EuGRZ 2018 |
29. Juni 2018
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45 Jg. Heft 9-12
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Informatorische Zusammenfassung
Michael Fuchs, Berlin, würdigt die kürzlich von der Venedig-Kommission des Europarates vorgelegte „Rule of Law Checklist“ unter der Überschrift: „Die Vermessung der Rechtsstaatlichkeit“
Der Venedig-Kommission war klar, dass es keine allgemein anerkannte Definition des Begriffs Rechtsstaat gibt. «Es kommt hinzu, dass es sich bei der Rechtsstaatlichkeit nur um einen Bestandteil der drei Gründungsprinzipien des Europarates handelt, neben Demokratie und Menschenrechten. Auch die zwischen diesen Elementen bestehenden Querverbindungen verbieten eine rein formale Betrachtungsweise. Die Kommission ging deshalb davon aus, dass der Begriff des Rechtsstaats ein System vorhersehbaren und sicheren Rechts erfordert, in welchem jedermann das Recht hat, von allen Amtsträgern mit Würde und unter Beachtung der Grundsätze der Gleichheit und Objektivität in Übereinstimmung mit den Gesetzen behandelt zu werden und in dem jedermann das Recht hat, Entscheidungen vor unabhängigen Gerichten in fairen Verfahren überprüfen zu lassen. Ausgangspunkt der Überlegungen der Kommission war damit zutreffender Weise der Einzelne als Inhaber von Menschenrechten, denen sich das gesamte Rechtssystem eines Staates anzupassen hat und nicht umgekehrt. Enge und formale Rechtsstaatsdefinitionen verbieten sich nach Ansicht der Kommission auch schon deswegen, weil das Rechtsstaatskonzept der Tatsache Rechnung tragen muss, dass diese Menschenrechte nicht nur von Staaten, sondern auch von hybriden Akteuren und sogar Privaten beeinträchtigt werden können, die staatliche Aufgaben wahrnehmen, sowie vor allem auch durch internationale und supranationale Organisationen. Die Kommission hat sich daher konzentriert auf Kernelemente des Rechtsstaats, über die Konsens besteht und die nicht nur formal, sondern auch substanziell sind (materieller Rechtsstaatsbegriff).»
Die fünf als Benchmarks bezeichneten Kernelemente sind:
A. Legality – Gesetzmäßigkeit,
B. Legal certainty – Rechtssicherheit,
C. Prevention of abuse (misuse) of powers – Willkürverbot,
D. Equality before the law and non-discrimination – Gleichheit vor dem Gesetz und Nicht-Diskriminierung,
E. Access to justice – Justizgewährung.
Das abschließende Kapitel F. ist der Gefährdung des Rechtsstaats durch Korruption und Interessenkonflikte sowie dem Datenschutz gewidmet.
Der Autor schlüsselt die den jeweiligen Benchmarks (A. bis E.) zugeordneten Einzelelemente detailliert auf. In einer Zusammenschau bewertet er die Arbeit der Venedig-Kommission folgendermaßen: «Die Rechtsstaatskriterien sind der erste Versuch überhaupt, den Rechtsstaat begrifflich operationalisierbar zu machen. Obwohl auch diese Kriterien keine Definition des Rechtsstaats darstellen, wie ihre Urheber unumwunden einräumen, kommen diese Kriterien in ihrer Summe doch einer Definition des Rechtsstaates sehr nahe. Die Kriterien widerspiegeln den Konsens von 61 Experten der Mitgliedstaaten der Venedig-Kommission, also von nahezu einem Drittel der Staatengemeinschaft, was im Grunde schon ein Wert an sich ist. Dabei gilt es stets zu berücksichtigen, dass es zur Entwicklung dieser Kriterien nicht nur erforderlich war, einen Konsens unter diesen Mitgliedstaaten herzustellen, sondern es auch galt, verschiedene Rechtskreise zu harmonisieren. Das machen alleine schon die Begrifflichkeiten deutlich. Die Rechtsstaatskriterien stellen nämlich gewissermaßen das gemeinsame Substrat der angelsächsischen „Rule of Law“, des französischen «État de droit» und des deutschen „Rechtsstaats“ dar. Insofern sind sie auch ein wesentlicher Beitrag zur Herausbildung gemeinsamer europäischer Verfassungsstandards. (...)
