EuGRZ 2018 |
30. August 2018
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45 Jg. Heft 13-17
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Informatorische Zusammenfassung
Markus Löffelmann, München, kommentiert die neuere Rechtsprechung des Afrikanischen Gerichtshofs für die Rechte der Menschen und der Völker / Entwicklungen Juni 2016 bis Juni 2018
Der Autor, Richter am LG München I, leitete von 2008 bis 2010 das deutsche Unterstützungsvorhaben für den Afrikanischen Gerichtshof in Arusha, Tansania. Er setzt hier seine Beiträge zum AfrGRMV in EuGRZ 2013, 577 ff. und EuGRZ 2016, 229 ff. fort. Einleitend ruft er folgendes in Erinnerung:
«Im Juni 2008 hatte der Gerichtshof seine Rules of Prodecure finalisiert und war damit „ready to receive cases“, im Dezember 2009 folgte die erste Entscheidung: ein Nichtannahmebeschluss. Es dauerte noch bis Juni 2013, bis der Gerichtshof eine erste – noch dazu stattgebende – Entscheidung in der Sache erließ. Seitdem hat die Befassung des Gerichtshofs stark zugenommen. (…)
Bis dato (Stand: 14.6.2018) sind beim Gerichtshof insgesamt 140 Beschwerden eingegangen, davon wurden 49 erledigt. (…) Am Ratifikationsstand des EProt (30 Staaten) hat sich im Berichtszeitraum nichts geändert; bei den Zusatzerklärungen zum Individualbeschwerdeverfahren gem. Art. 34 Abs. 6 EProt hat Ruanda seine Erklärung zurückgezogen und Tunesien am 6.6.2017 eine solche Erklärung hinterlegt, womit weiterhin 8 Staaten (Benin, Burkina Faso, Elfenbeinküste, Ghana, Malawi, Mali, Tansania, Tunesien) unmittelbar von Einzelpersonen und Nichtregierungsorganisationen verklagt werden können (vgl. Art. 5 Abs. 3 EProt). In Sachen Mandatserweiterung des Gerichtshofs hat sich – wohl aufgrund der Umstrukturierung der Afrikanischen Union durch die nach dem ruandischen Präsidenten und derzeitigen Vorsitzenden der Afrikanischen Union benannten Kagame-Reformen – keine Bewegung ergeben.
Von den seit Juni 2016 abgeschlossenen streitigen Verfahren (contentious matters) werden hier erneut neun in chronologischer Reihenfolge näher beleuchtet.»
Es handelt sich um Verfahren betreffend Tansania (vier), Elfenbeinküste, Kenia, Mali (zwei) und Ruanda.
Löffelmann zieht folgendes Fazit: «Die Ungeheuerlichkeit vieler der zu entscheidenden Sachverhalte für das europäische Rechtsempfinden – von der Verhängung 30-jähriger Mindeststrafen in evident unfairen Verfahren und langjährigen Haftstrafen für politisch motivierte Meinungsäußerungen über die Diskriminierung ganzer Bevölkerungsgruppen bis hin zum willkürlichen Entzug der Staatsbürgerschaft und dem Tolerieren der Verheiratung fünfzehnjähriger Mädchen – verdeutlicht den großen Nachholbedarf, der in vielen nationalen afrikanischen Rechtssystemen mit Blick auf den Schutz der Menschenrechte besteht. Die Entscheidungen veranschaulichen aber auch eindrucksvoll die rechtlichen und – mitunter durchaus banal wirkenden – faktischen Besonderheiten, die die Arbeit des Gerichtshofs determinieren: unergiebige nationale Rechtsbehelfe und überlange Verfahrensdauern, Verweigerungshaltungen der beteiligten Staaten bis hin zum Austritt aus dem menschenrechtlichen Schutzsystem, gesetzliche und tatsächliche Defizite im Verteidigerwesen, politische Instabilität, hohe Kriminalitätsraten, ungesicherte Grenzen, Armut, Analphabetismus, fehlende technische Ausstattung, Raumnot bei den Gerichten und sogar Mangel an Büromaterial. Wer diese strukturellen Eigenheiten kennt, versteht besser, warum die Justiz in den betroffenen Staaten auf echtes und vermeintlich kriminelles