EuGRZ 2000
28. Dezember 2000
27. Jg. Heft 21-23

Informatorische Zusammenfassung

Eckhard Pache, Hamburg, kommentiert den Grundsatz des fairen gerichtlichen Verfahrens auf europäischer Ebene
Der Autor stellt fest: «Der Grundsatz der fairen Ausgestaltung des gerichtlichen Verfahrens ist nicht nur ein wichtiger Bestandteil des nationalen Verfassungs- und Prozessrechts, er zählt ebenso zu den Grundpfeilern der sich immer deutlicher herausbildenden gemeineuropäischen Verfassungsordnung und bildet ein Kernelement des europäischen Verständnisses von Rechtsstaatlichkeit.»
Pache kommt nach Darstellung der normativen Grundlagen sowie zentralen Inhalte und nach Würdigung der bisherigen Rechtsprechung zu dem Schluß: «Durch die sich ständig verfeinernde, kasuistisch immer weiter ausdifferenzierte Grundrechtsjudikatur des EGMR und zunehmend auch des EuGH wächst die Gefahr inhaltlicher Differenzen und Disharmonien im Grundrechtsschutz der EMRK auf der einen und des Gemeinschaftsrechts auf der anderen Seite. Durch die Verabschiedung der Europäischen Grundrechtscharta, also die Schaffung eines weiteren eigenständigen Grundrechtskataloges auf europäischer Ebene wird diese Gefahr nicht eben geringer. Daher wächst die Notwendigkeit, auf eine prozedurale Koordination und auf die inhaltliche Kohärenz der Grundrechtsrechtsprechung bedacht zu sein, um für den Bürger einen einheitlichen, durchschaubaren und sinnvoll organisierten mehrdimensionalen Grundrechtsschutz in Europa zu gewährleisten. (…)
Es bleibt abzuwarten, inwieweit der EGMR bereit sein wird, im Rahmen der Rüge der Konventionswidrigkeit des Verhaltens der Konventionsstaaten mittelbar das Verhalten der Gemeinschaftsorgane und das Gemeinschaftsrecht auf seine EMRK-Konformität zu überprüfen.» (Seite 601)
Carsten Stahn, Heidelberg, setzt sich in seinem Anm.-Aufsatz zur Entscheidung des UN-AMR im Fall Kennedy gegen Trinidad und Tobago grundsätzlich mit der Zulässigkeit von Vorbehalten zu Menschenrechtsverträgen auseinander
Kernpunkt ist die Tatsache, daß es «im Bereich des universellen Menschenrechsschutzes ein äußerst schwieriges Unterfangen ist, Staaten zu etwas zu verpflichten, das ihrem erklärten Willen zuwiderläuft». Gleichwohl hat der UN-Ausschuß für Menschenrechte (UN-AMR) den Vorbehalt von Trinidad und Tobago vom 26. Mai 1998 (HRLJ 1999, 280) – Kündigung des Fakultatifprotokolls mit erneutem Beitritt am selben Tag, wobei allerdings die Prüfungskompetenz des UN-AMR für Beschwerden von Todeszellen-Insassen ausgeschlossen wurde – für zulässig erklärt. Diese Entscheidung des Ausschusses hatte zur Folge, daß Trinidad und Tobago im März 2000 das FP gänzlich kündigte, so daß der Ausschuß aus diesem Land nunmehr überhaupt keine Beschwerden mehr prüfen kann.
