EuGRZ 2012
21. Dezember 2012
39. Jg. Heft 22-23

Informatorische Zusammenfassung

Christian Tomuschat, Berlin, unterzieht den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) zu seinem zehnjährigen Bestehen einer kritischen Würdigung
«Allen Zweifeln über die Sachgerechtigkeit von Strafverfolgung zuwider verkörpert der IStGH die Grundüberzeugung, dass schwere Verstöße gegen Frieden und elementare Menschenrechte nach Sanktionen in der Form herkömmlicher Strafen verlangen. Kritiker mögen diese Prämisse in Frage stellen. Tatsache aber ist, dass die internationale Gemeinschaft sich fast im Konsens auf jenen Standpunkt geeinigt hat.»
Nach einem einleitenden Überblick über die historische Entwicklung von den Kriegsverbrecherprozessen von Nürnberg und Tokio bis hin zu den internationalen Strafgerichtshöfen für das ehemalige Jugoslawien und für Ruanda behandelt der Autor die Grunddaten des IStGH: «Der Internationale Strafgerichtshof hat die Aufgabe, nach einem bestimmten Verfahren vier Arten von Verbrechen zu ahnden, nämlich Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und auch Aggression (Statut, Art. 5). Allerdings ist der bloße Merkposten „Aggression“ in der ursprünglichen Fassung des Römischen Statuts erst vor kurzem durch eine Vertragsänderung aktiviert worden, die noch der notwendigen Anzahl von Ratifikationen bedarf, um in Kraft treten zu können. Es geht also nicht um Diebstahl und Betrug, auch nicht um internationale Bandenkriminalität, vielmehr haben alle vier Verbrechensarten einen politischen Hintergrund. Als Generalnenner ist der Begriff „Regierungskriminalität“ nicht unzutreffend.»
Die Bilanz der ersten zehn Jahre enthält zunächst allgemeine Erwägungen und richtet sich sodann auf die Schwachpunkte bei der Auswahl des Personals, dem Verfahren der Befassung, dem Vorverfahren, der Beteiligung der Opfer und beim Treuhandfonds für die Opfer.
Tomuschat gelangt u.a. zu folgendem Schluss: «Hervorgehoben wurden in den vorangegangenen Bemerkungen insbesondere die Schwächen des Internationalen Strafgerichtshofs. Dennoch handelt es sich hier nicht um ein Plädoyer für die Abschaffung dieser Instanz. Langfristig betrachtet war die Schaffung des Gerichtshofs ein weiterer Schritt hin zu einer Weltverfassung, die ein Zusammenleben der Menschheit in Frieden und Sicherheit ermöglicht. Zu den Kernbestandteilen eines solchen Ordnungssystems gehört unabdingbar auch ein Mechanismus, der die individuelle Verantwortlichkeit der Urheber schwerer Straftaten gegen den Weltfrieden und die international verbürgten Menschenrechte garantiert. Die Gerichtshöfe von Nürnberg und Tokio waren eben nicht nur Eintagsfliegen, Produkte einer willkürlichen Siegerjustiz, sondern entsprangen einem tief sitzenden Bedürfnis nach Sühne für Verbrechen, wie sie die Welt im 20. Jahrhundert bis dahin nicht gesehen hatte.
Es steht also keineswegs zur Debatte, das Vorhaben sang- und klanglos aufzugeben. Vielmehr geht es darum, den Internationalen Strafgerichtshof zu einem wahrhaft schlagkräftigen Instrumentarium umzubilden und fortzuentwickeln. Alle aufgetretenen Probleme sollten daher nach der ersten zehnjährigen Anlaufphase schonungslos aufgedeckt und analysiert werden. Auch über Alternativmodelle sollte nachgedacht werden. Freilich ist dabei zu bedenken, dass eine grundlegende Reform des Römischen Statuts kaum denkbar ist. Man sollte nicht glauben, dass es möglich sein könnte, noch einmal einen ähnlich mutigen Kraftakt zu vollbringen wie auf der Konferenz von Rom im Sommer 1998. Der Erfolg der damaligen Konferenz war ein einmaliger Glücksfall. Mittlerweile ist in der Staatengemeinschaft wieder ein weit höheres Maß an Uneinigkeit eingezogen, als es damals bestand.
Lösungen müssen also vor allem durch eine Überprüfung der Verfahrensregeln gesucht werden, auch durch eine Praxis, welche die Spielräume der Verfahrens- und Beweisordnung flexibel ausnutzt.» (Seite 673)