Verhalten robuster reagiert als wir es in Mitteleuropa gewohnt sind. Auch der Gerichtshof selbst (…) ist von solchen strukturellen Defiziten nicht unberührt. Sein vielleicht größtes Verdienst ist es daher, unter den gegebenen schwierigen Bedingungen diese regionalen Besonderheiten mit Klugheit und Augenmaß zu würdigen, ohne dabei den universalen Kern der Menschenrechte aus dem Blick zu verlieren. Durch fundierte und ausgewogene Entscheidungen das Vertrauen der Mitgliedstaaten zu bewahren und zu gewinnen, um dadurch die Basis für die Implementierung seiner Entscheidungen auf nationaler Ebene zu schaffen, stellt zugleich die größte Herausforderung dar.» (Seite 361)
Jörg Polakiewicz und Irene Suominen-Picht, Straßburg, behandeln aktuelle Herausforderungen für Europarat und EMRK
Es geht um die Erklärung von Kopenhagen (April 2018), das Spannungsverhältnis zwischen EMRK und nationalen Verfassungen sowie um die Beteiligung der EU an dem europäischen Menschenrechtskontrollmechanismus. Der Beitrag nimmt Stellung zu Fragen der Reform des EMRK-Mechanismus, insbesondere in Bezug auf die erreichten Effizienzsteigerungen des EGMR, aber auch zu dem weiterhin vorhandenen erheblichen Rückstau von 26.000 Kammer-Fällen. Neuartige Probleme für EGMR und Europarat durch Russland und die Türkei werden in einen Gesamtzusammenhang gestellt. Die Autoren befassen sich mit dem kürzlich verkündeten Urteil des BVerfG zum Streikverbot für Beamte (s.u.S. 437) und begrüßen, dass die Auslegung des BVerfG Raum für einen Dialog zwischen Karlsruhe und Straßburg läßt. Ein ungelöstes Problem ist nach wie vor der durch den EuGH verhinderte Beitritt der EU zur EMRK. Schließlich wird der Menschenrechtsschutz über den Europarat hinaus behandelt und die im Ergebnis oft blockierende Wirkung der EU an der intergouvernementalen Zusammenarbeit innerhalb des Europarates.
Polakiewicz/Suominen-Picht geben folgenden Ausblick: «Dass der Europarat sich in Zeiten knapper Mittel auf seine Kernkompetenzen konzentrieren muss, ist seit vielen Jahren unbestritten. Dies wurde bereits auf dem Gipfel der Staats- und Regierungschefs in Warschau (16.-17. Mai 2005) feierlich verkündet. Die Trias ‚Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaat’ ist aber so weit gefasst, dass sie es dem Europarat erlaubt hat, bislang im Wesentlichen alle seine Aktivitäten fortzuführen. Die aktuellen Herausforderungen stellen auch eine Chance dar, Reformen auf den Weg zu bringen, damit die Organisation auch in Zukunft ihre wichtige Rolle effektiv wahrnehmen kann. (…)
Die Architektur des europäischen Menschenrechtsschutzes hat viele Baumeister und gleicht in ihrer Komplexität dem Straßburger Münster. Europarat und EU können nur gemeinsam die Kohärenz dieses Systems gewährleisten, zum größtmöglichen Nutzen der Menschen und betroffenen Staaten. All dies erfordert aufrichtigen Dialog und die Bereitschaft, sich mit den Argumenten „anderer“ auseinanderzusetzen, aber auch die Anerkennung von (Mindest-)Standards, die die nationalen und supranationalen Rechtsordnungen transzendieren.
Der Beitritt der EU zur EMRK ist baldmöglichst herzustellen. Andernfalls besteht die reale Gefahr, dass die beiden Systeme zunehmend auseinanderdriften. Zum anderen sollten beide Institutionen daran arbeiten, Fragen im Zusammenhang mit der Beteiligung der EU an anderen Europaratsübereinkommen zu klären, um praktische Lösungen zu finden, die sowohl den Anforderungen des EU-Verfassungsrechts als auch der Integrität und Wirksamkeit des jeweiligen Übereinkommens Rechnung tragen.