Der Autor geht grundsätzlich auf die Prüfungskompetenz in Bezug auf Menschenrechtsverträge ein, verdeutlicht die Kriterien für die Zulässigkeit von Vorbehalten bis hin zum Verbot des Rechtsmißbrauchs und geht den Rechtsfolgen unzulässiger Vorbehalte nach. Dabei arbeitet er nicht nur die jeweilige Position des UN-AMR, der International Law Commission und die EMRK-Praxis heraus, sondern auch verschiedene Begründungsmodelle zur Rechtfertigung der vollen Bindung des Vorbehaltsstaats wie die besondere Erklärungsverantwortung des betreffenden Staats, die Verwerfungskompetenz des Vertragsgremiums, die bestmögliche Durchsetzung der materiellen Vertragspflichten (effet utile) sowie die bewußte Risikoübernahme treuwidrigen Handelns durch den Vorbehaltsstaat. (Seite 607)
UN-Ausschuß für Menschenrechte (UN-AMR), Genf/New York, erklärt Todesstrafen-Vorbehalt von Trinidad und Tobago bei dem erneuten Beitritt zum Fakultativprotokoll des IPBPR für unwirksam und Individualbeschwerde eines Verurteilten für zulässig / Fall Kennedy gegen Trinidad und Tobago
«Der hier vorliegende Vorbehalt, der nach Veröffentlichung der Allgemeinen Bemerkung Nr. 24 angebracht wurde, zielt darauf ab, die Prüfungskompetenz des Ausschusses nach dem Fakultativprotokoll nicht für eine spezielle Vorschrift des Pakts, sondern für den ganzen Pakt auszuschließen, soweit es um eine bestimmte Gruppe von Beschwerdeführern, nämlich um die zum Tode verurteilten Gefangenen geht. Dadurch wird der Vorbehalt allerdings nicht mit dem Ziel und Zweck des Fakultativprotokolls vereinbar. Im Gegenteil, der Ausschuß kann einen Vorbehalt, der eine Gruppe von Individuen aussondert und dieser verfahrensrechtlich einen geringeren Schutz einräumt als dem Rest der Bevölkerung, nicht für zulässig erachten. Nach Ansicht des Ausschusses liegt darin eine Diskriminierung, die einigen der Grundprinzipien zuwiderläuft, die im Pakt und seinen Protokollen verankert sind. Deswegen ist der Vorbehalt mit Ziel und Zweck des Fakultativprotokolls unvereinbar. Dies hat zur Folge, daß der Ausschuß nicht daran gehindert ist, die vorliegende Beschwerde nach dem Fakultativprotokoll zu prüfen.
Angesichts der Tatsache, daß der Vertragsstaat die Zulässigkeit des Beschwerdevorbringens nicht aus irgendeinem anderen Grund, sondern nur aufgrund des Vorbehalts bestritten hat, stellt der Ausschuß fest, daß die Beschwerde hinreichend substantiiert ist, um auf ihre Begründetheit hin geprüft zu werden.» (Seite 615)
Abweichendes Sondervotum der Ausschuß-Mitglieder Ando, Bhagwati, Klein und Kretzmer (Seite 617)
Trinidad und Tobago kündigt nach der Entscheidung des UN-AMR das Fakultativprotokoll zum IPBPR im März 2000 nunmehr zur Gänze. (Seite 671)
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Straßburg, billigt gütliche Einigung in der Staatenbeschwerde Dänemark gegen Türkei
Ausschlaggebend für die Streichung des Falles – der einen dänischen Staatsbürger türkischer Herkunft betrifft, der nach seinen Angaben gefoltert wurde – ist die ex gratia-Zahlung einer Entschädigung an den Betroffenen in Höhe von ca. 60.000,– Euro sowie ein bilaterales dänisch-türkisches Abkommen über ein Folter-Präventionsprogramm und einen, auch Einzelfälle umfassenden, politischen Dialog über Menschenrechte. (Seite 619)
Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH), Luxemburg, bestätigt vorsorgliche nationale Schutzmaßnahmen gegen Ansteckungsgefahr mit Rinderwahnsinn (BSE) bei Fehlen rechtsgültiger gemeinschaftlicher Schutzmaßnahmen als zulässig / Rs. Eurostock Meat Marketing
Der Ausgangsfall betrifft die Klage eines nordirischen Fleischverarbeitungsbetriebs gegen ein britisches Einfuhrverbot von Rindsköpfen aus Irland nach Nordirland.
Allgemein heißt es in dem Urteil: «[Dabei] kann der Erlass einer Entscheidung der Kommission, deren Inkrafttreten nicht unmittelbar bevorsteht, nicht bereits als solcher einen Mitgliedstaat daran hindern, vorsorgliche Maßnahmen gemäß Artikel 9 Absatz 1 Unterabsatz 4 der Richtlinie 89/662 zu erlassen.