Karina Theurer, Berlin, untersucht die neuere Rechtsprechung des Inter-Amerikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte, nach der auch durch Referenden bestätigte Amnestiegesetze in Fällen gewaltsamen Verschwindenlassens mit der AMRK unvereinbar sind
Im Vordergrund steht das Urteil in der Sache Gelman gegen Uruguay und seine Wurzeln: «Mit seinen Ausführungen zum gewaltsamen Verschwindenlassen von schwangeren Frauen und zum Wegnehmen ihrer in der Haft geborenen Kinder trägt der Inter-Amerikanische Gerichtshof für Menschenrechte in seinem Urteil Gelman vs. Uruguay zur Aufarbeitung dieser während der Militärdiktaturen begangenen Menschenrechtsverletzungen bei. Der Gerichtshof betont die gegenwärtigen staatlichen Pflichten zur Durchführung von effektiven Ermittlungen ex officio und zur strafrechtlichen Verfolgung und macht erneut deutlich, dass nationale Amnestien in Fällen gewaltsamen Verschwindenlassens nicht gültig sind. Dies gelte selbst dann, wenn nationale Amnestiegesetze – wie im Fall des uruguayischen Präklusionsgesetzes – durch Referenden nach dem Übergang zur Demokratie bestätigt wurden. Der Schutz bestimmter Menschenrechte sei eine Sphäre, die einer demokratischen Mehrheitsentscheidung nicht mehr zugänglich sei. Insofern bestehe eine absolute Schrankenwirkung. In dieser Hinsicht und auch angesichts der vielfältigen Bezugnahmen des Gerichtshofs auf völkerrechtliche Instrumente, auf die Rechtsprechung anderer internationaler Gerichte und auf einen sich herauskristallisierenden corpus an ius cogens ist das Urteil über das Inter-Amerikanische Menschenrechtssystem hinaus für den Grund- und Menschenrechtsschutz weltweit von Bedeutung. Was Vorwürfe der Kompetenzüberschreitung durch den IAGMR durch eine zu extensive Auslegung der Konvention anbelangt, so bleibt abzuwarten, inwiefern sich seine Urteile in ihren rechtsfortbildenden Aspekten inhaltlich in den politischen und sozialen Kontext der Region im Wechselspiel mit den politischen Akteuren einfügen oder ob sie langfristig als „Fremdkörper“ empfunden werden.
Von Interesse für den innereuropäischen Raum und eingedenk der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Verhältnis der Gerichte zueinander ist die vom IAGMR entwickelte und seither in ständiger Rechtsprechung eingeforderte Pflicht der Gerichte der Vertragsstaaten der AMRK zur Kontrolle der Konventionskonformität.» (Seite 682)

