EuGRZ 1998 |
31. Dezember 1998
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25. Jg. Heft 23-24
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Informatorische Zusammenfassung
Heino ter Veen, Hamburg/Schwerin, untersucht die Frage, ob die Arbeitsbelastung des Bundesverfassungsgerichts durch das Kostenrecht eingedämmt werden kann
Im Hinblick auf die Mißbrauchsgebühr (&Par; 34 Abs. 2 BVerfGG) kommt der Autor nach ausführlicher Analyse der Rechtsprechung zu folgendem Zwischenergebnis: «Prima vista begründet die Judikatur die Erwartung, mit ihr ein taugliches Instrumentarium zur Verfügung zu haben, um gerade in der Masse der Fälle, in denen das BVerfG entgegen seiner eigentlichen Aufgabenzuweisung in Anspruch genommen wird, entweder präventiv (durch Belehrung und Androhung einer Mißbrauchsgebühr) oder repressiv (durch Verhängung einer Mißbrauchsgebühr) Maßnahmen ergreifen zu können, die der Abwehr einer Überbeanspruchung des Gerichts mittels einer edukativ geleiteten kostenrechtlichen Sanktion dienlich sein können. (…)
Im Ergebnis erweist sich die Mißbrauchsgebühr, trotz aller Anstrengungen, die insbesondere die Zweite Kammer des Zweiten Senats darauf verwandt hat, sie zur Eindämmung der Verfahrenslasten zu nutzen, als dysfunktional. Wie Benda schon vor bald 20 Jahren festgestellt hat, ist sie zur Abwehr der Prozeßflut ungeeignet; eine solche ihr zugedachte Lenkungsfunktion hat sie jedenfalls nicht zu übernehmen vermocht und somit ihren Regelungszweck nicht erreicht. Das folgt auch aus der über Jahrzehnte hinweg seit 1951 stetig angewachsenen Zahl an Verfassungsbeschwerden, mit dem inzwischen erreichten Höchststand von etwa 5-6.000 Beschwerden pro Jahr gegenüber ehedem knapp 500.»
Als eine mögliche Alternative befürwortet ter Veen die vom Bayerischen Verfassungsgerichtshof praktizierte Gebühren- und Vorschußregelung. (Seite 645)
Zur Mißbrauchsgebühr bei Verfassungsbeschwerden von nicht existentieller Bedeutung s.a. den Beschluß der 1. Kammer des Ersten Senats in diesem Heft, S. 694 ff.
Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH), Luxemburg, unterstreicht Effektivitätsgebot bei der Umsetzung der Gleichbehandlungs-Richtlinie
Im Coote-Urteil kommt der EuGH zu dem Ergebnis, die Mitgliedstaaten seien verpflichtet, «die innerstaatlichen Vorschriften zu erlassen, die notwendig sind, um einen gerichtlichen Rechtsschutz des Arbeitnehmers für den Fall sicherzustellen, daß sich der Arbeitgeber nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses als Reaktion auf die Erhebung einer Klage auf Einhaltung des Grundsatzes der Gleichbehandlung im Sinne der Richtlinie weigert, Arbeitszeugnisse zu erteilen.»
