EuGRZ 2012
20. November 2012
39. Jg. Heft 20-21

Informatorische Zusammenfassung

Martin Faix, Olmütz/Prag, kommentiert die „Genesis eines mehrpoligen Justizkonflikts: Das Verfassungsgericht der Tschechischen Republik wertet ein EuGH-Urteil als Ultra-vires-Akt“

«Die tschechischen Verfassungshüter haben mit ihrer Entscheidung Pl. ÚS 5/12 (Holubec) ein Urteil gefällt, das einige als „Revolution“ bezeichnet haben. Leider bezieht sich dies mehr auf das Potenzial des Streits, Fragen von systemischer Relevanz für das Verhältnis der Mitgliedstaaten zur Europäischen Union aufzuwerfen, als auf die Qualität der Entscheidung als solche. Mit dem Urteil gelangte das Verfassungsgericht vor dem Hintergrund einer Verfassungsbeschwerde zur Problematik des Ausgleichs von „slowakischen Renten“ für tschechische Bürger zu dem Schluss, dass die EuGH-Entscheidung in der Sache Landtová einen Ultra-vires-Akt darstellt, der keinerlei Verbindlichkeit auf dem tschechischen Hoheitsgebiet beansprucht. Das Verfassungsgericht versäumte es aber, argumentativ überzeugend darzulegen, welche Kriterien es zur Beurteilung der Kompetenzüberschreitung angewandt hat und warum aufgrund dieser Kriterien die Landtová-Entscheidung als ein Ultra-vires-Akt anzusehen ist. Sollte das Verfassungsgericht mit der Entscheidung im Sinn gehabt haben, die Integrität des nationalen Verfassungsrechts zu wahren bzw. zu stärken, muss trotzdem – und bei allem Respekt vor der Meinung des Verfassungsgerichts – festgehalten werden, dass die kurze, inhaltlich magere und argumentativ auf tönernen Füßen stehende Begründung sowie die scharf formulierten Aussagen bzgl. der Stellung des Verfassungsgerichts gegenüber dem EuGH, diesem Ziel nicht förderlich waren. Auch hat das Verfassungsgericht, inspiriert durch das Bundesverfassungsgericht und andere mitgliedstaatliche Verfassungsgerichte, eine „Durchhaltefähigkeit“ gezeigt, wenn es im Zuge seiner umfangreichen Rechtsprechung zu „slowakischen Renten“ immer wieder versäumte, die sich unzweifelhaft stellenden europarechtlichen Fragen dem EuGH vorzulegen. Schließlich können auch die Ausführungen zu den verfahrensrechtlichen „Defiziten“ des Landtová-Vorabentscheidungsverfahrens nicht anders als verfehlt und weitgehend zwecklos bezeichnet werden.

Betrachtet man das Urteil des tschechischen Verfassungsgerichts als Revolution, dann muss beachtet werden, dass sie noch längst nicht zu Ende ist. Das vom tschechischen Obersten Verwaltungsgericht im Anschluss an die Entscheidung Pl. ÚS 5/12 (Holubec) in einem ähnlichen Fall initiierte Vorabentscheidungsverfahren vor dem EuGH deutet nämlich darauf hin, dass der Ausgang der Konfrontation noch keinesfalls klar ist. Offen bleibt auch, ob sich die Position des tschechischen Verfassungsgerichts in der Zukunft nicht ändert. Im Jahr 2013 laufen nämlich die Mandate von 13 (von insgesamt 15) Richtern des Verfassungsgerichts aus.» (Seite 597)

EuGH-Urteil in der Rs. Landtová und Schlussanträge von Generalanwalt Cruz Villalón s.u. Seiten 643/651.

Christiane Schmaltz, Karlsruhe, richtet den Blick auf: „Die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte – eine Annäherung an Abgabe- und Verweisungspraxis“

«Die Verfahren vor der Großen Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) sind aufwändig. Sie binden die Arbeitskraft von jeweils 20 Richterinnen und Richtern sowie von Beschäftigten der Kanzlei. Es wird regelmäßig mündlich verhandelt, die Urteilsentwürfe werden – häufig mehrfach – beraten und in einem speziellen drafting committee / comité de rédaction wird an Formulierungen gefeilt. Schließlich werden alle Urteile der Großen Kammer in die jeweils andere Amtssprache übersetzt und in öffentlicher Verhandlung verkündet. Ist das, wie Lucius Caflisch es ausdrückte, ein (allzu) „großer Luxus“ für den chronisch überlasteten EGMR in Straßburg?