Eva Julia Lohse, Erlangen, deutet die Rechtsprechung des EuGH zum Aufenthaltsrecht Drittstaatsangehöriger als auf dem Weg zur Achtung der Kompetenzverteilung bei der Gewährleistung von Grundrechten
Die folgenden Urteile des EuGH werden näher analysiert: Carpenter, Zhu/Chen, Ruiz Zambrano, Metock, McCarthy, Dereci und Iida.
Die Autorin stellt zunächst fest: «Art. 8 EMRK ebenso wie Art. 7 GR-Charta der EU schützen das Recht des Einzelnen auf Achtung seines Familienlebens. Die Grundrechtecharta bezieht zusätzlich auch noch positiv Stellung zum Familienleben in Art. 9 (Recht, eine Ehe einzugehen und eine Familie zu gründen) und in Art. 24 Abs. 2 und 3 (zum Kindeswohl und regelmäßigen Kontakt des Kindes zu beiden Elternteilen). Was aber geschieht, wenn die Familie aus Unionsbürgern und Drittstaatsangehörigen besteht, die Drittstaatsangehörigen aber nach dem jeweiligen nationalen Recht keine Aufenthaltsgenehmigung erlangen können und deshalb aus der EU oder jedenfalls aus dem Mitgliedstaat, in dem die Familie lebt, ausgewiesen werden sollen?
In diesem Fall kollidieren menschenrechtliche Gewährleistungsgehalte, unionsrechtlich verbürgte Freizügigkeitsrechte und nationalstaatliche Interessen an der Regelung des Aufenthaltsrechts für Ausländer. Auch wenn die Union durch Art. 77 und 79 AEUV eine weitgehende Kompetenz zur Regelung dieser Materie hat, hat eine solche bisher erst punktuell, vorrangig in den Richtlinien 2004/38/EG und 2003/86/EG, stattgefunden und erfasst deshalb nicht alle denkbaren Konstellationen solcher gemischtstaatlichen Familien.»
Das Fazit: «Nach dem derzeitigen Stand ist davon auszugehen, dass die Unionsgrundrechte nicht zum Kern der Unionsbürgerschaft zählen. Dies mutet zwar auf den ersten Blick aus einer staats- bzw. bürgerrechtlichen Perspektive seltsam an. Es ist hingegen im Kompetenzgefüge von EU, EU-Mitgliedstaaten und EMRK die sich unmittelbar aus dem Zusammenspiel der Normen ergebende Lösung. Führt diese allerdings in letzter Konsequenz dazu, dass der Unionsbürger das Territorium der EU faktisch verlassen muss, um sein Recht auf Familie wahrzunehmen, bleibt es bei dem unauflöslichen Widerspruch, dass spätestens dann der Genuss des Kerns der Unionsbürgerschaft beeinträchtigt wird. Warum dennoch allein der Schutz vor de facto Beeinträchtigungen der Unionsbürgerschaft wie in Ruiz Zambrano umfasst sein soll und im Gegensatz dazu ein Verhalten im faktischen Schutzbereich des Familienlebens ungeschützt bleibt, selbst wenn es die Familie wie in Dereci oder McCarthy zum Verlassen der Union zwingt, ist vorerst das Geheimnis des EuGH.
Es lässt sich nur mutmaßen, dass er mit der Aufrechterhaltung dieses Widerspruchs die Mitgliedstaaten zum Handeln als Unionsgesetzgeber und zur Übernahme der damit verbundenen Verantwortung durch eine sekundärrechtliche Lösung des Problems zwingen und den Grundrechtsschutz ansonsten den zuständigen Gerichten im europäischen Grundrechteverbund überlassen will.» (Seite 693)

Inter-Amerikanischer Gerichtshof für Menschenrechte (IAGMR), San José/Costa Rica, befasst sich zum ersten Mal mit dem gewaltsamen Wegnehmen von in Geheimgefängnissen geborenen Kindern und entscheidet, dass Amnestiegesetze in Bezug auf gewaltsames Verschwindenlassen trotz Annahme durch Referenden gegen die AMRK verstoßen / Gelman gegen Uruguay
«Aufgrund der Art und Weise wie María Claudia García [Gelman] ihrer Freiheit im fortgeschrittenen Stadium einer Schwangerschaft beraubt, in Buenos Aires durch argentinische und wahrscheinlich uruguayische Staatsbedienstete in einem allgemeinen Umfeld illegaler Inhaftierungen in Geheimgefängnissen (Automotores Orletti und das SID) entführt und zu einem späteren Zeitpunkt im Rahmen der Operation Condor nach Montevideo verbracht wurde, war ihr Freiheitsentzug offensichtlich illegal, stellte einen Verstoß gegen Art. 7 Abs. 1 der Konvention dar und muss verstanden werden als Ausgangspunkt der komplexen Verletzung von Rechten, die das gewaltsame Verschwindenlassen impliziert. Es stellte zudem eine eindeutige Verletzung der staatlichen Pflicht dar, die Personen, denen die Freiheit entzogen wird, in offiziell anerkannten Haftanstalten zu inhaftieren und sie unverzüglich dem zuständigen Richter vorzuführen. (…)
Zudem stand sie im Anschluss an ihre Verhaftung unter der Kontrolle repressiver Staatsangestellter, die ohne dafür bestraft zu werden, folterten, töteten und Personen gewaltsam verschwinden ließen, was für sich allein genommen eine Verletzung der Pflicht bedeutet, Verletzungen der Rechte auf menschenwürdige Behandlung und auf Leben, die in Art. 5 und 4 der Konvention geschützt sind, zu verhindern, wobei dies unter der Prämisse steht, dass das Vorliegen von Folter oder die Tötung im konkreten Fall nicht bewiesen werden kann.
Obwohl es keine verlässlichen Informationen darüber gibt, was mit María Claudia García geschehen ist, nachdem man ihr ihre Tochter weggenommen hatte, so beinhaltete die Praxis des gewaltsamen Verschwindenlassens häufig die geheime Tötung der Inhaftierten ohne Einbeziehung eines Gerichts und gefolgt vom Verschwindenlassen der Leiche, um alle Spuren des Verbrechens zu beseitigen und die Straflosigkeit derer zu gewährleisten, die die Verbrechen begingen, was eine brutale Verletzung des Rechts auf Leben darstellt, das in Art. 4 der Konvention geschützt ist.»
Der IAGMR verurteilt Uruguay. Der Tenor seines Urteils umfasst 18 Punkte. (Seite 702)
Ausführlich zum vorstehenden Urteil, seinem Kontext in der Rechtsprechung des IAGMR und den möglichen Konsequenzen cf. Karina Theurer in diesem Heft S. 682.

Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH), Luxemburg, erklärt den Vertrag der Euro-Staaten über den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) für mit dem Unionsrecht vereinbar und billigt den Beschluss des Europäischen Rates zur Änderung des Art. 136 AEUV im vereinfachten Verfahren / Rs. Pringle
Das Urteil ergeht auf Vorlage des irischen Supreme Court, vor dem der Partei-unabhängige Parlamentsabgeordnete Thomas Pringle aus dem Wahlkreis Donegal South-West, an der Grenze zu Nord-Irland (GB), mit einer Klage die Regierung an der Ratifizierung des ESM-Vertrages hindern will.
Wegen der besonderen Bedeutung des Verfahrens hat der Präsident des EuGH, Vassilios Skouris, entschieden, den Gerichtshof ausnahmsweise als Plenum (alle 27 Richter) entscheiden zu lassen. Da die Vorlage auf Antrag des irischen Supreme Court im beschleunigten Verfahren behandelt wurde, hat Generalanwältin Juliane Kokott keine Schlussanträge in der sonst üblichen Form vorgetragen, sondern eine Stellungnahme abgegeben, die erst zusammen mit dem Urteil veröffentlicht wurde. Darin war sie zu demselben Ergebnis gekommen wie anschließend das Plenum des Gerichtshofs. Die EuGRZ druckt die Stellungnahme der GAin im vollen Wortlaut ab und stellt sie – im Sinne der Verfahrenschronologie – dem Urteil voran. (Seite 717)

Der Tenor des Urteils lautet: «1. Die Prüfung der ersten Frage hat nichts ergeben, was die Gültigkeit des Beschlusses 2011/199/EU des Europäischen Rates vom 25. März 2011 zur Änderung des Artikels 136 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union hinsichtlich eines Stabilitätsmechanismus für die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist, berühren könnte.
2. Die Art. 4 Abs. 3 EUV, 13 EUV, 2 Abs. 3 AEUV, 3 Abs. 1 Buchst. c und Abs. 2 AEUV, 119 AEUV bis 123 AEUV und 125 AEUV bis 127 AEUV sowie der allgemeine Grundsatz eines effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes stehen dem nicht entgegen, dass die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist, eine Übereinkunft wie den am 2. Februar 2012 in Brüssel geschlossenen Vertrag zur Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus zwischen dem Königreich Belgien, der Bundesrepublik Deutschland, der Republik Estland, Irland, der Hellenischen Republik, dem Königreich Spanien, der Französischen Republik, der Italienischen Republik, der Republik Zypern, dem Großherzogtum Luxemburg, Malta, dem Königreich der Niederlande, der Republik Österreich, der Portugiesischen Republik, der Republik Slowenien, der Slowakischen Republik und der Republik Finnland abschließen und ratifizieren.
3. Das Recht eines Mitgliedstaats, den genannten Vertrag abzuschließen und zu ratifizieren, hängt nicht vom Inkrafttreten des Beschlusses 2011/199 ab.»
In der Begründung heißt es zur „Nichtbeistandsklausel“ in Art. 125 AEUV u.a.: «Um zu klären, welche Formen der finanziellen Unterstützung mit Art. 125 AEUV vereinbar sind, ist daher auf den Zweck dieses Artikels abzustellen.
Dabei ist darauf hinzuweisen, dass das Verbot in Art. 125 AEUV auf Art. 104b EG-Vertrag (später Art. 103 EG) zurückgeht, der durch den Vertrag von Maastricht in den EG-Vertrag eingefügt wurde.
Wie der Entstehungsgeschichte des Vertrags von Maastricht zu entnehmen ist, soll Art. 125 AEUV sicherstellen, dass die Mitgliedstaaten auf eine solide Haushaltspolitik achten (…). Das Verbot in Art. 125 AEUV gewährleistet, dass die Mitgliedstaaten bei ihrer Verschuldung der Marktlogik unterworfen bleiben, was ihnen einen Anreiz geben soll, Haushaltsdisziplin zu wahren. Die Einhaltung einer solchen Disziplin trägt auf Unionsebene zur Verwirklichung eines übergeordneten Ziels bei, und zwar dem der Aufrechterhaltung der finanziellen Stabilität der Unionswährung. (…)
Dagegen verbietet es Art. 125 AEUV nicht, dass ein oder mehrere Mitgliedstaaten einem Mitgliedstaat, der für seine eigenen Verbindlichkeiten gegenüber seinen Gläubigern haftbar bleibt, eine Finanzhilfe gewähren, vorausgesetzt, die daran geknüpften Auflagen sind geeignet, ihm einen Anreiz für eine solide Haushaltspolitik zu bieten. (…)
Wie sich aus den Randnrn. 111 und 121 des vorliegenden Urteils ergibt, sollen die strengen Auflagen, denen jede vom ESM bereitgestellte Stabilitätshilfe unterliegt, sicherstellen, dass der ESM und die Empfängermitgliedstaaten die von der Union, insbesondere im Bereich der Koordinierung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten, getroffenen Maßnahmen beachten, die ihrerseits u.a. gewährleisten sollen, dass die Mitgliedstaaten eine solide Haushaltspolitik verfolgen. (…)
Daher haften ein Mechanismus wie der ESM und die daran teilnehmenden Mitgliedstaaten nicht für die Verbindlichkeiten des Empfängermitgliedstaats einer Stabilitätshilfe und treten auch nicht im Sinne von Art. 125 AEUV für sie ein.
Folglich steht Art. 125 AEUV weder dem Abschluss noch der Ratifikation einer Übereinkunft wie des ESM-Vertrags durch die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist, entgegen.» (Seite 732)