Rechtsstaatlichkeit hat sich zu einem handfesten politischen wie wirtschaftlichen Standortfaktor ersten Ranges entwickelt, dessen Bedeutung durch die Kombination mit anderen Prinzipien noch potenziert wird. Rechtsstaatlichkeit ist mit anderen Worten hochpolitisch.» (Seite 237)
Christoph Gusy, Bielefeld, spannt den Bogen über alternative Denkweisen und eine Reihe aufgefächerter Argumentationsketten und Fragen: „Datenschutz als Privatheitsschutz oder Datenschutz statt Privatheitsschutz?“
«Das Inkrafttreten der EU-Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) und der Richtlinie zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten zum Zweck der Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung und Verfolgung von Straftaten (JI-Richtlinie) gibt Anlass zur Befragung ihrer grundrechtlichen Voraussetzungen. Art. 8 EMRK schützt neben einigen besonderen Dimensionen privaten Lebens auch das „Privatleben“. Der EGMR entnimmt dieser Garantie auch das Recht auf Datenschutz. Art. 7 der EU-Grundrechte-Charta (GRC) enthält nahezu wortgleich dieselbe Garantie. Daneben statuiert Art. 8 GRC das Recht auf Schutz personenbezogener Daten.»
Es geht also um Fragen nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen den genannten Schutzgütern und um das Verhältnis jener Garantien zueinander:
«Art. 8 EMRK und Art. 7 GRC schützen unterschiedliche Dimensionen der Privatheit. Was dort als „Familie“, „Wohnung“ und „Korrespondenz“ bzw. „Kommunikation“ unter besonderem Schutz steht, ist etwa im Grundgesetz auf mehrere Grundrechte verteilt, welche gemeinsam mit dem lückenfüllenden Art. 2 Abs. 1 GG den Privatheitsschutz des Grundgesetzes statuieren. Diese lückenschließende Rolle kommt im europäischen Menschenrechtsschutz dem „Privatleben“ zu: Es soll diejenigen Aspekte des Privaten garantieren, welche nicht bereits den besonderen, ausdrücklich genannten Schutzgütern unterfallen. Dass dessen subsidiärer Schutz nicht bloß denjenigen Bestand an Privatheit betrifft, welcher im Entstehungszeitraum der EMRK anerkannt war, entspricht dem Erkenntnisstand von Rechtsprechung und Rechtswissenschaft. Das Schutzgut nimmt Teil am Charakter der Konvention als „living instrument“.»
Der Beitrag untersucht Grund- und Menschenrechtsschutz des Privatlebens, Privatheit im Recht, den Datenschutz in der Entwicklung von der analogen zur digitalen Privatheit: «Im Internet verlagert sich so die Bestimmung über den Informationszugang weg von den Kommunikationsteilnehmern zu Dienstleistern, Technikern und Hackern. Schutz der Vertraulichkeit im Netz ist allenfalls Schutz eines Nutzers vor den anderen. An den Maßstäben aus der analogen Welt ist demnach festzuhalten: Netzkommunikation basiert nicht auf kommunikativer Selbstbestimmung, sondern eröffnet Einfallstore informationeller Fremdbestimmung. Was im Netz geschieht, ist an den tradierten Maßstäben also nicht privat. Das ist Befund und Herausforderung zugleich. (...)
Wer einer Nutzung durch Andere zustimmt, hat seine Selbstbestimmung nicht verloren, sondern ausgeübt – ganz wie nach dem tradierten Privatheitsmodell auch. Doch wann wandelt sich die Selbstbestimmung für die Nutzer zur Fremdbestimmung? Für sie ist die Wahl der Anbieter im Netz vielleicht noch rechtlich, regelmäßig aber faktisch nicht mehr frei. Dies betrifft schon die Netznutzung selbst: Zwar sind Rechtspflichten zur Netznutzung noch seltene Ausnahmen. Doch finden sich zahlreiche Leistungen oder Angebote öffentlicher und privater Stellen nur noch oder jedenfalls in aggregierter Form im Netz. Und noch mehr private Angebote, Vertragsschlüsse oder Informationsmöglichkeiten sind netzabhängig. Die freie Wahl des Mediums besteht immer seltener. Und im Internet ist die Angebotsseite hochgradig oligopolisiert. Dies betrifft bereits den Netzzugang, der von wenigen Unternehmen vermittelt wird – zu ihren Bedingungen.»