Seit Inkrafttreten von Protokoll Nr. 11 am 1. November 1998 hat der EGMR mehr als 14.000 Urteile verkündet. Nur 274 davon, also knapp 2 %, hat die Große Kammer des Gerichtshofs gefällt. Urteile nach einer Abgabe gemäß Art. 30 EMRK oder der erstmals durch das Protokoll Nr. 11 geschaffenen Möglichkeit der Verweisung nach Art. 43 EMRK sind es tatsächlich weniger: von 1999 bis 2011 hat in insgesamt (nur) 214 Fällen entweder der Ausschuss von fünf Richtern der Großen Kammer dem Antrag auf Verweisung gemäß Art. 43 Abs. 2 EMRK stattgegeben (112) oder eine Kammer die Sache gemäß Art. 30 EMRK an die Große Kammer abgegeben (102). Bei einem Vergleich dieser Zahlen wird deutlich, dass die Hauptlast des Gerichtshofs auf den Kammern liegt. Folglich sind es in der Praxis auch ihre Entscheidungen, die die Rechtsprechung des EGMR prägen.

Der Großen Kammer kommt dagegen für die Kohärenz, die Kontinuität und die Fortentwicklung der Rechtsprechung Bedeutung zu. Sie ist zwar Folge und Kernstück des politischen Kompromisses bei der Abfassung von Protokoll Nr. 11 zur Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und insofern auch ein Zugeständnis an die Anhänger des zweistufigen Systems; in der Praxis hat sich als Hauptaufgabe der Großen Kammer aber herausgebildet, die Einheitlichkeit der Rechtsprechung des Gerichtshofs sicherzustellen. Diese Einheitlichkeit und Kontinuität der Rechtsprechung ist für die Glaubwürdigkeit und Akzeptanz des EGMR in den Mitgliedstaaten von enormer Bedeutung. Da die Große Kammer Rechtssachen nicht von sich aus an sich ziehen kann, kann sie dieser Aufgabe indes nur gerecht werden, wenn sie insbesondere in Divergenzfällen und schwerwiegenden Fragen der Auslegung der Konvention auch tatsächlich angerufen wird.» (Seite 606)

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Straßburg, enthält sich einer konkreten materiell-rechtlichen Beurteilung der Sterbehilfe, erkennt jedoch auf Verletzung des verfahrensrechtlichen Aspekts von Art. 8 EMRK (Achtung des Privatlebens) / Koch gegen Deutschland

Der EGMR beanstandet die Ablehnung der innerstaatlichen Gerichte, die Klage des Ehemanns (hier der Bf.), die auf die Feststellung gerichtet war, dass die Ablehnung des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte, den Erwerb einer Suizid-geeigneten Substanz für seine querschnittsgelähmte Ehefrau (im Folgenden: B.K.) zu erlauben, rechtswidrig war, (nach deren Selbsttötung in der Schweiz bei Dignitas) auf ihre Begründetheit hin zu prüfen.

Zur Zulässigkeit der Beschwerde führt der EGMR u.a. aus: «In Anbetracht (…) insbesondere der ungewöhnlich engen Bindung zwischen dem Bf. und seiner verstorbenen Ehefrau sowie der Tatsache, dass er bei der Erfüllung ihres Wunsches der Selbsttötung unmittelbar einbezogen war, ist der Gerichtshof der Ansicht, dass der Bf. geltend machen kann, er sei von der Weigerung des Bundesinstituts, den Erwerb einer letalen Dosis Natrium-Pentobarbital zu erlauben, unmittelbar betroffen gewesen.»