EuGH zu den Voraussetzungen für ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht für Drittstaatsangehörige / Rs. Iida
«In Fällen, die nicht durch die Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, (…) geregelt sind und in denen auch kein anderer Anknüpfungspunkt an die Bestimmungen des Unionsrechts über die Unionsbürgerschaft gegeben ist, kann ein Drittstaatsangehöriger kein von einem Unionsbürger abgeleitetes Aufenthaltsrecht beanspruchen.» (Seite 745)

Zur einschlägigen Rechtsprechung (Sachverhalte und Rechtsfragen) des EuGH im Hinblick auf ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht cf. Eva Julia Lohse, in diesem Heft Seite 693.

EuGH sieht in der rigorosen Herabsetzung der Altersgrenze für Richter, Staatsanwälte und Notare in Ungarn von 70 auf 62 Jahre eine Vertragsverletzung (RL 2000/78/EG, Diskriminierung wegen des Alters) / Rs. Kommission gegen Ungarn
«Die in Rede stehende Regelung nahm eine plötzliche und erhebliche Senkung der Altersgrenze für das zwingende Ausscheiden aus dem Dienst vor, ohne Übergangsmaßnahmen vorzusehen, die geeignet gewesen wären, das berechtigte Vertrauen der Betroffenen zu schützen. (…)
Unter diesen Bedingungen verlassen die Betroffenen automatisch und endgültig den Arbeitsmarkt, ohne Zeit zu haben, die Maßnahmen insbesondere wirtschaftlicher und finanzieller Art, die eine solche Situation erforderlich macht, unter Berücksichtigung des Umstands ergreifen zu können, dass zum einen ihr Ruhegehalt, wie in der mündlichen Verhandlung erläutert worden ist, um mindestens 30 % niedriger als ihre Dienstbezüge ist und zum anderen die Einstellung der Tätigkeit nicht den Beitragszeiten Rechnung trägt, so dass kein Anspruch auf ein Ruhegehalt zum vollen Satz gewährleistet ist.» (Seite 752)

Schweizerisches Bundesgericht (BGer), Lausanne, qualifiziert das Aushängen von Plakaten auch zu brisanten aussenpolitischen Themen in Bahnhöfen der Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) als von der Meinungsäusserungsfreiheit geschützt
Das von der SBB am Bahnhof Zürich zurückgewiesene Plakat zur israelischen Siedlungspolitik ist nicht zu beanstanden. In den Erwägungen heißt es:
«Dass einige Passanten – wie die verschiedenen von der Beschwerdeführerin angeführten Online-Kommentare (NZZ und Tagesschau) belegen – die Aussage des strittigen Plakats (teilweise heftig) nicht teilen, berechtigt nicht, ideelle, unter dem Schutz der Meinungsäusserungsfreiheit stehende Aussagen vom Bahnhofsareal zu verbannen. Insbesondere besteht auch kein Anlass zur Annahme, dass Grundrechte Dritter gefährdet würden. Im Übrigen geht die Beschwerdeführerin auch nicht davon aus, dass ein in einer am Bahnhof erhältlichen Tageszeitung geschaltetes Inserat nämlichen Inhalts die Zugpassagiere zu Gewalt animieren würde. Unbeachtlich ist schliesslich, dass das Plakat israelkritisch ist; die Beschwerdeführerin wäre unter den aufgeführten Voraussetzungen auch verpflichtet, einen palästinakritischen Aushang zuzulassen.
Der Möglichkeit, dass Plakate abgerissen bzw. verschmiert oder Sachen demoliert würden oder gewalttätige Auseinandersetzungen zu befürchten wären, ist mit geeigneten Massnahmen, wie etwa einer erhöhten Präsenz der Bahnpolizei, gebührend Rechnung zu tragen.» (Seite 758)

