EuGRZ 2000
5. Dezember 2000
27. Jg. Heft 17-19

Informatorische Zusammenfassung

Siegbert Alber, Luxemburg, und Ulrich Widmaier, München, analysieren die «EU-Charta der Grundrechte und ihre Auswirkungen auf die Rechtsprechung»
Insbesondere vertiefen die Autoren die Frage nach der bestmöglichen Gestaltung der Beziehungen zwischen dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in Luxemburg und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg.
Ausgangspunkt des Beitrags ist das Mandat für die Ausarbeitung der Charta und ihr grundsätzlicher Inhalt. Weitere Schwerpunkte bilden die Rechtsprechung zu den Grundrechten innerhalb der Gemeinschaft sowie die Beachtung der Rechtsprechung des EGMR durch den EuGH, weiter der schon lange geforderte Beitritt der Gemeinschaft zur EMRK und schließlich eine Reihe konkreter Möglichkeiten des Zusammenwirkens von EuGH und EGMR bis hin zu einem nicht-institutionalisierten Dialog.
Alber und Widmaier bewerten die Initiative der Grundrechte-Charta grundsätzlich positiv: «Um baldmöglichst zu einem Gemeinschaftsdokument zu kommen, bietet es sich an, die Charta zunächst im Wege einer gemeinsamen Erklärung von Parlament, Rat und Kommission anzunehmen und dann zu einem späteren Zeitpunkt formell in die Verträge aufzunehmen. Der Gerichtshof könnte die Charta im Rahmen der Wahrung des Rechts, die ihm nach Art. 220 EGV obliegt, berücksichtigen, ohne dass zuvor die Verträge geändert werden müssen.»
«[Die Grundrechte-Charta] ist der Beweis, dass die Union nicht nur eine Wirtschaftsgemeinschaft, sondern auch und besonders eine Rechtsgemeinschaft ist. Die Charta zeigt Werte und Rechte auf. So festigt und verdichtet sie die Rechts-Gemeinschaft. (…) So macht sie doch erstmals deutlich, dass es der Mensch ist, der im Mittelpunkt auch der Europäischen Politik steht. Nicht von ungefähr beginnt die Charta mit der Unantastbarkeit der Würde des Menschen, aus der sich zahlreiche der weiteren Rechte ableiten. Ähnliches gilt für die Solidarität.» (Seite 497)
Manfred Zuleeg, Frankfurt am Main, untersucht das «Verhältnis nationaler und europäischer Grundrechte» sowie die «Funktionen einer EU-Charta der Grundrechte»
Der Autor erläutert den doppelten Grundrechtsschutz auf Gemeinschafts- und auf innerstaatlicher Ebene, widerspricht nachdrücklich dem Zweifel an einem vollwertigen Grundrechtsschutz in der EU und belegt die «Vorzüge des bestehenden Grundrechtsschutzes in der Europäischen Union». Obwohl also eine Nachbesserung des Grundrechtsschutzes auf europäischer Ebene nicht notwendig ist, könnten der Grundrechte-Charta folgende Funktionen zukommen: effizienter Schutz des Einzelnen, Transparenz, feierliches Bekenntnis zu einer Verfassung der Europäischen Union, Förderung der Demokratie und die Legitimation der Herrschaft im europäischen Raum, Konsens über Wertvorstellungen und Fortschritt der europäischen Integration.
Zuleeg unterstreicht die Wahrscheinlichkeit, dass der EuGH der Charta zur Wirksamkeit verhilft, indem er sie zusätzlich zu den bisher benutzten Grundlagen des Richterrechts heranzieht: «Es ist zu erwarten, dass die Charta als unverbindlicher Grundrechtskatalog einstimmig angenommen wird. Dann ist der Weg frei, den Inhalt der Charta als Ausdruck einer allgemeinen Überzeugung der Mitgliedstaaten anzusehen. (…) Der EuGH kann mit der Charta genauso verfahren wie mit einem lediglich unterzeichneten Vertrag.»