Im Ausgangsverfahren vor dem Employment Appeal Tribunal in London wehrt sich die Klägerin gegen die Vergeltungsmaßnahme ihres früheren Arbeitgebers, die sie darauf zurückführt, daß sie zuvor eine Anti-Diskriminierungsklage darauf gestützt hatte, sie sei wegen ihrer Schwangerschaft entlassen worden. Durch die Nichtausstellung der Arbeitszeugnisse werde ihr die Suche nach einer neuen Arbeitsstelle erschwert. (Seite 660)
Corte Costituzionale, Rom, erklärt den verschärften Strafrahmen wegen Beleidigung der katholischen Religion im Hinblick auf die gebotene Gleichbehandlung mit anderen Glaubensbekenntnissen für verfassungswidrig
Insbesondere stützt der italienische Verfassungsgerichtshof sein Urteil auf das Verfassungsprinzip der Laizität und Bekenntnisfreiheit des Staates. (Seite 662)
Albrecht Weber, Osnabrück, stellt in seiner rechtsvergleichenden Anmerkung fest:
«Der Gerichtshof (der die im Deutschen gebräuchlichen, eher verschwommenen Begriffe der „positiven und negativen Religionsfreiheit“ nicht verwendet) stellt den Schutz der religiösen Empfindung (oder des religiösen Gefühls) als ein notwendiges Korrelat zum individuellen Recht der religiösen Freiheit dar. Hier und im weiteren Verlauf der Überlegungen zum Argument der Zahl („quantitativer Aspekt“) drängen sich die deutlichsten Parallelen zum deutschen Kruzifix-Beschluß und vergleichbaren Judikaten einschließlich der früheren Schulgebetsfälle auf. Das gilt vor allem für die grundsätzlich zutreffende Begründung, daß die gleiche Ausübung des Grundrechts der religiösen Freiheit nicht durch quantitative Aspekte verzerrt werden und gesellschaftlicher Einflußnahme geöffnet werden dürfe, weil anders das Grundrecht der „gleichen Religionsfreiheit“ sonst Schaden nähme. Dieser Ansatz scheint zunächst der Argumentation der Mehrheitsauffassung im Kruzifix-Beschluß nahe, wenn dort das „demokratische Argument“ verworfen wird. Dennoch erscheint die Argumentation der Corte behutsamer und ausgewogener, da sie die individuelle Glaubens- und Kultusfreiheit in angemessenen Bezug zur historisch gereiften „Neutralität“ setzt und der Relativierung der Religionsfreiheit durch Majorisierung und gesellschaftlichen Druck einen Riegel vorschiebt.» (Seite 664)
Verfassungsgerichtshof (VfGH), Wien, qualifiziert Anspruch auf Notstandshilfe als vermögenswertes Recht i.S.v. Art. 1 des 1. ZP-EMRK
Damit folgt der VfGH – in Abkehr von seiner bisherigen Judikatur – der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (Urteil im Fall Gaygusuz gegen Österreich, Reports of Judgments and Decisions 1996, S. 1129).
Zugleich verfügt der VfGH, daß die verfassungswidrigen Bestimmungen mit sofortiger Wirkung nicht mehr angewendet werden dürfen: «Angesichts des Umstandes, daß die Verfassungswidrigkeit in einem Verstoß gegen die EMRK besteht, empfahl es sich, eine Frist für das Wirksamwerden der Aufhebung nicht zu bestimmen; denn während des Laufes einer solchen Frist wären die maßgeblichen einfachgesetzlichen Bestimmungen zwar verfassungsrechtlich immunisiert, ihre Anwendung würde aber zu einem vom EGMR wahrzunehmenden Verstoß gegen die Konvention führen.» (Seite 665)
Zur Würdigung des Urteils Gaygusuz s.a. Georg Pech, Der Schutz öffentlich-rechtlicher Ansprüche durch die Eigentumsgarantie des 1. ZP-EMRK, in: Grabenwarter / Thienel (Hrsg.), Kontinuität und Wandel der EMRK / Studien zur Europäischen Menschenrechtskonvention, S. 233 ff.
VfGH sieht Streitigkeiten über Kosten einer Fahrnißexekution außerhalb des Schutzbereichs von Art. 6 Abs. 1 EMRK
«Sinn und Zweck des Vollstreckungsverfahrens ist es, die Ansprüche des betreibenden Gläubigers gegen den bereits säumigen Schuldner rasch durchzusetzen. Dies rechtfertigt es, im Sinne eines „Überraschungseffektes“ (häufig spielt die Schnelligkeit des Vollzugs eine große Rolle) und zumal bei Verfahrensschritten, die vorläufig nur in geringem Ausmaß in die Rechtsposition des Verpflichteten eingreifen, Vollstreckungshandlungen zu setzen, ohne ihm zunächst die Möglichkeit einer Stellungnahme einzuräumen. Die Rechtsordnung stellt sicher, daß er Kenntnis von derartigen Beschlüssen erlangt, bevor es zu endgültigen Eingriffen in das Eigentumsrecht, wie zB durch Zwangsversteigerung, kommt. Soweit dem Verpflichteten gegen eine Entscheidung, die ihm vorerst unbekannt ist, ein Rechtsmittel zusteht, bleibt darauf hinzuweisen, daß die Rechtsmittelfrist erst mit der Zustellung der Entscheidung, die jederzeit begehrt werden kann, in Lauf gesetzt wird.» (Seite 669)
