EuGRZ 1998 |
15. Dezember 1998
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25. Jg. Heft 20-22
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Informatorische Zusammenfassung
Carsten Stahn, Berlin, analysiert das in Rom verabschiedete Statut für einen Ständigen Internationalen Strafgerichtshof (IntStGH) – «Zwischen Weltfrieden und materieller Gerechtigkeit»
Der Autor beschreibt zunächst Inhalt und Umfang der Gerichtsbarkeit, behandelt die Tatbestände der drei Kernverbrechen (Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen) sowie die Problematik des Aggressionstatbestandes und stellt dann die im Rom-Statut erreichte Einigung über die Ausübung der neuen Gerichtsbarkeit dar.
Insgesamt gelangt Stahn zu einer positiven Bewertung: «Seiner Rechtsnatur nach ist das Statut des IntStGH zunächst einmal ein multilateraler Vertrag wie jeder andere, der zu seinem Inkrafttreten die schwere Hürde von 60 Ratifikationen überwinden muß. Ist diese aber einmal überwunden, spricht vieles dafür, das Statut von Rom als einen weiteren Stein in dem Mosaik von Normen anzusehen, die von identitätsprägender Bedeutung für die internationale Gemeinschaft als Rechtssubjekt sind und als Teilelemente einer sich herausbildenden internationalen Verfassungsordnung gelten können. Das Rom-Statut erhebt den Grundsatz individueller strafrechtlicher Verantwortlichkeit zum Leitprinzip einer auf Frieden undGerechtigkeit basierenden Weltordnung, in der schwerste Völkerrechtsverstöße, die sich als Angriff gegen eine internationale Sittlichkeit und Moral darstellen, nicht nur zwischenstaatlich, sondern individuell geahndet werden.
Die erste Besonderheit dieses Grundsatzes besteht darin, daß Individuen dafür zur Verantwortung gezogen werden, daß sie Pflichten gegenüber der internationalen Gemeinschaft als Ganzes („the international community as a whole) verletzt haben. Die zweite Errungenschaft liegt darin, daß sie dabei von einem unabhängigen Organ angeklagt werden, das dem Leitbild einer im Namen der internationalen Gemeinschaft ausgeübten Justiz Ausdruck verleiht.» (Seite 577)
Voller Wortlaut des Rom-Statuts des IntStGH in diesem Heft, S. 618 ff., weitere Fundstellenhinweise auf S. 664.
Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH), Luxemburg, bestätigt als Folge des Diskriminierungsverbots aus Art. 6 EGV Anspruch auf Deutsch als strafprozessuale Verfahrenssprache in Südtirol (Italien) auch für nichtitalienische Unionsbürger
Der österreichische LKW-Fahrer Bickel und der deutsche Tourist Franz, in Südtirol wegen Trunkenheit am Steuer bzw. Mitführens eines unerlaubten Messers angeklagt, hatten unter Hinweis auf ihre Unkenntnis der italienischen Sprache und unter Berufung auf die zum Schutz der deutschsprachigen Gemeinschaft in der Provinz Bozen erlassenen Vorschriften beantragt, das Verfahren gegen sie in Deutsch durchzuführen.