«Im politischen Raum ist zu hören, dass die Charta der Grundrechte ein Stück der Verfassung sei und deshalb feierlich verkündet werden sollte. Dieser Intention ist beizupflichten. Die EU hat zwar schon eine Verfassung und eine reichhaltige noch dazu, sie setzt sich aber aus ineinander verflochtenen Verträgen mit Zusätzen und Ergänzungen zusammen. Das Richterrecht des EuGH füllt bestehende Lücken der Verträge aus. Grundrechte gehören dazu. (…) Eine feierliche Erklärung kann noch eine weitere Folge nach sich ziehen. Es wird den Politikern, Richtern und Wissenschaftlern, die den Vorrang des europäischen Grundrechtsschutzes im Anwendungsbereich des europäischen Rechts leugnen oder ignorieren, schwerer gemacht, solche Ansichten zu verkünden.» (Seite 511)
Dimitris Th. Tsatsos, Hagen/Athen, sieht die «Europäische Unionsgrundordnung im Schatten der Effektivitätsdiskussion» und stellt anläßlich der Regierungskonferenz 2000 die Verfassungsfrage
«Die Regierungskonferenz 2000, die eine die Erweiterungsfähigkeit der Europäischen Unionsgrundordnung absichernde institutionelle Reform beschließen soll, gibt Anlaß, nach der institutionellen Kernproblematik des laufenden Revisionsprozesses zu fragen.» Nämlich: Wohin führt der Wandel der EU? Welches sind die behaupteten und welches die vorhandenen Demokratiedefizite? Führt die Institution der „verstärkten Zusammenarbeit“ zurück zu einer Europäischen Union der Wenigen?
In einem Exkurs zur Verfassungsfrage zieht Tsatsos eine Trennlinie: «Will man unter dem Deckmantel einer Debatte über eine wie auch immer verstandene Verfassung und wegen einer behaupteten Effektivität der Unionsorgane den gleichgewichtig-dualen Legitimationsgrundlagen der Europäischen Unionsgrundordnung, d. h. an dem genetisch geprägten Charakter der Union als Union von Völkern und von Staaten rütteln? Diese Frage müßten die Verfechter einer Verfassungslösung offen und unmißverständlich beantworten. Die Staatswerdung der Europäischen Union ist nicht durch einen Verfassungstext erzwingbar.
Ein Verfassungsvertrag hingegen, als Ausblick in die Zukunft, sogar als nächstes Diskussionsthema, macht den Verfassungsbegriff zu einer willkommenen Bezeichnung einer bereits begonnenen gemeineuropäischen verfassungskulturellen Debatte. Die Debatte hat davon auszugehen, daß sich die Europäische Unionsgrundordnung in ständigem Wandel befindet. (…) Gelänge es, die, schon redaktionell, schwer zugänglichen Verfassungstexte mit Hilfe der ausgereiften europäischen Verfassungssprache und Verfassungssystematik in einen Verfassungsvertragstext umzugiessen, wäre das eine gute Grundlage für eine ergiebige Zukunftsdiskussion.» (Seite 517)
Die Grundrechte-Charta der Europäischen Union – Der endgültige Text-Entwurf des Konvents
Der Text umfaßt 54 Artikel und gliedert sich in Präambel und sieben Kapitel: Würde des Menschen, Freiheiten, Gleichheit, Solidarität, Bürgerrechte, Justizielle Rechte und Allgemeine Bestimmungen.
In der Präambel heißt es: «In dem Bewußtsein ihres geistig-religiösen und sittlichen Erbes gründet sich die Union auf die unteilbaren und universellen Werte der Würde des Menschen, der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität. Sie beruht auf den Grundsätzen der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit. Sie stellt die Person in den Mittelpunkt ihres Handelns, indem sie die Unionsbürgerschaft und einen Raum der Freiheit, Sicherheit und des Rechts begründet.» Und: «Die Ausübung dieser Rechte ist mit Verantwortlichkeiten und Pflichten sowohl gegenüber den Mitmenschen als auch gegenüber der menschlichen Gemeinschaft und den künftigen Generationen verbunden.» Art. 1 lautet: «Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie ist zu achten und zu schützen.»
Der Anwendungsbereich wird in Art. 51 Abs. 2 umrissen: «Diese Charta begründet weder neue Zuständigkeiten noch neue Aufgaben für die Gemeinschaft und für die Union, noch ändert sie die in den Verträgen festgelegten Zuständigkeiten und Aufgaben.»
Zur Tragweite der garantierten Rechte und über die Verbindung zur EMRK heißt es in Art. 52 Abs. 3: «So weit diese Charta Rechte enthält, die den durch die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten garantierten Rechten entsprechen, haben sie die gleiche Bedeutung und Tragweite, wie sie ihnen in der genannten Konvention verliehen wird. Diese Bestimmung steht dem nicht entgegen, dass das Recht der Union einen weiter gehenden Schutz gewährt.»