Zur Begründetheit heißt es: «Der Gerichtshof wird seine Prüfung im Folgenden mit dem verfahrensrechtlichen Aspekt von Art. 8 beginnen. Der Gerichtshof stellt zunächst fest, dass das Verwaltungsgericht und das Oberverwaltungsgericht es abgelehnt haben, die Klage des Bf. der Sache nach zu prüfen, weil er weder eigene Rechte nach innerstaatlichem Recht oder aus Art. 8 der Konvention geltend machen könne noch befugt sei, die von seiner Ehefrau erhobene Klage nach deren Tod weiterzuverfolgen. Das Verwaltungsgericht Köln hat zwar in einem obiter dictum die Auffassung vertreten, dass die Weigerung des Bundesinstituts rechtmäßig und mit Art. 8 der Konvention vereinbar gewesen ist (…), doch weder das Oberverwaltungsgericht noch das Bundesverfassungsgericht haben die ursprüngliche Klage der Sache nach geprüft.

Der Gerichtshof kommt zu dem Ergebnis, dass die Verwaltungsgerichte – trotz des obiter dictum des erstinstanzlichen Gerichts – es abgelehnt haben, die ursprünglich von B.K. vor den innerstaatlichen Behörden geltend gemachten Klagebegehren der Sache nach zu prüfen.

Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass die Regierung nicht behauptet hat, dass die Weigerung, die Begründetheit der Sache zu prüfen, irgendeinem der gem. Art. 8 Abs. 2 legitimen Ziele entsprochen habe. Auch der Gerichtshof kann nicht erkennen, dass der Eingriff in das Recht des Bf. einem der in diesem Absatz aufgeführten legitimen Ziele entsprochen hätte.

Daraus ergibt sich, dass das Recht des Bf. aus Art. 8, seine Klage der Sache nach von den innerstaatlichen Gerichten prüfen zu lassen, verletzt worden ist. (…)

Angesichts des Grundsatzes der Subsidiarität ist der Gerichtshof der Auffassung, dass es vor allen Dingen Aufgabe der innerstaatlichen Gerichte ist, die Klage des Bf. der Sache nach zu prüfen. Vorstehend hat der Gerichtshof festgestellt (…), dass die innerstaatlichen Behörden verpflichtet waren, diese Prüfung vorzunehmen. Folglich entscheidet der Gerichtshof, sich darauf zu beschränken, im Rahmen der vorliegenden Rüge den verfahrensrechtlichen Aspekt von Art. 8 der Konvention zu prüfen.

Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass die Ablehnung der innerstaatlichen Gerichte, die Klage des Bf. der Sache nach zu prüfen, eine Verletzung seines Rechts gem. Art. 8 der Konvention geschützten Rechts auf Achtung seines Privatlebens darstellt.» (Seite 616)

Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH), Luxemburg, verhindert Unterlaufen des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens durch den Rat und erklärt den Beschluss 2010/252/EU zur Ergänzung des Schengener Grenzkodex betr. Überwachung der Seeaußengrenzen (Frontex) für nichtig / Rs. EP gegen Rat

«Nach ständiger Rechtsprechung ist der Erlass der wesentlichen Vorschriften der zu regelnden Materie der Zuständigkeit des Unionsgesetzgebers vorbehalten (…). Die wesentlichen Bestimmungen einer Materie sind in der Grundregelung zu erlassen und können nicht Gegenstand einer Übertragung von Durchführungsbefugnissen sein (…).

Damit können Gegenstand einer solchen Befugnisübertragung nicht Bestimmungen sein, deren Erlass politische Entscheidungen erfordert, die in die eigene Zuständigkeit des Unionsgesetzgebers fallen.

Folglich können Durchführungsvorschriften weder die wesentlichen Bestandteile einer Grundregelung ändern noch diese durch neue wesentliche Bestandteile ergänzen.

Die Frage, welche Bestandteile einer Materie als wesentliche einzustufen sind, liegt, anders als der Rat und die Kommission vorgetragen haben, nicht in der alleinigen Beurteilung durch den Unionsgesetzgeber, sondern muss sich nach objektiven Gesichtspunkten richten, die Gegenstand einer gerichtlichen Kontrolle sein können. (…)

Selbst wenn schließlich der angefochtene Beschluss auch Vorschriften über praktische Modalitäten der Ausübung der Grenzkontrolle enthält, ist dennoch festzustellen, dass die Gesamtheit der in den Teilen I und II des Anhangs des angefochtenen Beschlusses enthaltenen Bestimmungen dadurch miteinander verknüpft sind, dass sie sich auf den Ablauf entweder eines Überwachungseinsatzes oder eines Rettungseinsatzes beziehen.

