EuGRZ 2000
11. Dezember 2000
27. Jg. Heft 20

Informatorische Zusammenfassung

Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, bestätigt die 1994, also vier Jahre nach der Wiedervereinigung in Kraft getretenen drei Gesetze zur Wiedergutmachung des Enteignungs-Unrechts erstens der DDR unter der SED-Herrschaft (Entschädigungsgesetz), zweitens der sowjetischen Besatzungsmacht 1945-1949 (Ausgleichsleistungsgesetz) und drittens des Deutschen Reichs unter der Herrschaft der Nationalsozialisten (NS-Verfolgtenentschädigungsgesetz)
Politisch-chronologisch geht es um Unrecht unter der Verantwortung von Hitler, Stalin und Ulbricht/Honecker.
Das Bundesverfassungsgericht zieht hier die Trennlinie: «Eine Pflicht der Bundesrepublik Deutschland zur Wiedergutmachung von Vermögensschäden, die eine nicht an das Grundgesetz gebundene Staatsgewalt zu verantworten hat, läßt sich nicht aus einzelnen Grundrechten herleiten. Sie kann sich jedoch aus dem Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes ergeben. Bei der Ausgestaltung der Wiedergutmachung im Einzelnen sind das Rechtsstaatsprinzip und der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG in seiner Bedeutung als Willkürverbot zu beachten.»
Die Eigentumsgarantie des Grundgesetzes ist nicht maßgebend: «Art. 14 GG verpflichtet den Bundesgesetzgeber daher weder zu einer Wiedergutmachung von Vermögensschäden in der Form einer Rückgabe rechtsstaatswidrig entzogener Vermögenswerte noch zur Eröffnung von Wiedererwerbsmöglichkeiten oder zu einer Entschädigung.»
Dennoch ist der Bundesgesetzgeber nicht völlig frei in seinem Tun oder Unterlassen: «Das Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG verlangt, dass die staatliche Gemeinschaft in der Regel Lasten mitträgt, die aus einem von der Gesamtheit zu tragenden Schicksal entstanden sind und mehr oder weniger zufällig nur einzelne Bürger oder bestimmte Gruppen von ihnen getroffen haben.»
Die Beschwerdeführer sind natürliche und juristische Personen bzw. deren Erben, die auf dem Gebiet der neuen Bundesländer aufgrund nationalsozialistischer Verfolgung, sowjetischer Besatzung oder kommunistischer SED-Herrschaft Vermögensverluste erlitten haben. Die Sachverhalte beziehen sich auf schlichte Einfamilienhäuser und Baugrundstücke, eine Großbrauerei mit Gaststätten- und Hotelgrundstücken sowie Villen, Rittergüter und ausgedehnte Waldungen.
Der Streit geht vor allem um die Frage, ob diejenigen, die eine als zu gering empfundene Entschädigung in Geld erhalten, in verfassungswidriger Weise schlechter gestellt sind als jene, die entzogene Vermögenswerte zurückerhalten haben. Die Zielrichtung der – erfolglosen – Verfassungsbeschwerden ist vor allem auf Restitution oder auf höhere Entschädigung gerichtet.
1.– Entschädigungsgesetz – EntschG. Der in der Gemeinsamen Erklärung der Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik zur Regelung offener Vermögensfragen vom 15. Juni 1990 festgeschriebene Grundsatz der Rückgabe vor Entschädigung, auf den die Bf. sich berufen und an dem das BVerfG den Gesetzgeber nicht festhalten will, ließ sich wegen der unerwartet schnellen Entwicklung und der finanziellen Dimensionen nicht durchhalten. Im Urteil heißt es: «Der Gesetzgeber durfte … davon ausgehen, dass er angesichts der Aufgabenfülle im Zusammenhang mit der Herstellung der deutschen Einheit und angesichts der dabei entstehenden enormen Kosten, die sich nach den Ausführungen der Bundesregierung in der mündlichen Verhandlung [am 11. April 2000] allein in staatlichen Transferleistungen von West- nach Ostdeutschland in Höhe von 1 Billion DM widerspiegeln, verfassungsrechtlich auch im Lichte des Art. 3 Abs. 1 GG nicht verpflichtet ist, für Vermögensverluste eine Wiedergutmachung zu gewähren, die wertmäßig einer Restitution gleichkommt. (…)
Nachvollziehbar hat die Bundesregierung dazu in ihrer Stellungnahme ausgeführt, [als] die Entscheidung für die Restitution getroffen worden sei, sei noch von einer längeren Existenz der Deutschen Demokratischen Republik ausgegangen worden. (…) Außerdem sei auch das Ausmaß des Bankrotts der Deutschen Demokratischen Republik und der Kosten der Wiedervereinigung überhaupt nicht absehbar gewesen.»