Der Konvent ist auf seiner feierlichen Abschlußsitzung am 2. Oktober 2000 in Brüssel übereingekommen, den erarbeiteten Entwurf auf dem Gipfeltreffen am 13./14. Oktober in Biarritz an den Europäischen Rat der Staats- und Regierungschefs weiterzuleiten, der dann auf dem Gipfeltreffen vom 7. bis 9. Dezember 2000 in Nizza über das weitere Vorgehen entscheiden wird. (Seite 554)
Grundrechte-Charta der EU – Erläuterungen zum endgültigen Text-Entwurf des Konvents
Die Erläuterungen wurden am 11. Oktober 2000 vom Präsidium mit folgendem Vermerk in Brüssel vorgelegt: «Die vorliegenden Erläuterungen sind vom Präsidium in eigener Verantwortung formuliert worden. Sie haben keine Rechtswirkung, sondern dienen lediglich dazu, die Bestimmungen der Charta zu verdeutlichen.»
Zum Schutzniveau wird unter Art. 53 festgestellt: «Der Zweck dieser Bestimmung ist die Aufrechterhaltung des durch das Recht der Union, das Recht der Mitgliedstaaten und das Völkerrecht in seinem jeweiligen Anwendungsbereich gegenwärtig gewährleisteten Schutzniveaus. Aufgrund ihrer Bedeutung findet die EMRK Erwähnung. Der durch die Charta gewährleistete Schutz darf unter keinen Umständen geringer als der durch die EMRK gewährte Schutz sein, was bedeutet, dass die in der Charta vorgesehene Einschränkungsregelung nicht unter dem in der EMRK vorgesehenen Niveau liegen darf.» (Seite 559)
Konvent zur Ausarbeitung der Grundrechte-Charta der EU – Namensliste (Seite 570)
Regierungskonferenz 2000 – Die Finnische Delegation beantragt, der EG die Zuständigkeit für den Beitritt zur EMRK zu geben. (Seite 572)
Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH), Luxemburg, bekräftigt den gemeinschaftsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz / Rs. Karlsson u. a.
In der Sache wird das schwedische System der Zuteilung von Milchquoten an reguläre, den Betrieb erweiternde, ökologische Erzeuger und Junglandwirte bestätigt.
Grundsätzlich bekräftigt der EuGH erstens: «Die Mitgliedstaaten müssen bei der Durchführung der gemeinschaftsrechtlichen Regelungen aber auch die Erfordernisse des Grundrechtsschutzes in der Gemeinschaftsrechtsordnung beachten. (…) Zu diesen Grundrechten gehört der allgemeine Grundsatz der Gleichheit und Nichtdiskriminierung.» Zweitens: «Nach gefestigter Rechtsprechung kann jedoch die Ausübung dieser Rechte, insbesondere im Rahmen einer gemeinsamen Marktorganisation, Beschränkungen unterworfen werden, sofern diese tatsächlich dem Gemeinwohl dienenden Zielen der Gemeinschaft entsprechen und nicht einen im Hinblick auf den verfolgten Zweck unverhältnismäßigen, nicht tragbaren Eingriff darstellen, der diese Rechte in ihrem Wesensgehalt antastet.» (Seite 524)
EuGH bestätigt innergemeinschaftliche Niederlassungsfreiheit für Rechtsanwälte / Klage Luxemburgs gegen RL 98/5/EG abgewiesen
«Der Gemeinschaftsgesetzgeber hat also, um einer bestimmten Kategorie zuwandernder Rechtsanwälte die Ausübung der Niederlassungsfreiheit, einer Grundfreiheit, zu erleichtern, einer Regelung, die eine Unterrichtung des Verbrauchers, Beschränkungen hinsichtlich des Umfangs und der Modalitäten der Ausübung bestimmter mit dem Beruf verbundener Tätigkeiten, eine Kumulierung der zu beachtenden Berufs- und Standesregeln, eine Versicherungspflicht sowie eine die zuständigen Stellen des Herkunftsstaats und des Aufnahmestaats einbeziehende Disziplinarregelung miteinander verknüpft, den Vorzug vor einem System der Vorabkontrolle einer Qualifikation im nationalen Recht des Aufnahmestaats gegeben. Er hat nicht die Verpflichtung zur Kenntnis des nationalen Rechts beseitigt, das in den vom betreffenden Anwalt bearbeiteten Rechtssachen anwendbar ist, sondern lediglich den Anwalt von der Verpflichtung befreit, diese Kenntnisse im Voraus nachzuweisen. Damit hat er zugelassen, dass Kentnisse gegebenenfalls schrittweise durch die praktische Tätigkeit erworben werden, was durch die im Herkunftsstaat in anderen Rechtsordnungen gesammelte Erfahrung erleichtert wird. Er konnte dabei auch die abschreckende Wirkung der Disziplinar- und der Berufshaftpflichtregelung berücksichtigen.