Unter diesen Umständen ist der angefochtene Beschluss insgesamt für nichtig zu erklären, da er wesentliche Bestandteile der Überwachung der Seeaußengrenzen der Mitgliedstaaten enthält, die über zusätzliche Modalitäten im Sinne von Art. 12 Abs. 5 SGK hinausgehen, und da allein der Unionsgesetzgeber einen solchen Beschluss hätte erlassen dürfen.» (Seite 625)

EuGH beanstandet diskriminierende Anwendung der Ablehnungsgründe der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls nach Art. 4 Nr. 6 Rahmenbeschluss 2002/584/JI ausschließlich zugunsten eigener (hier: französischer) Staatsangehöriger / Rs. Lopes Da Silva Jorge

Der Antragsteller im Ausgangsverfahren vor dem Appellationsgericht Amiens ist Portugiese und wurde 2003 in Lissabon wegen Drogenhandels zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt. Danach ließ er sich in Frankreich nieder, heiratete eine Französin und ist bei einer französischen Firma als Kraftfahrer im Nahverkehr beschäftigt. Er begehrt, die französischen Behörden mögen die Vollstreckung des gegen ihn vom Stadtgericht Lissabon erlassenen Europäischen Haftbefehls verweigern, so dass er die Freiheitsstrafe in Frankreich in der Nähe seiner Wohnortes verbüßen könne. Seine Überstellung nach Portugal wäre ein Eingriff in sein Privat- und Familienleben und würde demzufolge Art. 8 EMRK verletzen.

Zur Wirksamkeit des Rahmenbeschlusses führt der EuGH aus: «Nach der Rechtsprechung haben Rahmenbeschlüsse gemäß Art. 34 Abs. 2 Buchst. b EU zwar keine unmittelbare Wirkung, doch hat ihr zwingender Charakter für die nationalen Behörden und insbesondere auch die nationalen Gerichte eine Verpflichtung zu rahmenbeschlusskonformer Auslegung des nationalen Rechts zur Folge (…).

Allerdings unterliegt der Grundsatz der unionsrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts bestimmten Schranken. So findet die Verpflichtung des nationalen Richters, bei der Auslegung und Anwendung der einschlägigen Vorschriften des innerstaatlichen Rechts den Inhalt eines Rahmenbeschlusses heranzuziehen, in den allgemeinen Rechtsgrundsätzen ihre Schranken und darf nicht als Grundlage für eine Auslegung contra legem des nationalen Rechts dienen.» (Seite 632)

EuGH präzisiert „Religion“ als Verfolgungsgrund und den Begriff der „Verfolgungshandlung“ i.S.d. RL 2004/83/EG über Mindestnormen für die Anerkennung als Flüchtling / Rs. Y und Z

«Den Vorlageentscheidungen ist zu entnehmen, dass nach Sec. 298 C des pakistanischen Strafgesetzbuchs Angehörige der Ahmadiyya-Gemeinschaft mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft werden, wenn sie den Anspruch erheben, Muslime zu sein, ihren Glauben als Islam bezeichnen, ihn predigen oder propagieren oder andere auffordern, ihren Glauben anzunehmen. Nach Sec. 295 C des Strafgesetzbuchs wird zudem mit dem Tode oder lebenslanger Freiheitsstrafe und Geldstrafe bestraft, wer den Namen des Propheten Mohammed verunglimpft.»

Der EuGH kommt u.a. zu folgendem Ergebnis: «Art. 2 Buchst. c der Richtlinie 2004/83 ist dahin auszulegen, dass eine begründete Furcht des Antragstellers vor Verfolgung vorliegt, sobald nach Auffassung der zuständigen Behörden im Hinblick auf die persönlichen Umstände des Antragstellers vernünftigerweise anzunehmen ist, dass er nach Rückkehr in sein Herkunftsland religiöse Betätigungen vornehmen wird, die ihn der tatsächlichen Gefahr einer Verfolgung aussetzen. Bei der individuellen Prüfung eines Antrags auf Anerkennung als Flüchtling können die Behörden dem Antragsteller nicht zumuten, auf diese religiösen Betätigungen zu verzichten.» (Seite 638)