Abschließend hält Gusy fest: «Die Realisierung grundrechtlicher Freiheit ist niemals allein Staatsaufgabe, sondern erfordert stets auch ein Handeln der Grundrechtsträger selbst. Wie bei den anderen Handlungsfreiheiten gilt dies auch für diejenige des privaten Handelns. Doch kann dies nicht allein der individuellen Aushandlung der Grundrechtsträger überlassen bleiben. Vielmehr bedarf es wegen der Asymmetrie der Netznutzung rechtlicher Rahmenbedingungen, welche Aushandlung und Ergebnis nicht nur als Resultat der wirtschaftlichen Grundrechte der Dienstleister, sondern auch der Entscheidungsfreiheiten der Nutzer erkennen lassen. Vertragsfreiheit als Freiheit aller Teilnehmenden setzt eine angemessene Regulierung voraus. Umgekehrt kann eine Regulierung nicht schützen vor selbstgefährdendem individuellem Verhalten.» (Seite 244)
Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH), Luxemburg, wertet den Verdacht der Beteiligung an Kriegsverbrechen nicht als automatisch wirksamen Grund, einem EU-Bürger oder einem drittstaatsangehörigen Familienmitglied eines EU-Bürgers den Aufenthalt zu verbieten / Verb. Rsn. K. und H.F.
Die Große Kammer (GK) hatte den von einem niederländischen Gericht vorgelegten Fall eines Kroaten zu beurteilen, der im Verdacht steht, als Angehöriger einer bosnischen Spezialeinheit 1992-1994 an Kriegsverbrechen beteiligt gewesen zu sein. Der zweite Fall wurde von einem belgischen Gericht vorgelegt und betrifft einen Afghanen, Vater einer niederländischen Tochter, der nach Unterlagen niederländischer Asylbehörden an Kriegsverbrechen beteiligt gewesen sein soll.
Der EuGH kommt zu dem Ergebnis, der Verdacht der Beteiligung an Kriegsverbrechen erlaube den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats nicht automatisch die Annahme, dass die bloße Anwesenheit des Betreffenden in seinem Hoheitsgebiet «unabhängig vom Vorliegen von Wiederholungsgefahr eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt und den Erlass von Maßnahmen aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit rechtfertigen kann».
Insbesondere müsse das persönliche Verhalten des Betroffenen geprüft werden, Art und Schwere der zur Last gelegten Handlungen, eventuelle strafrechtliche Verurteilungen sowie die seit den mutmaßlichen Taten vergangene Zeit.
Weiter: «Im Einklang mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit müssen die zuständigen Behörden des Aufnahmemitgliedstaats außerdem den Schutz des Grundinteresses der fraglichen Gesellschaft gegen die Interessen des Betroffenen an der Ausübung seines Rechts auf Freizügigkeit und seines Aufenthaltsrechts als Unionsbürger sowie an seinem Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens abwägen.» (Seite 255)
EuGH (GK) billigt grundsätzlich die Nichtbearbeitung von Aufenthaltsanträgen drittstaatsangehöriger Familienangehöriger von belgischen EU-Bürgern wegen zuvor verhängter Einreiseverbote, betont allerdings eine Reihe von Prüfungskriterien zugunsten der Antragsteller / Rs. K.A. u.a.
Die Kläger der sieben Ausgangsverfahren kommen aus Armenien, Russland, Uganda, Kenia, Nigeria, Albanien und Guinea. Sie berufen sich im Sinne der unionsrechtlichen Bestimmungen zur Familienzusammenführung darauf, sie seien unterhaltsberechtigte Abkömmlinge von belgischen Staatsangehörigen (K.A. und M.Z.), seien Elternteile minderjähriger belgischer Kinder (M.J., N.N.N., O.I.O. und R.I.) bzw. (im Fall B.A.) er sei als ein gesetzlich in einer dauerhaften stabilen Beziehung mit einem belgischen Staatsangehörigen zusammenwohnender Partner anzusehen.