Um Rechtssicherheit zu gewährleisten, ist es von größter Bedeutung, dass die europäischen Institutionen bei der Bewertung der Situationen in den Mitgliedstaaten dieselbe Sprache sprechen und die gleichen Standards verwenden. Die Tatsache, dass die Mechanismen des Europarates nicht auf die (noch) 28 EU-Mitgliedstaaten beschränkt sind, sondern praktisch den gesamten Kontinent abdecken, sollte nicht als Schwäche, sondern als Stärke betrachtet werden, da nur so ein kohärenter Ansatz für die Rechtsstaatlichkeit in ganz Europa garantiert werden kann.» (Seite 383)
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Straßburg, sieht in der richterlichen Anordnung der Anonymisierung (Verpixelung) der Bildberichterstattung (Film und Foto) über den Angeklagten (S.) in einem Strafverfahren wegen eines Tötungsdelikts keine Verletzung der Pressefreiheit (Art. 10 EMRK) / Axel Springer und RTL TV gegen Deutschland
«Der Gerichtshof erkennt an, dass der Vorsitzende Richter eine sorgfältige Abwägung vorgenommen und die verschiedenen Faktoren, die nach der Konvention maßgeblich sind, berücksichtigt hat. Angesichts (…) der Tatsache, dass die Rechtssache die Veröffentlichung von in einer strafrechtlichen Gerichtsverhandlung aufgenommenen Bildern betraf, stellt der Gerichtshof fest, dass der Vorsitzende Richter sich mit den widerstreitenden Interessen gründlich auseinander gesetzt und bei der Anwendung der innerstaatlichen Rechtsvorschriften eine sorgfältige Abwägung der relevanten Aspekte des Falles vorgenommen hat. In Anbetracht des den nationalen Behörden zustehenden Beurteilungsspielraums (margin of appreciation) im Zusammenhang mit Einschränkungen der Berichterstattung über Strafverfahren ist der Gerichtshof davon überzeugt, dass der Vorsitzende Richter die betroffenen Interessen im Einklang mit den Maßstäben der Konvention abgewogen hat. Die Anordnung war im Hinblick auf das verfolgte legitime Ziel verhältnismäßig, da der Vorsitzende Richter unter mehreren möglichen Maßnahmen die am wenigsten restriktive wählte. Daher gelangt der Gerichtshof zu dem Schluss, dass der Eingriff in das Recht der Bf. auf freie Meinungsäußerung „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ war.» (Seite 390)
Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH), Luxemburg, präzisiert die Kriterien für begründete Zweifel an der Rechtsstaatlichkeit – Unabhängigkeit der Justiz (hier: in Polen) als Hindernis für die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls / Vorlage des irischen High Court / Rs. LM
Die Große Kammer (GK) führt aus: «Stellt die vollstreckende Justizbehörde am Maßstab der vorstehend in den Rn. 62 bis 67 dargelegten Anforderungen fest, dass im Ausstellungsmitgliedstaat eine echte Gefahr besteht, dass das Grundrecht auf ein faires Verfahren in seinem Wesensgehalt verletzt wird, weil die Justiz dieses Mitgliedstaats systemische oder allgemeine Mängel aufweist, so dass die Unabhängigkeit der Gerichte des Ausstellungsmitgliedstaats gefährdet sein kann, muss sie in einem zweiten Schritt konkret und genau prüfen, ob es unter den gegebenen Umständen ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass die gesuchte Person nach ihrer Übergabe an den Ausstellungsmitgliedstaat einer solchen Gefahr ausgesetzt sein wird. (…)
Sollte sich die vollstreckende Justizbehörde durch die Informationen, die ihr die ausstellende Justizbehörde mitgeteilt hat, nachdem diese erforderlichenfalls auf die Unterstützung der oder einer der zentralen Behörden des Ausstellungsmitgliedstaats im Sinne von Art. 7 des Rahmenbeschlusses 2002/584 zurückgegriffen hat (…), nicht veranlasst sehen, das Bestehen einer echten Gefahr auszuschließen, dass die betroffene Person in diesem Mitgliedstaat eine Verletzung ihres Grundrechts auf ein unabhängiges Gericht erleidet und damit der Wesensgehalt ihres Grundrechts auf ein faires Verfahren angetastet wird, muss sie davon absehen, dem Europäischen Haftbefehl gegen diese Person Folge zu leisten.» (Seite 396)
EuGH (GK) stuft mit neuen Methoden der Mutagenese gewonnene Organismen (hier: herbizidtolerante Rapssorten) als genetisch veränderte Organismen (GVO, RL 2001/18/EG) ein und weist auf die Risiken für die menschliche Gesundheit und die Umwelt hin / Rs. Confédération paysanne u.a.