Die Kürzungsbeträge des § 7 Abs. 1 EntschG sind als Ergebnis einer 4:4-Entscheidung verfassungsgemäß. Die vier Richter des Ersten Senats – Kühling, Jaeger, Hohmann-Dennhardt, Hoffmann-Riehm -, die die Entscheidung insoweit gem. § 15 Abs. 4 BVerfGG tragen, sind der Ansicht, die angegriffenen Wertdifferenzen verstoßen nicht gegen das Willkürverbot:
«Der Gesetzgeber brauchte die Höhe der Entschädigung nicht vornehmlich an der Verkehrswerthöhe des verlorenen Vermögens auszurichten; er konnte auch andere zentrale Gesichtspunkte des Entschädigungsrechts bei der Bewältigung der Folgen des Krieges und der deutschen Teilung berücksichtigen.»
Die vier das Ergebnis bestimmenden Richter unterstreichen die «Prioritäten zugunsten gemeinwohlorientierter Projekte wie dem Aufbau einer öffentlichen Infrastruktur auf dem Verkehrs-, Informations- oder dem Bildungssektor und vorrangig auch zugunsten der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit.» Immerhin habe der Gesetzgeber bei Vermögensverlusten bis zu 90.000,- DM einen halbwertigen Verlustausgleich sichergestellt.
Die anderen vier Richter – Vizepräsident Papier, Haas, Hömig, Steiner – sehen das Willkürverbot insoweit verletzt, als die Kürzungen bei Beträgen zwischen 90.000,- und 500.000,– DM (70-80 %) einen halbwertigen Verlustausgleich unterschreiten:
«In diese Spanne dürften vor allem Vermögenswerte fallen, die wie Ein- und Zweifamilienhäuser oder auch kleinere Mietshäuser den in der grossen Masse typischen Wiedergutmachungsfall bilden, in dem es aus Gründen der sozialen Solidarität auch verfassungsrechtlich geboten ist, den eingetretenen Verlust durch eine noch fühlbare Entschädigungsleistung auszugleichen. Die Hälfte der für den 3. Oktober 1990 angenommenen Verkehrswerte darf deshalb hier nicht unterschritten werden.» Wegen der 4:4-Stimmengleichheit im Senat kommt diese Argumentation im Ergebnis (s.o.) nicht zum Tragen.
2.– Ausgleichsleistungsgesetz – AusglLeistG. Das Urteil bestätigt u. a. als verfassungsgemäß, daß: (1) natürliche Personen besser behandelt werden als juristische Personen, (2) die Bundesrepublik Deutschland einem angemessenen Härteausgleich für die Vermögensschäden hinreichend nachgekommen ist, die unter der Verantwortung der sowjetischen Besatzungsmacht eingetreten sind, (3) im Rahmen des Lastenausgleichs als Hauptentschädigung gezahlte Beträge am Ende abgezogen werden, (4) von russischen Behörden rehabilitierte Personen besser behandelt werden als nach dem AusglLeistG Anspruchsberechtigte, (5) die von den Bf. behauptete, vom BVerfG nicht nachgeprüfte Schlechterbehandlung gegenüber dem – mit den USA im Zuge der Zwei-plus-Vier-Verhandlungen geschlossenen – Pauschalentschädigungsabkommen ggf. gerechtfertigt wäre, (6) eine Benachteiligung der Bf. gegenüber den politischen Parteien und deren Vermögen nicht erkennbar ist, daß es sich (7) im Verhältnis zu Körperschaften des öffentlichen Rechts, die Vermögenswerte zurückübertragen bekommen, und (8) im Hinblick auf das Sachenrechtsbereinigungsgesetz zum Ausgleich gegensätzlicher privater Interessen von Grundstückseigentümern und -Nutzern um nicht vergleichbare Sachverhalte handelt. (9) Der Abzug langfristiger, auf den enteigneten Vermögen lastender, Verbindlichkeiten und (10) das landwirtschaftliche bzw. forstwirtschaftliche Alteigentümer begünstigende und von den Bf. in verschiedenen Details angegriffene Flächenerwerbsprogramm werden ebenfalls nicht beanstandet.
In drei Punkten kommt das BVerfG zu einer verfassungskonformen Auslegung: (1) Beim Flächenerwerbsprogramm ist Rechtsmißbräuchen von langfristig geschützten Pächtern gegenüber den Eigentümern vorzubeugen und (2) bei der Abschöpfung von Veräußerungsgewinnen vor Ablauf von 20 Jahren sind Härtefälle wie bei krankheitsbedingter Aufgabe des landwirtschaftlichen Betriebs auszunehmen. (3) Rückübertragene Kulturgüter können nach Ablauf der 20jährigen Frist unentgeltlichen öffentlichen Nießbrauchs (Ausstellung von Kunstgegenständen in Museen) nicht ohne vertragliche Regelung mit dem Eigentümer über ein angemessenes Entgelt in öffentlichem Nießbrauch behalten werden.
3.– NS-Verfolgtenentschädigungsgesetz – NS-VEntschG. Die angegriffenen Regelungen verletzen weder die Eigentumsgarantie noch das Willkürverbot oder spezielle Diskriminierungsverbote. (Seite 573)