Der EuGH kommt auf Vorlage der Pretura circondariale Bozen, Außenabteilung Schlanders, zu dem folgenden Ergebnis: «Artikel 6 des Vertrages steht einer nationalen Regelung entgegen, die Bürgern, die eine bestimmte Sprache sprechen, bei der es sich nicht um die Hauptsprache des betreffenden Mitgliedstaats handelt, und die im Gebiet einer bestimmten Körperschaft leben, den Anspruch darauf einräumt, daß Strafverfahren in ihrer Sprache durchgeführt werden, ohne dieses Recht auch den Angehörigen anderer Mitgliedstaaten einzuräumen, die dieselbe Sprache sprechen und sich in diesem Gebiet bewegen und aufhalten. (…)
Das Vorbringen der italienischen Regierung, diese Regelung solle die in der betreffenden Provinz wohnende ethnisch-kulturelle Minderheit schützen, stellt im vorliegenden Zusammenhang keine gültige Rechtfertigung dar. Gewiß kann der Schutz einer Minderheit wie der hier betroffenen ein legitimes Ziel darstellen. Aus den Akten ergibt sich jedoch nicht, daß dieses Ziel durch die Ausdehnung der streitigen Regelung auf deutschsprachige Angehörige anderer Mitgliedstaaten, die von ihrem Recht auf freien Verkehr Gebrauch machen, gefährdet würde.» (Seite 591)
Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH), Luxemburg, qualifiziert die Verweigerung von Erziehungsgeld für eine in Deutschland lebende Spanierin wegen des Fehlens einer förmlichen Aufenthaltserlaubnis als Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot
In der Rs. Martínez Sala entscheidet der EuGH: «Das Gemeinschaftsrecht verbietet einem Mitgliedstaat, die Gewährung von Erziehungsgeld an Angehörige anderer Mitgliedstaaten, denen der Aufenthalt in seinem Gebiet erlaubt ist, von der Vorlage einer von der inländischen Verwaltung ausgestellten förmlichen Aufenthaltserlaubnis abhängig zu machen, während Inländer lediglich einen Wohnsitz oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt in diesem Mitgliedstaat haben müssen.» (Seite 600)
Generalanwalt La Pergola definiert in seinen Schlußanträgen zu Martínez Sala die Aufenthaltsfreiheit als untrennbar verbunden mit dem neu begründeten Status der Unionsbürgerschaft:
«Nach dem Inkrafttreten des Artikels 8a des Vertrages [Text s.u.S. 603, Randnr. 59] läßt sich nicht mehr die Meinung vertreten, daß das Aufenthaltsrecht durch die Richtlinie [90/364] begründet worden sei, sozusagen von den Mitgliedstaaten „bewilligt“, die es den betroffenen Bürgern der anderen Mitgliedstaaten gemäß den dort festgelegten Bestimmungen gewähren. Dieses Regelwerk war vom Rat für den Fall erlassen worden, daß die Bürger nicht nach anderen Gemeinschaftsbestimmungen über ein Recht auf freien Aufenthalt verfügten. Heute haben wir jedoch Artikel 8a des Vertrages. Das Recht, sich in der gesamten Union frei zu bewegen und aufzuhalten, ist allgemein in einer Primärvorschrift niedergelegt und verschwindet nicht oder besteht, je nachdem, ob es von anderen Gemeinschaftsvorschriften, auch des Sekundärrechts, beschränkt wird. Die in Artikel 8a vorgesehenen Beschränkungen betreffen die konkrete Ausübung und nicht das Bestehen des Rechts. (…)
Neu an dieser Bestimmung ist nicht, wohlgemerkt, daß die Freizügigkeit unmittelbar im Vertrag verankert worden ist. Diese Freizügigkeit war zusammen mit dem freien Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr in einer anderen primärrechtlichen Quelle, der Einheitlichen Akte, durch die Bestimmung anerkannt, die den Binnenmarkt als einen Raum ohne Grenzen definiert. Artikel 8a hat nun von den anderen Verkehrsfreiheiten diese Freiheit abgelöst, die jetzt als Recht, sich nicht nur in jedem Mitgliedstaat zu bewegen, sondern dort auch aufzuhalten, ausgestaltet ist: ein Primärrecht tatsächlich in dem Sinne, daß es an erster Stelle der mit der Unionsbürgerschaft verbundenen Rechte steht. Dies ist die Art und Weise, in der das Aufenthaltsrecht im Vertrag konzipiert und eingeordnet ist. Es ist ein Recht, das aus der Unionsbürgerschaft nicht nur abgeleitet, sondern mit dieser untrennbar verbunden ist, in gleicher Weise wie die anderen Rechte, die