Konkret stellt der EuGH fest: «Ein Einfuhrverbot für Rindsköpfe war somit zulässig, weil diese hochgradig infektiöses Material enthielten und sowohl aus den Schlachtmethoden als auch aus dem Transport ein ernstes Risiko der Ansteckung gesunder Gewebe, insbesondere durch das Verströmen zerebrospinaler Flüssigkeit in das Backenfleisch, resultierte.» (Seite 622)
EuGH sieht im Vorrang von Bewerbern, die Wehr- oder Ersatzdienst geleistet haben, beim Zugang zum juristischen Vorbereitungsdienst im Land Hessen keine Frauen-Diskriminierung / Rs. Schnorbus
«Mit der streitigen Vorschrift soll … der Verzögerung in der Ausbildung von Bewerbern Rechnung getragen werden, die einer Wehr- oder Ersatzdienstpflicht unterliegen; sie ist somit objektiver Natur und soll allein zum Ausgleich der Auswirkungen dieser Verzögerung beitragen. Daher kann die fragliche Vorschrift nicht als im Widerspruch zum Grundsatz der Gleichbehandlung von männlichen und weiblichen Arbeitnehmern stehend betrachtet werden.» (Seite 627)
EuGH stellt Vertragsverletzungen fest durch diskriminierende Straßbenbenutzungsgebühren (Brenner-Maut) und durch Verwendung der Maut-Einnahmen nicht ausschließlich zur Kostendeckung dieser Strecke / Kommission gegen Österreich
Der EuGH kommt zu dem Ergebnis, «dass die beiden fraglichen Gebührenerhöhungen zu einer Begünstigung der österreichischen Verkehrsunternehmer gegenüber den Verkehrsunternehmern, die Staatsangehörige anderer Mitgliedstaten sind, führen, soweit sie die die Gesamtstrecke der Brennerautobahn befahrenden Kraftfahrzeuge mit mehr als drei Achsen, die ganz überwiegend nicht in Österreich zugelassen sind, treffen, nicht aber die Kraftfahrzeuge mit mehr als drei Achsen, die einen entsprechenden Transport auf bestimmten Teilstrecken durchführen und ganz überwiegend in Österreich zugelassen sind.» (Seite 631)
Schweizerisches Bundesgericht (BGer), Lausanne, sieht keine bundesrechtliche Rechtsgrundlage für eine Zwangsbehandlung zu therapeutischen Zwecken im Rahmen einer fürsorgerischen Freiheitsentziehung
Auch bieten die Art. 397a ff. ZGB keine Rechtsgrundlage für eine solche Zwangsbehandlung. Im Ergebnis bedeutet das: «Fehlt es für die Zwangsbehandlung an einer bundesgesetzlichen und – nach den verbindlichen Feststellungen des Verwaltungsgerichts auch – an einer kantonalen Rechtsgrundlage, so kann der Betroffene grundsätzlich nicht in der Anstalt behalten werden, wenn die Freiheitsentziehung die Therapierung zum Zweck haben soll. Indessen steht eine Entlassung des Berufungsklägers ausser Diskussion, zumal er dies auch selbst nicht verlangt. Im kantonalen Verfahren hatte er offenbar den Antrag auf Verlegung in eine andere Abteilung der gleichen Klinik gestellt. Darüber ist nicht entschieden worden.» Die Sache wird an das Verwaltungsgericht des Kantons Aargau zurückverwiesen. (Seite 642)
BGer zur ausnahmsweisen Zulässigkeit medizinischer Zwangseingriffe (Medikation und Isolierung) trotz fehlender formeller Rechtsgrundlage bei Wahrung des Verhältnismäßigkeitsprinzips
«Gestützt auf die Krankengeschichte sowie die erwähnten Ausführungen von Dr. A. darf davon ausgegangen werden, dass die am 6. und 7. Januar 1998 medikamentös und räumlich erfolgte Reizabschirmung des Beschwerdeführers angesichts der Intensität seines akut angetriebenen und impulsiven Zustands sowie der damit einhergehenden Fremdgefährdung sachgerecht war und jedenfalls während der fraglichen zwei Tage ohne Verletzung des Verhältnismäßigkeitsprinzips aufrechterhalten werden durfte.» (Seite 644)
Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, sieht Imagewerbung mit gesellschaftskritischen Themen innerhalb des Schutzbereichs von Art. 5 GG / Schockwerbung
Konkret geht es um drei Anzeigen. Sie zeigen eine ölverschmutzte Ente, Kinderarbeit und das nackte Gesäß eines Menschen mit dem Stempelaufdruck „H.I.V. POSITIVE“. Rechtlich geht es um die Meinungsfreiheit des Werbenden (Benetton) und die Pressefreiheit des die Werbung veröffentlichenden Zeitschriftenverlags (Stern). Der Bundesgerichtshof hatte die Werbung wegen Verstoßes gegen die guten Sitten (§ 1 Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb) verboten.