VfGH bestätigt Regelung, derzufolge ein deutsches Abitur ohne ZVS-Zulassungsbescheid zum Studium eines numerus-clausus-Fachs in Österreich (hier: Veterinärmedizin) unzureichend ist
«Hat der Gesetzgeber Grund zur Befürchtung, das in anderen Staaten bestehende System der Zulassungsbeschränkung könnte dazu führen, daß ein unverhältnismäßiger Zustrom von Studienanwärtern, die zwar die allgemeine Hochschulreife erlangt haben, aber die besonderen Voraussetzungen für die gewählte Studienrichtung nicht erfüllen – von Personen also, die regelmäßig eine vergleichsweise geringere Eignung für das gewünschte Studium aufweisen –, die Kapazitäten der österreichischen Hochschulen übersteigen könnte, so ist das Bestreben, einen solchen Zustrom zu verhindern oder zu beschränken, nicht unsachlich. Es ist aber auch nicht sachfremd, zu diesem Zweck an die Vorschriften jenes Staates anzuknüpfen, nach dessen Vorschriften das Reifezeugnis erworben wurde. Mag auch die Zulassung zum Studium nach diesen Vorschriften nicht nur vom Inhalt des Reifezeugnisses abhängen, so ist doch die Annahme gerechtfertigt, daß für die Bedeutung der Hochschulreife in erster Linie die Verhältnisse jenes Staates ausschlaggebend sind, nach dessen Vorschriften das Reifezeugnis erworben wurde. Es ist durchaus sachlich, wenn solcherart verhindert wird, daß Interessenten den jeweils bestehenden Zulassungsbeschränkungen ausweichen, indem sie ihr Studium in einem Land beginnen, das neben der allgemeinen Hochschulreife keine oder weniger Voraussetzungen kennt. Und der Gleichheitssatz des österreichischen Verfassungsrechts steht auch einer Regelung nicht entgegen, die innerhalb dieses Personenkreises nicht nach der Staatsangehörigkeit unterscheidet. Daß sich daraus für bloß vorübergehend auswärts lebende Österreicher Härten ergeben können, ist zuzugeben, aber nicht entscheidend.»
Die Frage etwaiger europa-rechtlicher Bedenken, für die der VfGH sich als unzuständig erklärt hat, wird gegenwärtig vor dem Verwaltungsgerichtshof geprüft. (Seite 671)
Schweizerisches Bundesgericht (BGer), Lausanne, bestätigt direkte Anwendbarkeit des Art. 12 der UNO-Kinderrechtekonvention zum Anhörungsrecht des Kindes
«Entgegen der Meinung der Beschwerdeführerin [der Mutter, die sich gegen das Besuchsrecht des Vaters wehrt] hat das Obergericht nicht gegen diese Grundsätze der Anhörung des Kindes verstossen, wie sie sich aus Art. 12 UNO-Kinderrechtekonvention und BGE 122 III 401 ergeben. Das Obergericht begründete den Verzicht auf eine Anhörung des Kindes damit, dass Julia als kaum sechsjähriges Kind, das zudem noch keine Gelegenheit hatte, sich mit ihrem leiblichen Vater auseinanderzusetzen, nicht über die erforderliche Reife verfüge, die für eine solche Stellungnahme erforderlich wäre; anders verhielte es sich, wenn Julia den Vater aufgrund einer einigermassen breiten Erfahrung bereits kennen würde. Im vorliegenden Fall müsste sich Julia demgegenüber zu einer Person äussern, die sie aus eigener Anschauung gar nicht beurteilen könne; bewusst wäre ihr einzig die unausgesprochene Erwartungshaltung ihres Umfeldes. Diese Begründung ist überzeugend. (…)
Umgekehrt wird Art. 12 Abs. 2 UNO-Kinderrechtekonvention insoweit Genüge getan, indem die Beschwerdeführerin als gesetzliche Vertreterin dem Kind mittelbar Gehör verschaffen konnte.» (Seite 675)
BGer sieht in der Beschränkung des Besuchsrechts während der U-Haft wegen rein abstrakter Kollusionsgefahr eine Verletzung von Art. 8 EMRK
Der Bf. wurde wegen Verdachts umfangreicher Drogengeschäfte in Untersuchungshaft genommen. Die Rekurskammer des Strafgerichts des Kantons Basel-Stadt lehnte eine Besuchsbewilligung für den Cousin des Bf. wegen erhöhter Kollusionsgefahr ab.