Der EuGH sieht die Behörden jedoch durch Art. 20 AEUV (Unionsbürgerschaft) in der Pflicht, Ausnahmen von der oben beschriebenen Praxis zu prüfen, und zwar wegen des Abhängigkeitsverhältnisses zwischen dem Unionsbürger und dem Drittstaatsangehörigen, bei Minderjährigen wegen des Kindeswohls. Unerheblich ist der Zeitpunkt des Entstehens des Abhängigkeitsverhältnisses. (Seite 263)
EuGH präzisiert Alterskriterium (Minderjähriger) für Recht auf Familienzusammenführung / Rs. A und S
„Minderjähriger“ i.S.d. RL 2003/86/EG bleibt für das Recht auf Familienzusammenführung ein im Alter unter 18 Jahren eingereister Drittstaatsangehöriger auch nach Erreichen der Volljährigkeit während eines erfolgreichen Asylverfahrens. (Seite 276)
EuGH (GK) betont verstärkten Schutz vor Ausweisung für straffällige EU-Bürger bei bestehendem Recht auf Daueraufenthalt / Verb. Rsn. B und Vomero
Betroffen sind ein Grieche in Deutschland und ein Italiener im Vereinigten Königreich. (Seite 281)
EuGH (GK) zu Kriterien für subsidiären Schutz eines Folteropfers (hier: aus Sri Lanka im Vereinigten Königreich) / Rs. MP
Zur Auslegung der RL 2004/83/EG entscheidet die Große Kammer im Licht von Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, «dass ein Drittstaatsangehöriger, der in der Vergangenheit von den Behörden seines Herkunftslands gefoltert wurde und bei der Rückkehr in dieses Land nicht mehr der Gefahr einer Folter ausgesetzt ist, aber dessen physischer und psychischer Gesundheitszustand sich in einem solchen Fall erheblich verschlechtern könnte, wobei die Gefahr besteht, dass er aufgrund eines auf den ihm zugefügten Folterhandlungen beruhenden Traumas Suizid begeht, für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus in Betracht kommt, sofern eine tatsächliche Gefahr besteht, dass ihm in diesem Land eine angemessene Behandlung der physischen oder psychischen Folgeschäden dieser Folterhandlungen absichtlich vorenthalten wird; dies zu prüfen ist Sache des nationalen Gerichts». (Seite 290)
EuGH (GK) zu den Bedingungen der Zulässigkeit der Auslieferung eines EU-Bürgers (Italiener) an einen Drittstaat (USA), wobei der ersuchte EU-Staat (Deutschland) eigene Staatsangehörige aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht ausliefert / Rs. Pisciotti
«Art. 18 und 21 AEUV [sind] dahin auszulegen, dass sie dem ersuchten Mitgliedstaat nicht verwehren, auf der Grundlage einer verfassungsrechtlichen Norm eigene Staatsangehörige und Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten unterschiedlich zu behandeln und diese Auslieferung zu gestatten, obwohl er die Auslieferung eigener Staatsangehöriger nicht erlaubt, sofern er vorher den zuständigen Behörden des Mitgliedstaats, dessen Staatsangehöriger dieser Betroffene ist, die Möglichkeit eingeräumt hat, ihn im Rahmen eines Europäischen Haftbefehls für sich zu beanspruchen, und dieser letztgenannte Mitgliedstaat keine entsprechende Maßnahme ergriffen hat.» (Seite 294)
EuGH (GK) zu den Pflichten und Rechten einer Kirche als Arbeitgeber im Hinblick auf das Diskriminierungsverbot und der Religion als „wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte“ berufliche Anforderung / Rs. Egenberger
«Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78 ist dahin auszulegen, dass es sich bei der dort genannten wesentlichen, rechtmäßigen und gerechtfertigten beruflichen Anforderung um eine Anforderung handelt, die notwendig und angesichts des Ethos der betreffenden Kirche oder Organisation aufgrund der Art der in Rede stehenden beruflichen Tätigkeit oder der Umstände ihrer Ausübung objektiv geboten ist und keine sachfremden Erwägungen ohne Bezug zu diesem Ethos oder dem Recht dieser Kirche oder Organisation auf Autonomie umfassen darf. Die Anforderung muss mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Einklang stehen.» (Seite 299)
