres Wohnhauses und beruft sich mit dem Argument der Selbstmordgefahr auf Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG (Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit).
Die 3. Kammer des Zweiten Senats gibt der Verfassungsbeschwerde teilweise statt: «Das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verpflichtet die Vollstreckungsgerichte, bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 765a ZPO auch die Wertentscheidungen des Grundgesetzes und die dem Schuldner in der Zwangsvollstreckung gewährleisteten Grundrechte zu berücksichtigen. Eine unter Beachtung dieser Grundsätze vorgenommene Würdigung aller Umstände kann in besonders gelagerten Einzelfällen dazu führen, dass die Vollstreckung für einen längeren Zeitraum und – in absoluten Ausnahmefällen – auf unbestimmte Zeit einzustellen ist. Ergibt die erforderliche Abwägung, dass die der Zwangsvollstreckung entgegenstehenden, unmittelbar der Erhaltung von Leben und Gesundheit dienenden Interessen des Schuldners im konkreten Fall ersichtlich schwerer wiegen als die Belange, deren Wahrung die Vollstreckungsmaßnahme dienen soll, so kann der trotzdem erfolgende Eingriff das Prinzip der Verhältnismäßigkeit und das Grundrecht des Schuldners aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verletzen.» (Seite 287)
Bundesgerichtshof (BGH), Karlsruhe, weist die Rechtsbeschwerde einer deutschen Wunschmutter gegen den Eintrag der ukrainischen Leihmutter im deutschen Geburtenregister als rechtliche Mutter zurück
Die deutsche Wunschmutter wird zur Erlangung der rechtlichen Mutterschaft auf ein Adoptionsverfahren verwiesen.
(Seite 290)
Zu Fragen des Personenstandsrechts von Kindern, die von Leihmüttern im Ausland geboren werden, siehe auch das Gutachten des EGMR auf Antrag des französischen Kassationsgerichtshofs, EuGRZ 2019, 185 (in diesem Heft).
EGMR – Linos-Alexandre Sicilianos neuer Präsident des EGMR, Robert Spano neuer Zweiter Vize-Präsident, Ksenija Turkovic|' (Kroatin) Sektionspräsidentin. (Seite 292)
Parlamentarische Versammlung des Europarats wählt Lorraine Schembri Orland zur neuen maltesischen und Saadet Yüksel zur neuen türkischen Richterin am EGMR. (Seite 293)
BVerfG verpflichtet Facebook mit Einstweiliger Anordnung zur vorläufigen Entsperrung des Internetauftritts/Nutzerkontos einer Partei („Der III. Weg“) im Europa-Wahlkampf
Zur Reichweite der zivilrechtlichen Befugnisse des Betreibers eines sozialen Netzwerks, das innerhalb Deutschlands über erhebliche Marktmacht verfügt, heißt es in der Entscheidung der 2. Kammer des Ersten Senats: «Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts können die Grundrechte in solchen Streitigkeiten im Wege der mittelbaren Drittwirkung Wirksamkeit entfalten (…). Dabei können sich aus Art. 3 Abs. 1 GG jedenfalls in spezifischen Konstellationen auch gleichheitsrechtliche Anforderungen für das Verhältnis zwischen Privaten ergeben (…). Ob und gegebenenfalls welche rechtlichen Forderungen sich insoweit auch für Betreiber sozialer Netzwerke im Internet – etwa in Abhängigkeit vom Grad deren marktbeherrschender Stellung, der Ausrichtung der Plattform, des Grads der Angewiesenheit auf eben jene Plattform und den betroffenen Interessen der Plattformbetreiber und sonstiger Dritter – ergeben, ist jedoch weder in der Rechtsprechung der Zivilgerichte noch in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts abschließend geklärt. Die verfassungsrechtlichen Rechtsbeziehungen sind insoweit noch ungeklärt.
Auch ergibt sich aus den angegriffenen Entscheidungen nicht mit hinreichender Gewissheit, dass dem [als „Hassrede“] beanstandeten Beitrag bei Beachtung grundrechtlicher Maßstäbe ein strafbarer Inhalt entnommen werden muss und sich die Sperrung des Beitrages sowie des Nutzerkontos bereits hieraus rechtfertigen. Auch von daher wäre eine noch zu erhebende Verfassungsbeschwerde nicht offensichtlich unbegründet.
Zur Entscheidung stehen damit schwierige Rechtsfragen, die im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nicht entschieden werden können. Ihre Klärung ist – gegebenenfalls nach Durchführung eines Hauptsacheverfahrens vor den Fachgerichten – der Klärung in der Hauptsache vorbehalten. Es bedarf daher gemäß § 32 Abs. 1 BVerfGG einer Folgenabwägung.» Diese fällt im Hinblick auf die Interessen einer Partei im Wahlkampf zugunsten der Antragstellerin aus. (Seite 294)