Hierzu führt das BGer aus: «Die Rekurskammer nennt aber keinen Grund, weshalb der Beschwerdeführer gerade mit seinem Cousin kolludieren würde, falls diesem ein Besuch beim Beschwerdeführer erlaubt würde. Vielmehr räumt auch die Rekurskammer ein, dass der Cousin des Beschwerdeführers mit den diesem vorgeworfenen Drogengeschäften nichts zu tun hat, soweit dies bis heute den Untersuchungsbehörden bekannt ist. So wenig, wie eine bloss theoretische Möglichkeit, dass der Angeschuldigte in Freiheit kolludieren könnte, für die Weiterführung der Untersuchungshaft genügen würde (BGE 123 I 31E. 3c), so wenig genügt die im vorliegenden Fall bloss theoretische Möglichkeit, dass der Beschwerdeführer bei einem Besuch mit seinem Cousin kolludieren könnte, für die Verweigerung einer Besuchsbewilligung.» (Seite 676)
Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, erklärt die Einebnung unterschiedlicher Versorgungszusagen öffentlicher Arbeitgeber und die unterschiedliche Verfallbarkeit betrieblicher Altersrenten für gleichheitswidrig
Außerdem schützt Art. 12 Abs. 1 GG Arbeitnehmer «vor einem Verfall von betrieblichen Versorungsanwartschaften, soweit dadurch die freie Wahl eines anderen Arbeitsplatzes in unverhältnismäßiger Weise eingeschränkt wird. (…)
Wird die Altersversorgung eines Arbeitnehmers bei vorzeitigem Ausscheiden nachhaltig verschlechtert, so ist dies für ihn von existentieller Bedeutung. Er kann die Herabsetzung seines Lebensstandards im Alter nach langjähriger Beschäftigung nicht mehr ausgleichen. Die Chance, bei einem neuen Arbeitgeber eine Kompensation zu erlangen, ist höchst ungewiß. Daher wird er auf seinem Arbeitsplatz auch dann ausharren, wenn er sich anderweitig beruflich betätigen oder aus anderen Gründen vorzeitig ausscheiden möchte. Beruht dieser Wunsch etwa darauf, daß er sich mit zunehmendem Alter den Anforderungen seines Arbeitsplatzes nicht mehr voll gewachsen fühlt, daß er in der Hierarchie zurückgesetzt wird oder daß er Konflikten mit seinen Vorgesetzten und im kollegialen Umfeld ausweichen möchte, so berührt die faktische Bindung an seinen Arbeitgeber zugleich in empfindlicher Weise sein Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, dessen Schutz im beruflichen Umfeld von Art. 12 Abs. 1 GG mit umfaßt wird.» (Seite 678)
BVerfG bestätigt Investitionsvorrang auf dem Gebiet der ehemaligen DDR auch gegenüber Restitutionsansprüchen von Verfolgten des NS-Regimes
Die 1. Kammer des Ersten Senats nimmt die Verfassungsbeschwerde von Erben jüdischer Aktionäre, deren Unternehmen 1936 arisiert und nach 1949 in einen Volkseigenen Betrieb der DDR überführt worden war, gegen einen 1993 von der Treuhandanstalt erlassenen Investitionsvorrangbescheid nicht zur Entscheidung an, da die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen durch das BVerfG bereits entschieden worden sind.
«Der Gesetzgeber hat, wenn er sich anschickt, wie im Fall des &Par; 1 Abs. 6 VermG von einer dem Grundgesetz nicht verpflichteten Staatsgewalt zu verantwortendes Unrecht wiedergutzumachen, einen besonders weiten Gestaltungsspielraum … Das entbindet ihn zwar bei der Ausgestaltung der von ihm beabsichtigten Wiedergutmachungsregelungen nicht von der Beachtung des allgemeinen Gleichheitssatzes … Doch kommt der grundsätzlichen Befugnis des Gesetzgebers, vor allem bei der Ordnung von Massenerscheinungen zu generalisieren, zu typisieren und zu pauschalieren …, in diesem Zusammenhang besondere Bedeutung zu.»