EuGH wendet RL über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen auch auf einen Vertrag an, in dem eine freie Bildungseinrichtung (Hochschule in Belgien, Rs. KdG gegen Kuijpers) für die Rückzahlung gestundeter Studiengebühren mit einer Studentin einen Vertrag geschlossen hat, der Regelungen für Verzugszinsen, Kosten und Entschädigung für Säumigkeit enthält. (Seite 306)
Schweizerisches Bundesgericht (BGer), Lausanne, bestätigt Aktivlegitimation zur Anfechtung einer Kindesanerkennung bei geschiedener Scheinehe (eines Schweizers mit einer Kosovarin) durch Heimat- und Wohnsitzgemeinde des Schweizer Bürgers
«Nach dem Wortlaut von Art. 260a Abs. 1 ZGB und dem gesetzgeberischen Konzept haben die Heimatgemeinde und die Wohnsitzgemeinde des Anerkennenden nebeneinander ein selbstständiges Klagerecht, das es ihnen ermöglichen soll, gegen missbräuchliche Kindesanerkennungen einzuschreiten. Der Missbrauch kann in der Erschleichung des Anwesenheits- oder Bürgerrechts und der damit verbundenen Vorteile (z. B. Unterstützungsleistungen, Burgernutzen, Wahl- und Stimmrecht usw.) bestehen. (...)
Denn die Gesellschaft als Ganzes hat ein starkes Interesse daran, die missbräuchliche Inanspruchnahme staatlicher Leistungen zu bekämpfen. Schliesslich beruht jede funktionierende Rechtsordnung auf einem Grundkonsens der Rechtsunterworfenen, die von der – berechtigten – Annahme ausgehen, dass sich alle nach Treu und Glauben verhalten.»
Das BGer entscheidet, dass zur Aufklärung des Kindesverhältnisses ein DNA-Gutachten unter Androhung der zwangsweisen Durchführung anzuordnen ist. Im Weigerungsfall sei ein Wangenschleimhautabstrich bei dem vorgeblichen Vater und dem Kind durch die zuständige kantonale Behörde zu vollziehen. (Seite 311)
BGer verneint Klagerecht des genetischen Vaters gegen den rechtlichen Vater (Ehemann der gebärenden Mutter) auf Anfechtung von dessen rechtlicher Vaterschaft. (Seite 317)
Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, bestätigt Zulässigkeit von Stadionverboten durch Fußballvereine wegen Besorgnis künftiger Störungen von Fußballspielen
Der Erste Senat führt aus: «Ein Stadionverbot kann auch ohne Nachweis einer Straftat auf eine auf Tatsachen gründende Besorgnis gestützt werden, dass die Betroffenen künftig Störungen verursachen werden. Die Betroffenen sind grundsätzlich vorher anzuhören und ihnen ist auf Verlangen vorprozessual eine Begründung mitzuteilen.» (Seite 320)
BVerfG erkennt keinen verfassungsrechtlich gebotenen Klageweg, um die Bundesrepublik Deutschland zu verpflichten, auf einen Abzug von US-amerikanischen Atomwaffen aus dem Bundesgebiet hinzuwirken
Die 2. Kammer des Zweiten Senats bemerkt: «Es ist verfassungsrechtlich insbesondere auch nicht zu beanstanden, dass das Verwaltungsgericht die Klagebefugnis auch im Hinblick auf Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 25 GG verneint hat. Die Beschwerdeführerin hat in weiten Teilen ihres Rechtsvortrags eine Verletzung bloß staatengerichteter Völkerrechtsnormen, etwa des Gewaltverbots, des Nichtverbreitungsregimes und des Gebots, in einem bewaffneten Konflikt neutrale Staaten nicht zu beeinträchtigen, geltend gemacht. Aus diesen allgemeinen Regeln des Völkerrechts lassen sich auch durch die Übernahme in das nationale Recht gemäß Art. 25 Satz 2 Halbsatz 2 GG jedoch keine subjektiven Rechtspositionen ableiten.» (Seite 326)