«Wie das vorlegende Gericht im Wesentlichen hervorhebt, könnten sich die mit dem Einsatz dieser neuen Verfahren/Methoden der Mutagenese verbundenen Risiken aber als vergleichbar mit den bei der Erzeugung und Verbreitung von GVO durch Transgenese auftretenden Risiken erweisen. Aus den Angaben, über die der Gerichtshof verfügt, ergibt sich somit zum einen, dass mit der unmittelbaren Veränderung des genetischen Materials eines Organismus durch Mutagenese die gleichen Wirkungen erzielt werden können wie mit der Einführung eines fremden Gens in diesen Organismus, und zum anderen, dass die Entwicklung dieser neuen Verfahren/Methoden die Erzeugung genetisch veränderter Sorten in einem ungleich größeren Tempo und Ausmaß als bei der Anwendung herkömmlicher Methoden der Zufallsmutagenese ermöglicht.
Zudem können sich, wie im vierten Erwägungsgrund der Richtlinie 2001/18 ausgeführt wird, lebende Organismen, die in großen oder kleinen Mengen zu experimentellen Zwecken oder in Form von kommerziellen Produkten in die Umwelt freigesetzt werden, in dieser fortpflanzen und sich über die Landesgrenzen hinaus ausbreiten, wodurch andere Mitgliedstaaten in Mitleidenschaft gezogen werden können. Die Auswirkungen solcher Freisetzungen können unumkehrbar sein. Desgleichen heißt es im fünften Erwägungsgrund der Richtlinie, dass der Schutz der menschlichen Gesundheit eine gebührende Kontrolle der Risiken infolge einer solchen Freisetzung erfordert.» (Seite 403)
Schweizerisches Bundesgericht (BGer), Lausanne, bekräftigt die vom Gesetzgeber unverändert gewollte vorbehaltlose und uneingeschränkte Öffentlichkeit des Steuerregisters und damit auch den Zugang zu den Steuerfaktoren wohlhabender Bewohner im Kanton Bern
Im vorliegenden Verfahren scheitern betroffene wohlhabende Bewohner der Gemeinde Saanen/Gstaad mit einer Beschwerde gegen die öffentliche Zugänglichkeit ihrer Steuerfaktoren vor dem Bundesgericht. Auch dringen sie mit der Berufung auf eine Datensperre nach kantonalem Datenschutzgesetz (KDSG/BE) nicht durch. (Seite 410)
Österreichischer Verfassungsgerichtshof (VfGH), Wien, erklärt Wartefrist (mindestens fünf Jahre) und Deckelung (max. 1.500,– Euro), die mit dem Niederösterreichischen Mindestsicherungsgesetz 2016 eingeführt wurden, für verfassungswidrig, nämlich für gleichheitswidrig und außerdem als Verstoß gegen das Rassendiskriminierungsübereinkommen
«Es steht dem Gesetzgeber grundsätzlich frei, auf eine die öffentlichen Haushalte übermäßig belastende Nachfrage nach bestimmten steuerfinanzierten Transferleistungen zu reagieren und den Zugang zu diesen Leistungen zu erschweren. (…) Wie der Verfassungsgerichtshof wiederholt ausgesprochen hat, verwehrt der Gleichheitsgrundsatz dem Gesetzgeber, andere als sachlich begründbare Differenzierungen zu schaffen.»
Diesen Prinzipien wird die relevante niederösterreichische Gesetzgebung in mehreren Punkten nicht gerecht. (Seite 415)
Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, hält im Hinblick auf die Fixierung (Fesselung) von Patienten von nicht nur kurzer Dauer (länger als eine halbe Stunde) im Rahmen öffentlich-rechtlicher Unterbringung einen effektiven Richtervorbehalt für geboten
Es geht um die Fixierung (Fesselung) von auf dem Rücken liegenden Betroffenen mittels spezieller Gurte an das Bett, um die Bewegungsfähigkeit weitgehend oder vollständig aufzuheben.
Die Leitsätze zu dem Urteil des Zweiten Senats lauten: «Die Fixierung eines Patienten stellt einen Eingriff in dessen Grundrecht auf Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Art. 104 GG) dar.