ausdrücklich als zwingende Folge dieses Status ausgestaltet sind (vgl. Artikel 8b, c und d), der neu und ohne Unterschied allen Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten gemeinsam ist. Die Unionsbürgerschaft ist durch die Schaffung der Primärnorm dem einzelnen unmittelbar verliehen worden, der jetzt förmlich als Rechtssubjekt anerkannt ist, das die Unionsbürgerschaft zusammen mit der Staatsbürgerschaft des nationalen Staates, dem er angehört, erwirbt und verliert und in keiner anderen Weise. Es ist die grundlegende Rechtsstellung, möchte ich sagen, die dem Staatsangehörigen jedes Mitgliedstaats von der Rechtsordnung der Gemeinschaft und heute der Union garantiert ist. Dies ergibt sich aus dem eindeutigen Wortlaut der beiden Absätze des Artikels 8 des Vertrages.» (Seite 593)
EuGH sieht strafprozessuale Zulässigkeit von Beweismitteln durch Verletzung gemeinschaftsrechtlicher technischer Mitteilungspflichten nicht als beeinträchtigt an
Das Urteil in der Rs. Lemmens stellt fest: «Die Mißachtung der in Artikel 8 der Richtlinie 83/189/EWG des Rates vom 28. März 1983 über ein Informationsverfahren auf dem Gebiet der Normen und technischen Vorschriften festgelegten Verpflichtung, eine technische Vorschrift über Alkoholmeter mitzuteilen, hat nicht zur Folge, daß einem Angeklagten, dem Trunkenheit am Steuer vorgeworfen wird, der mit einem nach dieser Vorschrift zugelassenen Alkoholmeter gewonnene Beweis nicht entgegengehalten werden kann.» (Seite 604)
Schweizerisches Bundesgericht (BGer), Lausanne, nimmt zu den innerstaatlichen Folgen Stellung, die sich aus der Feststellung einer EMRK-Verletzung durch das Ministerkomitee des Europarates ergeben (hier: Personalunion von Haftrichter und Ankläger)
«Zusammenfassend kann demnach festgehalten werden, dass die Erstellung einer neuen Anklage nicht geeignet ist, die vom Ministerkomitee festgestellte Konventionsverletzung zu beheben. Das Appellationsgericht hat daher Art. 5 Ziff. 3 EMRK nicht verletzt, indem es die bestehende Anklage seinem Urteil als gültig unterstellte, das Begehren des Beschwerdeführers um Rückweisung der Anklage bzw. um Einstellung des Verfahrens abwies und ihn hinsichtlichder erstandenen konventionswidrigen Haft an den Verantwortlichkeitsrichter verwies.»
In dem Verfahren wegen gewerbsmäßigen Betruges, dem sich der Bf. zeitweise durch Flucht ins Ausland hatte entziehen können, wurde sowohl vom Straf- wie auch vom Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt die erneute Einvernahme von sämtlichen Geschädigten (762 bzw. 681 Personen) als Zeugen in der mündlichen Verhandlung vor allem deshalb abgelehnt, weil der Schuldspruch sich in erster Linie auf schriftliche Unterlagen wie Broschüren, Programmbeschreibungen und Zirkular-Briefe mit Angaben über die zu erwartenden Gewinne stützte. Das BGer sieht hierin keine Verletzung der Verteidigungsrechte. (Seite 607)
Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, verlangt im Sonderfall gegenläufiger Rückführungsanträge nach dem Haager Kindesentführungsübereinkommen die ausdrückliche Prüfung des Kindeswohls und bei widerstreitenden Interessen der Eltern die Beiordnung eines Verfahrenspflegers schon vor den Fachgerichten
Der Ausgangsfall hatte in Frankreich und Deutschland für erhebliche Schlagzeilen gesorgt. Bf. sind der Vater (1.) und seine beiden minderjährigen Kinder (2. und 3.), die nach Einleitung des Scheidungsverfahrens der Eltern und vor Abschluß des Verfahrens über die elterliche Sorge während des Getrenntlebens von der Mutter nach Frankreich entführt wurden. Ca. neun Monate später ließ der Vater, dem das Familiengericht inzwischen das Aufenthaltsbestimmungsrecht für die Kinder zugsprochen hatte, diese durch Privatdetektive aus Frankreich zurückentführen. Die 3. Kammer des Zweiten Senats hatte im Wege der einstweiligen Anordnung (EuGRZ 1998, 488) im Hinblick auf die Entscheidung des OLG Celle, die Kinder seien an die Mutter herauszugeben – und vorsorglich auch hinsichtlich eines französischen Urteils – ein Vollstreckungsverbot ausgesprochen.