Österreichischer Verfassungsgerichtshof (VfGH), Wien, hebt absolutes Bettelverbot (§ 29 Salzburger Landessicherheitsgesetz, S-LSG) als verfassungswidrig auf
Das Verbot verstößt gegen den Gleichheitssatz und gegen Art. 10 EMRK. Hierzu führt der VfGH aus:
«§ 29 Abs. 1 S-LSG verbietet (…) an öffentlichen Orten von fremden Personen finanzielle Zuwendungen zu erbitten. Damit untersagt es diese Bestimmung jedermann ausnahmslos, an öffentlichen Orten andere Menschen auf seine individuelle Notlage aufmerksam zu machen (etwa indem der Bettler auf der Straße steht oder sitzt und mittels eines Schildes an die Hilfsbereitschaft vorübergehender Passanten appelliert) oder sie in unaufdringlicher und nicht aggressiver Weise verbal um Hilfe zu bitten. Auch ein solcher Appell an die Solidarität und finanzielle Hilfsbereitschaft anderer ist, wie sich aus den obigen Ausführungen ergibt, von der Kommunikationsfreiheit des Art. 10 Abs. 1 EMRK geschützt. Eine gesetzliche Bestimmung, die auch solches verbietet, greift in die durch Art. 10 Abs. 1 EMRK geschützte Kommunikationsfreiheit derjenigen ein, die an öffentlichen Orten anderen Menschen ihre Bitte auf die dargestellte Weise unterbreiten wollen.» (Seite 762)

Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, wertet Attribute „rechtsextrem“ und „rechtsradikal“ nicht als Schmähkritik, sondern als scharfe Reaktion in einer öffentlichen Diskussion, die von der Meinungsfreiheit gedeckt ist
Mit der erfolgreichen Verfassungsbeschwerde wendet sich ein Rechtsanwalt dagegen, dass seine Meinungsäußerungen zu den Veröffentlichungen eines anderen Rechtsanwalts als Schmähkritik eingestuft werden und er zur Unterlassung verurteilt worden ist.
Das BVerfG gibt der Verfassungsbeschwerde statt: «Eine Schmähkritik ist dadurch gekennzeichnet, dass nicht mehr die Auseinandersetzung in der Sache, sondern die Diffamierung der Person im Vordergrund steht (…). Dies kann hier aber nicht angenommen werden. Alle Äußerungen haben einen Sachbezug. Die erste Äußerung bezieht sich auf den Text des Klägers [im Ausgangsverfahren] „Die schleichende Revolution der Kosmokraten“, die zweite Äußerung auf den Text „Art. 146 – Die Mär von der gesamtdeutschen Verfassung“, und die dritte Äußerung stammt aus einem vorprozessualen Schriftsatz und bezieht sich auf den Unterlassungsanspruch.» (Seite 765)

Bundesarbeitsgericht (BAG), Erfurt, bestätigt Stichtagsregelung in § 35 EGZPO für die Unzulässigkeit von Restitutionsklagen nach stattgebendem EGMR-Urteil
Hier war im Fall Schüth gegen Deutschland (EuGRZ 2010, 560) das Ausgangsverfahren vor dem 31.12.2006 abgeschlossen, die Restitutionsklage also unzulässig. (Seite 767)

EGMR (GK) terminiert mündliche Verhandlung zum Massaker der sowjetischen Geheimpolizei an 21.000 polnischen Offizieren und Intellektuellen in den Wäldern von Katyn (1940) auf den 13. Februar 2013. Die Beschwerdeführer rügen die Verhinderung der Rehabilitierung der Opfer durch die Einstellung der strafrechtlichen Ermittlungen ohne ihnen zugängliche Begründung. (Seite 768)