EuGH zum Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit und des Wohnortes bei der Berechnung der Altersrente / Rs. Landtová

Der Rechtsstreit des Ausgangsverfahrens steht im Zusammenhang mit der 1992 erfolgten Teilung der CSFR und der damit verbundenen unterschiedlichen wirtschaftlichen Entwicklung in der Tschechischen und in der Slowakischen Republik und in den sozialversicherungsrechtlichen Konsequenzen, die zum Ausgleich finanzieller Nachteile für tschechische Bürger eingeführt wurden.

Der EuGH stellt u.a. fest: «Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 10 der Verordnung Nr. 1408/71 in der durch die Verordnung Nr. 118/97 geänderten und aktualisierten Fassung, geändert durch die Verordnung Nr. 629/2006, steht einer innerstaatlichen Regel wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegen, wonach eine Zulage zur Leistung bei Alter nur tschechischen Staatsangehörigen mit Wohnsitz in der Tschechischen Republik gezahlt werden kann, was aus der Sicht des Unionsrechts nicht zwangsläufig zur Folge hat, dass einer Person, die diese beiden Voraussetzungen erfüllt, diese Zulage zu entziehen ist.»

Schlussanträge des Generalanwalts Cruz Villalón und Urteil des Gerichtshofs (Seiten 643, 651)

Zum vorstehenden Urteil siehe eingehend den Aufsatz von Martin Faix, Genesis eines mehrpoligen Justizkonflikts: Das Verfassungsgericht der Tschechischen Republik wertet ein EuGH-Urteil als Ultra-vires-Akt, EuGRZ 2012, 597 (in diesem Heft).

Schweizerisches Bundesgericht (BGer), Lausanne, bekräftigt den Grundsatz der Justizöffentlichkeit und würdigt die Einsichtnahme durch Journalisten in die weitgehend nicht anonymisierte staatsanwaltliche Verfügung der Einstellung eines Strafverfahrens wegen Korruptionsverdachts gegen den Weltfussballverband FIFA

«Es ist offensichtlich, dass mit dem Grundsatz der Entscheidöffentlichkeit und der Gewährleistung der Einsicht in die Einstellungsverfügung die Persönlichkeitsrechte der Beschwerdeführer tangiert werden. Die Einstellungsverfügung enthält insbesondere Informationen über das Umfeld der FIFA, über die persönlichen und finanziellen Verhältnisse der Beschwerdeführer B2 und B3 sowie über das Ermittlungsergebnis und dessen rechtliche Qualifikation durch die Staatsanwaltschaft. Die Staatsanwaltschaft und die Vorinstanz haben aufgezeigt, dass die privaten Interessen am Persönlichkeitsschutz der Beschwerdeführer hinreichend geschützt sind, insbesondere durch die Möglichkeit der gerichtlichen Anfechtung von ungerechtfertigten Medienberichten (Art. 28 ff. ZGB) und durch den strengen Berufskodex für Journalisten in der Schweiz. Ausserdem werden die Wohnadressen von B2 und B3 in der Einstellungsverfügung abgedeckt. Damit kann jedenfalls nicht von einer unverhältnismässigen Prangerwirkung gesprochen werden. Schliesslich hat die Vorinstanz auch den Umstand gewürdigt, dass die in der Einstellungsverfügung behandelten Sachverhalte teilweise vor mehr als zehn Jahren stattgefunden haben. Das Interesse an der FIFA bzw. ihren Funktionären und den sich hartnäckig haltenden Gerüchten um angebliche Schmiergeldzahlungen erscheint nach wie vor aktuell. So besteht angesichts der verschiedenen in der Öffentlichkeit erhobenen Anschuldigungen weiterhin ein öffentliches Interesse daran zu wissen, wer Provisionszahlungen erhalten hat und in welcher Beziehung diese Personen zur FIFA stehen. Eine Offenlegung der Vermögensverhältnisse von B2 und B3 ist sodann Voraussetzung dafür, dass die geleistete Wiedergutmachung nachvollzogen werden kann. Die privaten Geheimhaltungsinteressen der Beschwerdeführer vermögen somit insgesamt den schutzwürdigen Informationsanspruch der Beschwerdegegner nicht aufzuwiegen.» (Seite 655)

Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, erklärt Ausschluss ausländischer Staatsangehöriger mit humanitären Aufenthaltstiteln vom Bundeserziehungsgeld und vom Bundeselterngeld für verfassungswidrig

Die vom Bundessozialgericht vorgelegten gesetzlichen Bestimmungen (§ 1 Abs. 6 Nr. 3 Buchstabe b Bundeserziehungsgeldgesetz und § 1 Abs. 7 Nr. 3 Buchstabe b Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz) verstoßen gegen den Gleichheitsgrundsatz (Art. 3 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG) und sind nichtig. (Seite 658)

BVerfG nimmt Verfassungsbeschwerde wegen der langen Dauer eines erstinstanzlichen sozialgerichtlichen Verfahrens (5 Jahre) mangels Rechtsschutzbedürfnis nicht zur Entscheidung an und weist auf die Möglichkeiten des Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren hin

«Der Annahme einer Wiederholungsgefahr, die ein fortbestehendes Rechtsschutzbedürfnis für das Verfassungsbeschwerdeverfahren begründen könnte, steht jedoch mittlerweile das am 3. Dezember 2011 in Kraft getretene Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren vom 24. November 2011 (BGBl I S. 2302) entgegen. Aufgrund dieses Gesetzes stehen auch im sozialgerichtlichen Verfahren fachgerichtliche Rechtsbehelfe gegen überlange Gerichtsverfahren zur Verfügung (§ 202 Satz 2 SGG in Verbindung mit §§ 198 ff. Gerichtsverfassungsgesetz), die den Fortbestand einer für das Verfassungsbeschwerdeverfahren relevanten Wiederholungsgefahr ausschließen.» (Seite 666)

Europäisches Parlament (EP), Straßburg, plädiert für eine verstärkte Beteiligung der nationalen Parlamente im europäischen Rechtsetzungsprozess und eine bessere Beachtung der Grundsätze von Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit

Das EP fordert u.a. eine unabhängige Analyse, in welcher die Rolle regionaler und lokaler Parlamente im Bereich der Subsidiaritätskontrolle geprüft werden sollte; es nimmt mit Besorgnis zur Kenntnis, dass einzelstaatliche Parlamente in einigen Stellungnahmen zu einer Reihe von Vorschlägen der Kommission unzulängliche oder fehlende Begründungen in Bezug auf den Grundsatz der Subsidiarität unterstrichen haben. (Seite 668)

EGMR – zehn neue Richter im Jahr 2012 für eine neunjährige Amtszeit gewählt: Paul Lemmens (Belgier), Helena Jäderblom (Schwedin), Paul John Mahoney (Brite), Ale Pejchal (Tscheche), Johannes Silvis (Niederländer), Krzysztof Wojtyczek (Pole), Valeriu Grit|,co (Moldawe), Faris Vehabovic|' (aus BiH), Ksenija Turkovic|' (Kroatin), Dmitry Dedov (Russe). (Seite 670)

EuGH-Präsident Vassilios Skouris (Grieche) für eine vierte Amtszeit (drei Jahre) bestätigt; Vize-Präsident Koen Lenaerts (Belgier) ist der erste Richter, der dieses neu geschaffene Amt bekleidet (drei Jahre). (Seite 672)

EuGH-Generalanwalt Yves Bot erklärt in seinen Schlussanträgen in der Rs. Melloni (2. Oktober 2012, C-399/11), die missbräuchliche Berufung auf Verfahrensgrundrechte dürfe die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls nicht verhindern. Es geht darum, ob ein in Italien wegen betrügerischen Konkurses in Abwesenheit zu zehn Jahren Haft verurteilter Straftäter, der in Spanien untergetaucht war, sich seiner &219;berstellung nach Italien zur Strafverbüßung u.a. mit dem Argument widersetzen kann, er sei in der Hauptverhandlung nicht anwesend gewesen. Dies, obwohl er vom Termin der Hauptverhandlung Kenntnis hatte und durch zwei Anwälte seines Vertrauens vertreten war. (Seite 672)