Sowohl bei einer 5-Punkt- als auch bei einer 7-Punkt-Fixierung von nicht nur kurzfristiger Dauer handelt es sich um eine Freiheitsentziehung im Sinne des Art. 104 Abs. 2 GG, die von einer richterlichen Unterbringungsanordnung nicht gedeckt ist. Von einer kurzfristigen Maßnahme ist in der Regel auszugehen, wenn sie absehbar die Dauer von ungefähr einer halben Stunde unterschreitet.
Aus Art. 104 Abs. 2 Satz 4 GG folgt ein Regelungsauftrag, der den Gesetzgeber verpflichtet, den Richtervorbehalt verfahrensrechtlich auszugestalten, um den Besonderheiten der unterschiedlichen Anwendungszusammenhänge gerecht zu werden.
Um den Schutz des von einer freiheitsentziehenden Fixierung Betroffenen sicherzustellen, bedarf es eines täglichen richterlichen Bereitschaftsdienstes, der den Zeitraum von 6:00 Uhr bis 21:00 Uhr abdeckt.» (Seite 422)
BVerfG bekräftigt Streikverbot für Beamte als eigenständigen hergebrachten Grundsatz des Berufsbeamtentums i.S.d. Art. 33 Abs. 5 GG und stellt unter Würdigung der Rechtsprechung des EGMR keine Kollisionslage zwischen GG und Art. 11 EMRK fest
Die Leitsätze zu dem Urteil des Zweiten Senats lauten:
«1. Der persönliche Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 GG umfasst auch Beamte (…). Das Grundrecht der Koalitionsfreiheit ist zwar vorbehaltlos gewährleistet. Es kann aber durch kollidierende Grundrechte Dritter und andere mit Verfassungsrang ausgestattete Rechte begrenzt werden.
2.a) Das Streikverbot für Beamte stellt einen eigenständigen hergebrachten Grundsatz des Berufsbeamtentums im Sinne des Art. 33 Abs. 5 GG dar. Es erfüllt die für eine Qualifikation als hergebrachter Grundsatz notwendigen Voraussetzungen der Traditionalität und Substanzialität.
b) Das Streikverbot für Beamte ist als hergebrachter Grundsatz des Berufsbeamtentums vom Gesetzgeber zu beachten. Es weist eine enge Verbindung auf mit dem beamtenrechtlichen Alimentationsprinzip, der Treuepflicht, dem Lebenszeitprinzip sowie dem Grundsatz der Regelung des beamtenrechtlichen Rechtsverhältnisses einschließlich der Besoldung durch den Gesetzgeber.
3.a) Die Bestimmungen des Grundgesetzes sind völkerrechtsfreundlich auszulegen. Der Text der Europäischen Menschenrechtskonvention und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte dienen auf der Ebene des Verfassungsrechts als Auslegungshilfen für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite von Grundrechten und rechtsstaatlichen Grundsätzen des Grundgesetzes (…).
b) Während sich die Vertragsparteien durch Art. 46 EMRK verpflichtet haben, in allen Rechtssachen, in denen sie Partei sind, das endgültige Urteil des Gerichtshofs zu befolgen (…), sind bei der Orientierung an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte jenseits des Anwendungsbereiches des Art. 46 EMRK die konkreten Umstände des Falles im Sinne einer Kontextualisierung in besonderem Maße in den Blick zu nehmen. Die Vertragsstaaten haben zudem Aussagen zu Grundwertungen der Konvention zu identifizieren und sich hiermit auseinanderzusetzen. Die Leit- und Orientierungswirkung ist dann besonders intensiv, wenn Parallelfälle im Geltungsbereich derselben Rechtsordnung in Rede stehen, mithin (andere) Verfahren in dem von der Ausgangsentscheidung des Gerichtshofs betroffenen Vertragsstaat betroffen sind.
c) Die Grenzen einer völkerrechtsfreundlichen Auslegung ergeben sich aus dem Grundgesetz. Die Möglichkeiten einer konventionsfreundlichen Auslegung enden dort, wo diese nach den anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung und Verfassungsinterpretation nicht mehr vertretbar erscheint (…). Im Übrigen ist auch im Rahmen der konventionsfreundlichen Auslegung des Grundgesetzes die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte möglichst schonend in das vorhandene, dogmatisch ausdifferenzierte nationale Rechtssystem einzupassen.