Durch seine Entscheidung für diese Art und dieses Niveau des Verbraucherschutzes und der Gewährleistung einer geordneten Rechtspflege hat der Gemeinschaftsgesetzgeber die Grenzen seines Ermessens nicht überschritten.» (Seite 530)
EuGH versteht den freien Dienstleistungsverkehr auch für Handwerker als fundamentalen Grundsatz des EG-Vertrags / Rs. Corsten
Ein deutscher Architekt, der eine niederländische Firma mit der Ausführung von Estrich-Arbeiten beauftragt hatte, sollte wegen Verstoßes gegen die Vorschriften zur Bekämpfung von Schwarzarbeit zu DM 2.000,- Bußgeld verurteilt werden, weil die niederländische Firma nicht in die deutsche Handwerksrolle eingetragen war. Auf Vorlage des Amtsgerichts Heinsberg kommt der EuGH zu dem Schluß, daß durch die von den Behörden vorab geforderte Eintragung in die Handwerksrolle weder zeitliche Verzögerungen noch finanzielle Hürden das ausländische Unternehmen davon abhalten dürfen, von seinem Recht auf Dienstleistungsfreiheit Gebrauch zu machen. (Seite 535)
Eidgenössisches Versicherungsgericht (EVG), Luzern, erklärt die Beschränkung des Anspruchs auf invaliditätsbedingte Abänderung von Motorfahrzeugen auf volljährige Versicherte für verfassungswidrig
Konkret geht es um die von der Invalidenversicherungsstelle Schwyz abgelehnte Kostenerstattung für die Ausstattung des zum Kauf beabsichtigten Autos mit einem elektro-hydraulischen Lift für die Verladung des Rollstuhls einer minderjährigen Behinderten. (Seite 540)
Italienischer Verfassungsgerichtshof, Rom, bestätigt die territoriale Beschränkung des Anspruchs auf den Gebrauch einer Minderheitensprache im Strafprozess auf das Siedlungsgebiet
Demnach ist der Gesetzgeber nicht verpflichtet, persönliche subjektive Rechte auf den Gebrauch der Minderheitensprache auch ausserhalb des Siedlungsgebietes der Minderheit anzuerkennen. (Seite 542)
S.a. die Anmerkung von Jörg Luther zu den gesetzgeberischen Konsequenzen der vorstehenden Entscheidung, S. 543.
Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, sieht in der Einschränkung des Zugangs zur Krankenversicherung für Rentner durch Gesundheitsstrukturgesetz von 1992 eine Diskriminierung von zweitweise freiwillig Versicherten gegenüber Pflichtversicherten
Die Frist für eine gesetzliche Neuregelung läuft am 31.3.2002 ab. Außerdem hatte der Gesetzgeber den rechtsstaatlichen Vertrauensschutz durch die Aufhebung einer gesetzlichen Übergangsfrist kurz vor deren Ablauf verletzt. (Seite 544)
BVerfG erklärt diskriminierende Wertgrenze von DM 40,- für den Erwerb einer Armbanduhr im Strafvollzug für verfassungswidrig
Die 3. Kammer des Zweiten Senats beanstandet allerdings nicht, daß der Kauf nicht frei, sondern nur über die Verwaltung der Justizvollzugsanstalt erfolgen kann. (Seite 552)
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Straßburg, verhandelt über Beschwerde des Kurdenführers Öcalan
Der Anwalt des Bf., Sir Sydney Kentridge, argumentiert, die Vollstreckung der Todesstrafe sei nach europäischem Rechtsverständnis per se eine Verletzung von Art. 3 EMRK, also des Verbots unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafen. Darauf, daß die Türkei das 6. Protokoll zur EMRK über die Abschaffung der Todesstrafe nicht ratifiziert hat, komme es nicht mehr an. (Seite 572)