Weiter heißt es in der Begründung: «Dabei war vom Gesetzgeber in Rechnung zu stellen, daß nach der Wiedervereinigung in den neuen Bundesländern zunächst noch eine Verwaltung vorhanden war, die personell, sächlich und in organisatorischer Hinsicht den Anforderungen an eine moderne, funktionsfähige, rasch und effizient handelnde Verwaltung in keiner Weise genügte. Diese Verwaltung wäre nach der nachvollziehbaren und einleuchtenden Stellungnahme des Bundesministeriums der Justiz nicht in der Lage gewesen, nach inhaltlichen Kriterien gefaßte, womöglich umfangreiche historische und rechtliche Ermittlungen erfordernde Ausnahmetatbestände vom Investitionsvorrang in angemessener Zeit anzuwenden. Notwendig war deshalb nicht nur generell, für die Durchführung des Investitionsvorrangs – wie des Vermögensgesetzes – ein möglichst einfach zu handhabendes Verfahren zu schaffen.» (Seite 689)
BVerfG verhängt Mißbrauchsgebühr von 1.000,– DM bei Verfassungsbeschwerde von nicht existentieller Bedeutung
Das Ausgangsverfahren betrifft ein amtsgerichtliches Urteil, mit dem die Klage eines Zahnarztes auf Zahlung einer Restforderung in Höhe von 329,56 DM bei einer ansonsten beglichenen Gesamtrechnung über DM 6.864,14 abgewiesen worden war.
Die 1. Kammer des Ersten Senats begründet die Verhängung der Mißbrauchsgebühr u. a. folgendermaßen: «Der hohe Bearbeitungsaufwand solcher Verfassungsbeschwerden ist nur gerechtfertigt, wenn die Annahmevoraussetzungen vorliegen können. Wird das Bundesverfassungsgericht durch einen Beschwerdeführer aber zu einer zeitintensiven Prüfung in einer Sache, die für den Betroffenen erkennbar kein besonderes Gewicht hat, gezwungen, ist dies mißbräuchlich, weil dadurch die Gewährleistung verfassungsgerichtlichen Rechtsschutzes in angemessener Zeit für zahlreiche andere Beschwerdeführer und Verfahrensbeteiligte behindert wird.» (Seite 694)
Für eine gründliche Analyse der bisherigen Rechtsprechung des BVerfG zur Mißbrauchsgebühr s.a. den Aufsatz von Heino ter Veen in diesem Heft, S. 645 ff.
BVerfG erklärt Bundesverfassungsrichter Jentsch wegen SED/PDS-Kritik als Justizminister von Thüringen (1990-94) in PDS-Verfahren für nicht befangen
«Die Kundgabe politischer Meinungen, die ein Richter zu einer Zeit geäußert hat, als er noch nicht Mitglied des Bundesverfassungsgerichts war und besonderen Anforderungen dieses Richteramts in seinem Verhalten nicht Rechnung tragen mußte, rechtfertigt grundsätzlich seine Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit nicht. Den Bestimmungen über die Wahl von Richtern des Bundesverfassungsgerichts (Art. 94 Abs. 1 GG, &Par;&Par; 3 ff. BVerfGG) liegt als selbstverständlich, sogar als erwünscht, zugrunde, daß auch solche Personen, die als Repräsentanten von Parteien politische Funktionen in den Parlamenten ausgeübt oder politische Ämter in den Regierungen bekleidet haben, zu Mitgliedern des Bundesverfassungsgerichts gewählt und ernannt werden können, um ihre politischen Erfahrungen für die Verfassungsrechtsprechung fruchtbar zu machen. Damit geht die Erwartung des Verfassungs- und Gesetzgebers einher, daß sie ihre neue Rolle als Richter unabhängig von früheren parteipolitischen Auseinandersetzungen ausüben werden.»
Die PDS wendet sich in vier Organstreitverfahren dagegen, daß der Deutsche Bundestag für die Jahre 1993 und 1995-97 keine Globalzuschüsse zugunsten des Vereins „Gesellschaftsanalyse und politische Bildung e.V.“ als „parteinaher Stiftung“ gewährt hat. (Seite 696)
Verfassungsgericht des Landes Brandenburg (VfGBbg), Potsdam, sieht in der geplanten Umsiedlung der sorbischen Gemeinde Horno zum Zwecke des Braunkohlentagebaus keinen Verstoß gegen den Minderheitenschutz-Artikel der Landesverfassung
Die Gemeinde Horno (Kreis Spree-Neiße) liegt im angestammten Siedlungsgebiet der Sorben. Sie wird mit dem Tag der nächsten landesweiten Kommunalwahlen aufgelöst; ihr Gebiet wird zum selben Zeitpunkt in die Gemeinde Jänschwalde (Spree-Neiße) eingegliedert. Die heutige Größe der sorbischen Volksgruppe wird auf etwa 50.000 bis 80.000 Personen geschätzt, davon leben etwa 20.000 im Lande Brandenburg. Die Landesverfassung (LV) befaßt sich mit der in Brandenburg lebenden sorbischen Minderheit in Art. 25 LV.