BVerfG beanstandet das Fehlen einer gesetzlichen zeitlichen Begrenzung der amtlichen Veröffentlichung von lebensmittel- und futtermittelrechtlichen Verstößen von Unternehmen
In den Leitsätzen des Ersten Senats heißt es: «Verstößt ein Unternehmen gegen lebensmittel- oder futtermittelrechtliche Vorschriften, können seine durch die Berufsfreiheit geschützten Interessen auch dann hinter Informationsinteressen der Öffentlichkeit zurücktreten, wenn die Rechtsverstöße nicht mit einer Gesundheitsgefährdung verbunden sind. Individualisierte amtliche Informationen über konsumrelevante Rechtsverstöße im Internet sind aber regelmäßig durch Gesetz zeitlich zu begrenzen.» (Seite 333)
BVerfG gewährt keinen Eilrechtsschutz gegen Ausweisung eines Tunesiers nach Tunesien zur Strafverfolgung wegen Beteiligung an terroristischen Anschlägen
Die 1. Kammer des Zweiten Senats lässt die diplomatischen Zusicherungen der tunesischen Behörden genügen, der Bf. werde EMRK-konform behandelt und die mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohende Todesstrafe werde wegen des seit 1991 bestehenden Moratoriums nicht vollstreckt. (Seite 340)
BVerfG, Zweiter Senat, gibt dem Befangenheitsantrag gegen BVerfG-Richter Müller im Verfahren des Sterbehilfevereins Dignitas Deutschland statt. (Seite 348)
BVerfG, Erster Senat, weist Ablehnungsgesuche gegen Vizepräsident Kirchhof im Verfahren über den Rundfunkbeitrag als unbegründet zurück. (Seite 351)
Parlamentarische Versammlung des Europarats, Straßburg – Externer Untersuchungsausschuss (Bratza/Bruguière/Fura) bestätigt Korruptionsvorwürfe gegen eine Reihe von Abgeordneten durch Aserbaidschan. Kernpunkte des 200 Seiten umfassenden Berichts werden zusammengefasst. Die Dokumentation gibt außerdem einen chronologischen Abriss der Mitgliedschaft Aserbaidschans im Europarat und geht auf das Problem politischer Gefangener sowie auf die Zuspitzung vor Ministerkomitee und Gerichtshof ein. Aserbaidschan droht der Ausschluss aus dem Europarat, wenn die Regierung in Baku sich weiterhin weigert, den politischen Gefangenen Ilgar Mammadov freizulassen, wozu sie nach dem Urteil des EGMR vom Mai 2014 verpflichtet ist. (Seite 353)
BVerfG (Vorsitzender des Ersten Senats) wendet sich wegen Missachtung einer einstweiligen Anordnung durch die Stadt Wetzlar zur Durchführung einer Wahlkampfveranstaltung der NPD in der Stadthalle an die Kommunalaufsichtsbehörde. (Seite 356)
Schleswig-Holsteinisches Oberlandesgericht (OLG Schleswig) erlässt Auslieferungshaftbefehl gegen den ehemaligen katalanischen Regionalpräsidenten Carles Puigdemont und setzt ihn am 5.4.18 unter Meldeauflagen und bei einer Sicherheitsleistung in Höhe von 75.000,- Euro vorläufig auf freien Fuß. (Seite 356)
Der Generalstaatsanwalt des Landes Schleswig-Holstein beantragt am 1.6.18, die Auslieferung von Carles Puigdemont an Spanien zur Strafverfolgung für zulässig zu erklären; und zwar nicht nur wegen Veruntreuung öffentlicher Gelder (Korruption), sondern entgegen der im Haftbefehlsverfahren vom OLG Schleswig geäußerten Meinung auch wegen Rebellion. Nach deutschem Strafrecht wäre der Tatbestand des Hochverrats (§ 81 Abs. 1 Nr. 1 StGB), mindestens jedoch der Tatbestand des Landfriedensbruchs in einem besonders schweren Fall (§§ 125 Abs. 1 Nr. 1, 125a Satz 1 StGB) erfüllt. Wegen Fluchtgefahr sei der Haftbefehl wieder in Vollzug zu setzen. (Seite 360)