4. Das Streikverbot für Beamtinnen und Beamte in Deutschland steht mit dem Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes im Einklang und ist insbesondere mit den Gewährleistungen der Europäischen Menschenrechtskonvention vereinbar. Auch unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte lässt sich eine Kollisionslage zwischen dem deutschen Recht und Art. 11 EMRK nicht feststellen.» (Seite 437)
BVerfG bestätigt die gesetzliche Beschränkung der sachgrundlosen Befristung von Arbeitsverhältnissen und korrigiert die das Verbot der Kettenbefristung lockernde Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts
Dem auf Vorlage des Arbeitsgerichts Braunschweig ergangenen Urteil des Ersten Senats sind folgende Leitsätze vorangestellt:
«Die gesetzliche Beschränkung befristeter Beschäftigungsformen und die Sicherung der unbefristeten Dauerbeschäftigung als Regelbeschäftigungsform trägt der sich aus Art. 12 Abs. 1 GG ergebenden Pflicht des Staates zum Schutz der strukturell unterlegenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und dem Sozialstaatsprinzip der Art. 20 Abs. 1, Art. 28 Abs. 1 GG Rechnung.
Die mit einer Beschränkung der sachgrundlosen Befristung auf die erstmalige Beschäftigung bei dem jeweiligen Arbeitgeber einhergehende Beeinträchtigung der individuellen Berufsfreiheit ist insoweit gerechtfertigt, als es ihrer für den Schutz vor der Gefahr der Kettenbefristung in Ausnutzung einer strukturellen Unterlegenheit und zur Sicherung des unbefristeten Arbeitsverhältnisses als Regelfall bedarf.
Richterliche Rechtsfortbildung darf den klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers nicht übergehen und durch ein eigenes Regelungsmodell ersetzen.» (Seite 464)
BVerfG billigt die einmalige Ernennung von Lebenszeitbeamten zu Verwaltungsrichtern auf Zeit
«§ 17 Nr. 3, § 18 VwGO, die die Ernennung von Beamten auf Lebenszeit zu Richtern auf Zeit erlauben, sind mit dem Grundgesetz vereinbar. § 18 VwGO ist allerdings verfassungskonform dahin auszulegen, dass die wiederholte Bestellung eines Beamten zum Richter auf Zeit nach Ablauf seiner Amtszeit ausgeschlossen ist.»
Ziel der gesetzlichen Neuregelung im Jahr 2015 war die zügige Bewältigung der enorm gestiegenen Anzahl von asylrechtlichen Streitigkeiten. (Seite 474)
Richterin Hermanns kommt in ihrer Abweichenden Meinung zu dem Ergebnis, dass die Vorschrift nicht mit Art. 97 GG (Unabhängigkeit der Richter) und auch nicht mit Art. 92 GG (Anforderungen an die rechtsprechende Gewalt) vereinbar ist. (Seite 491)
BVerfG beanstandet die Abweisung einer Klage auf Zuerkennung subsidiären Schutzes als offensichtlich unbegründet wegen nur „rudimentärer Erwägungen“ des Gerichts
In dem Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats geht es um die Sicherheitslage in Teilen Afghanistans. (Seite 495)
BVerfG kritisiert zum wiederholten Male überlange Untersuchungshaft (hier: bislang 16 Monate) wegen Verfahrensverzögerungen infolge dauerhafter Überlastung bzw. unzureichender Ausstattung der Justiz. (Seite 500)
Schleswig-Holsteinisches Oberlandesgericht (OLG Schleswig) erklärt die Auslieferung des ehemaligen katalanischen Regionalpräsidenten Carles Puigdemont im Rahmen eines Europäischen Haftbefehls für zulässig
Allerdings nicht wegen „Rebellion“, sondern nur wegen Veruntreuung öffentlicher Gelder („Korruption“). (Seite 504)
EGMR-Richterwahlen in Bezug auf Spanien, Montenegro und San Marino. (Seite 510)
EGMR – Zustellung der Beschwerde einer in Untersuchungshaft genommenen türkischen Parlamentsabgeordneten an die Regierung zur Stellungnahme / Burcu Çelik gegen Türkei
In dem Zustellungsbeschluss vom 28. Juni 2018 werden die Verfahrensbeteiligten (Regierung und Beschwerdeführerin) aufgefordert, auch zu etwaigen machtmissbräuchlichen Einschränkungen von Konventionsrechten Stellung zu nehmen. (Seite 512)