Grundsätzlich heißt es in dem Urteil des BVerfG: «Ein vom Elend der Welt unbeschwertes Gemüt ist kein Belang, zu dessen Schutz der Staat Grundrechtspositionen einschränken darf. Anders kann es zu beurteilen sein, wenn ekelerregende, furchteinflößende oder jugendgefährdende Bilder gezeigt werden. (…) Kommerzielle Werbung mit Bildern, die mit suggestiver Kraft libidinöse Wünsche wecken, den Drang nach Freiheit und Ungebundenheit beschwören oder den Glanz gesellschaftlicher Prominenz verheißen, ist allgegenwärtig. Es mag zutreffen, dass der Verbraucher diesen Motiven gegenüber „abgehärtet“ ist, wie der Kläger des Ausgangsverfahrens vorträgt. Ein solcher Gewöhnungseffekt rechtfertigt es jedoch nicht, einem Appell an das bisher weniger strapazierte Gefühl des Mitleids belästigende Wirkung zuzuschreiben. (…)
Die anprangernde, gesellschaftskritische Wirkung der Anzeigen wird durch den Werbekontext nicht in Frage gestellt. (…) Anders wäre es vielleicht, wenn mit der Anzeige für ein konkretes Produkt geworben würde.» (Seite 647)
BVerfG qualifiziert die Singularzulassung von Rechtsanwälten bei den Oberfinanzgerichten als Verstoß gegen die Berufsausübungsfreiheit
«Schränkt der Gesetzgeber über Jahre die berufliche Freiheit nur in einem Teilgebiet Deutschlands ein, ohne dass sich in Gebieten größerer Berufsausübungsfreiheit Fehlentwicklungen oder in Gebieten eingeschränkter Berufsausübungsfreiheit besondere Vorteile ergeben, so steht damit fest, dass die Einschränkung nicht erforderlich ist.» Die dem Gesetzgeber zugebilligte Übergangsfrist läuft bis zum 30. Juni 2002. (Seite 654)
BVerfG gibt Verfassungsbeschwerde der Zeugen Jehovas gegen Urteil des Bundesverwaltungsgerichts wegen Nichtzuerkennung des Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts statt
Allerdings wird das Verfahren an das BVerwG zurückverwiesen. Danach ist im fachgerichtlichen Verfahren zu klären, «ob die Beschwerdeführerin – wie das Land Berlin behauptet – durch die von ihr empfohlenen Erziehungspraktiken das Wohl der Kinder beeinträchtigt oder austrittswillige Mitglieder zwangsweise oder mit vom Grundgesetz missbilligten Mitteln in der Gemeinschaft festhält und damit dem staatlichen Schutz anvertraute Grundrechte beeinträchtigt.» Grundsätzlich ist einer Religionsgemeinschaft der Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts zuzuerkennen, wenn sie erwiesenermaßen «rechtstreu« ist. «Eine darüber hinausgehende Loyalität zum Staat verlangt das Grundgesetz nicht.» (Seite 669)
BVerfG bestätigt Pflicht von Energieversorgungsunternehmen, den Finanzämtern die Vollstreckung von Steuerschulden durch Auskunft über die Kontoverbindungen ihrer Kunden zu erleichtern
Die 1. Kammer des Ersten Senats nimmt eine dagegen gerichtete Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung an, weil die angegriffene Regelung verfassungsrechtlich gerechtfertigt sei. (Seite 668)
BVerfG billigt gezielte Veranlassung zu selbstbelastenden Angaben bei Mithören eines polizeilich initiierten Telephongesprächs
Die 3. Kammer des Zweiten Senats nimmt die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung an. Das Landgericht hatte den Beschwerdeführer (Bf.) wegen schweren Raubes zu sechs Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Ausschlaggebend war der Inhalt eines mitgehörten Telephongesprächs zwischen einem Zeugen und dem Bf., das von der Polizei veranlaßt worden war und über dessen Inhalt ein mithörender Dolmetscher vernommen worden war. (Seite 670)
Europäisches Parlament (EP), Straßburg bedauert, daß die in Nizza von den Präsidenten des Rats, der Kommission und des EP proklamierte Grundrechte-Charta weder in den neuen Vertrag aufgenommen wurde noch in diesem darauf verwiesen wird. (Seite 671)
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Straßburg, erklärt die Beschwerde des PKK-Führers Öcalan in fast vollem Umfang für zulässig – Todesstrafe, Haftbedingungen, Gerichtsverfahren. (Seite 672)