In den Leitsätzen des Gerichts wird festgestellt: «Das durch Art. 25 Abs. 1 Satz 1 der Verfassung des Landes Brandenburg gewährleistete Recht des sorbischen Volkes auf Schutz, Erhaltung und Pflege seines angestammten Siedlungsgebietes bietet keinen absoluten Schutz vor der Inanspruchnahme einer sorbisch geprägten Siedlung durch den Braunkohlentagebau.
Art. 25 Abs. 1 Satz 1 LV ist, jedenfalls solange kein gezielt gegen das Sorbentum gerichteter Eingriff in Frage steht, nicht als Grundrecht im Sinne eines Abwehrrechts, sondern als Staatszielbestimmung, und zwar von herausgehobenem Stellenwert und mit entsprechend erhöhten Schutzpflichten, einzuordnen. (…)
Die von dem Gesetzgeber unter Abwägung des Staatsziels Schutz, Erhaltung und Pflege des Siedlungsgebietes der Sorben (Art. 25 Abs. 1 Satz 1 LV) gegen die Staatsziele Strukturförderung (Art. 44 LV), Arbeitssicherung (Art. 48 Abs. 1 LV) und Energieversorgung getroffene Entscheidung zur Auflösung der Gemeinde Horno unter Inanspruchnahme ihres Gemeindegebietes für den Braunkohlentagebau (Art. 2 &Par; 1 i.V.m. Art. 1 BbgBkGG) läßt sich unter Mitberücksichtigung der Begleitregelungen, zumal des Angebots einer geschlossenen Umsiedlung innerhalb des sorbischen Siedlungsgebietes, mit Art. 25 Abs. 1 Satz 1 LV noch vereinbaren.» (Seite 698)
Kersten Rogge, Saarbrücken, stellt rechtsvergleichend die Grundsätze der «Offizialmaxime bei Grundrechtsbeschwerden» in der Rechtsprechung der EMRK-Organe und des BVerfG dar
Nach einer Präzisierung der einzelnen Rechtsprechungsetappen zur Begrenzung der Dispositionsfreiheit des Beschwerdeführers wegen „allgemeiner Bedeutung“ bzw. „öffentlichen Interesses“ betont der Autor auch die folgende Überlegung, die vor allem im Rahmen der EMRK und auch sonst international an Bedeutung gewinnt: «Nicht immer läßt sich zweifelsfrei feststellen, ob die Rücknahme einer Grundrechtsbeschwerde freiwillig war. Im Ergebnis kann die Fortsetzung des Verfahrens wegen allgemeiner Bedeutung auch dem Interesse eines Beschwerdeführers dienen, der zur Rücknahme seines Gesuchs gedrängt wurde.» (Seite 705)
Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, erläßt einstweilige Anordnung zur Wahrung verfassungsmäßiger Haushaltsgrundsätze in Schleswig-Holstein
Das zur haushaltstechnischen Wertschöpfung bestimmte sale-lease-back-Modell wird vorläufig ausgesetzt. Danach sollten Ministerien, Finanzämter, Polizeireviere und Gerichtsgebäude mitsamt der dazugehörigen Grundstücke an eine landeseigene Investitionsbank verkauft und langfristig zurückgemietet werden. Den Kaufpreis sollte die Investitionsbank durch die Aufnahme von Krediten am Kapitalmarkt in Höhe von etwa einer Milliarde DM finanzieren. Dennoch sollte das Finanzministerium den Erlös aus dem Verkauf der Grundstücke nicht als Kredit, sondern wie eine echte Einnahme verbuchen, um den finanziellen Spielraum der Landesregierung, die den verfassungsmäßig erlaubten Kreditrahmen voll ausgeschöpft hatte, zu erweitern. (Seite 706)