Der Herausgabe-Beschluß des OLG Celle wurde vom BVerfG aufgehoben und die Sache zurückverwiesen. (Seite 612)
Statut für einen Internationalen Strafgerichtshof (IntStGH) zur Ahndung von Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen auf Diplomatischer Konferenz der Vereinten Nationen in Rom am 17. Juli 1998 angenommen
In der Präambel heißt es: «Die Vertragsstaaten dieses Statuts – in dem Bewußtsein, daß alle Völker durch gemeinsame Bande verbunden und ihre Kulturen in einem gemeinsamen Erbe zusammengefügt sind, und besorgt darüber, daß dieses zerbrechliche Mosaik jederzeit zerstört werden kann, eingedenk dessen, daß in diesem Jahrhundert Millionen von Kindern, Frauen und Männern Opfer unvorstellbarer Greueltaten geworden sind, die das Gewissen der Menschheit zutiefst erschüttern, in der Erkenntnis, daß solche schweren Verbrechen den Frieden, die Sicherheit und das Wohl der Welt bedrohen, bekräftigend, daß die schwersten Verbrechen, welche die internationale Gemeinschaft als Ganzes berühren, nicht unbestraft bleiben dürfen und daß ihre wirksame Verfolgung durch Maßnahmen auf einzelstaatlicher Ebene und durch größere internationale Zusammenarbeit gewährleistet werden muß, entschlossen, der Straflosigkeit der Täter ein Ende zu setzen und so zur Verhütung solcher Verbrechen beizutragen, (…).»
Insbesondere sei auf folgende Stichworte hingewiesen: Definition der zu verfolgenden Verbrechen (Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen, Art. 5-8), Unabhängigkeit des Anklägers (Art. 15), Blockade der Ermittlungen bzw. Strafverfolgung durch den Weltsicherheitsrat jeweils auf die Dauer von 12 Monaten (Art. 16), keine Immunität für Staats- und Regierungschefs, Minister, Parlamentsabgeordnete (Art. 27), strafrechtliche Verantwortlichkeit militärischer Führer (Art. 28) auch bei Anordnung des Verbrechens durch eine Regierung (Art. 33) bzw. bei Herbeiführung eines, das normale Beurteilungsvermögen beeinträchtigenden, Rauschzustandes mit dolus eventualis (Art. 31).
Die 18 hauptamtlichen Richter sowie der Ankläger und die stellvertretenden Ankläger werden von der Versammlung der Vertragsstaaten grundsätzlich für eine – einmalige – Amtszeit von 9 Jahren gewählt (Art. 36 ff., 42). Der Schutz der Opfer und Zeugen ist in Art. 68, die Wiedergutmachung für die Opfer und ein Opfer-Treuhandfonds sind in Art. 75, 79 geregelt.
Die Möglichkeit der Regierungen, eigene Staatsangehörige von der internationalen Strafverfolgung freizustellen, ist bei Kriegsverbrechen (Art. 8) ausdrücklich gegeben, wenn auch auf 7 Jahre, vom Inkraftreten des Statuts für diesen Staat an gerechnet, befristet (Art. 124).
Der Sitz des IntStGH wird Den Haag sein. Zum Inkraftreten des Statuts sind 60 Ratifikationen erforderlich. (Seite 618)
Zum Statut des IntStGH s.o. den Aufsatz von Carsten Stahn, S. 577 ff.
Ständiger Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Straßburg, hat sich als einziges EMRK-Kontrollorgan konstituiert und nimmt die Rechtsprechungsaufgaben wahr, die bislang auf Kommission, Ministerkomitee und Gerichtshof verteilt waren
Zur Überwachung der Ausführung der EGMR-Urteile ist weiterhin allein das Ministerkomitee des Europarates zuständig. Am 1. November 1998 ist das Reform-Protokoll (Nr. 11) zur EMRK in Kraft getreten. Sämtliche 40 Mitgliedstaaten des Europarates sind Vertragsparteien der institutionell reformierten EMRK. Die 39 hauptamtlichen Richter (der russische Richter konnte mangels Kandidatenvorschlag der Regierung noch nicht gewählt werden) wurden am 3. November in Straßburg vereidigt und haben ihre Arbeit inzwischen aufgenommen. Mit den ersten Urteilen des neuen EGMR ist Anfang des kommenden Jahres zu rechnen. (Seite 644)