EuGRZ 1998
9. November 1998
25. Jg. Heft 19

Informatorische Zusammenfassung

Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, erklärt Bayerisches Schwangerenhilfeergänzungsgesetz wegen kompetenzwidriger Verschärfung der Rechtslage in wesentlichen Teilen für verfassungswidrig
Zusammenfassend stellt das BVerfG fest: «Die ärztliche Tätigkeit der Beschwerdeführer unterfällt auch, soweit sie Schwangerschaftsabbrüche vornehmen, dem Schutzbereich des Art. 12 GG (I 1). Die angegriffenen Regelungen enthalten Einschränkungen der ärztlichen Tätigkeit der Beschwerdeführer, die am Maßstab des Art. 12 Abs. 1 GG zu messen sind (I 2). Sie müssen der Kompetenzordnung des Grundgesetzes entsprechen (II 1 und 2). Für den Facharztvorbehalt und das Verbot mit Erlaubnisvorbehalt hat der Freistaat Bayern die Kompetenz, die bundesrechtlichen Regelungen über den Schwangerschaftsabbruch durch Regelungen des ärztlichen Berufsrechts zu ergänzen (II 3). Das Verbot mit Erlaubnisvorbehalt hält der verfassungsrechtlichen Prüfung auch im übrigen stand; der Facharztvorbehalt bedarf allerdings einer Übergangsregelung zugunsten von Ärzten mit langjähriger einschlägiger Erfahrung (II 4). Für die strafrechtliche Ahndung von Verstößen gegen das Verbot mit Erlaubnisvorbehalt fehlt dem Landesgesetzgeber die Regelungskompetenz (III). Hinsichtlich der quotierten Einnahmebeschränkung und der Verpflichtung, den Abbruch nur vorzunehmen, wenn die Frau ihre Gründe genannt hat, werden die Beschwerdeführer in ihren Grundrechten aus Art. 12 Abs. 1 GG verletzt, weil die insoweit erschöpfende Bundesregelung abweichendes Landesrecht ausschließt (IV).»
Zur Verfassungswidrigkeit der landesrechtlichen Strafvorschriften wird ausgeführt: «Strafvorschriften als Sanktionen ärztlicher Pflichtverletzungen im Zusammenhang mit Schwangerschaftsabbrüchen dürfen durch Landesrecht nicht eingeführt werden, weil der Bund von seiner konkurrierenden Gesetzgebungsbefugnis aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG abschließend Gebrauch gemacht hat.»
Zur 25prozentigen Einnahmequotierung heißt es: «Der Freistaat Bayern durfte den Fortbestand oder das Entstehen von auf Abbrüche spezialisierten Einrichtungen nicht mittels einer Einnahmequotierung verhindern. Art. 5 Abs. 2 BaySchwHEG ist nichtig. (…) Das Gesetzgebungsmotiv, eine als unvollständig angesehene Bundesregelung verfassungsnäher auszugestalten, verleiht einem Land jedoch keine Gesetzgebungskompetenz, sofern die Bundesregelung abschließend und damit sperrend ist.»
Die landesrechtliche Verpflichtung des Arztes, sich die Gründe für den Schwangerschaftsabbruch in jedem Fall offenlegen zu lassen, ist verfassungswidrig: «Das Bundesrecht hat auch abschließend die Anforderungen festgelegt, die für die Beratung der Frau durch den Arzt gelten. Ihr ist nach &Par; 218 c Abs. 1 Nr. 1 StGB Gelegenheit zu geben, die Gründe für ihr Verlangen nach Abbruch der Schwangerschaft darzulegen. Ihre Gesprächs- und Mitwirkungsbereitschaft darf danach nicht erzwungen werden. (…)
Die für das Schutzkonzept grundlegende Strafnorm des &Par; 218 c Abs. 1 Nr. 1 StGB markiert damit zugleich die Grenze, bis zu der durch eine gesetzliche Regelung das Berufsrecht verhaltenssteuernd in das Verhältnis zwischen Arzt und Patientin eingreifen darf. Sie entfaltet insoweit Sperrwirkung für den Landesgesetzgeber. (…)
Die Schwangere soll wissen, daß sie nach Bundesrecht die Beratungsbescheinigung nach &Par; 7 SchKG erhalten kann, obwohl sie die Gründe, die sie zum Schwangerschaftsabbruch bewegen, nicht genannt hat. Einen Abbruch nach &Par; 218 a Abs. 1 StGB wird sie in Bayern jedoch ohne Offenlegung der Gründe beim Arzt nicht vornehmen lassen können. Das soll Art. 18 Abs. 2 Satz 1 HKaG sicherstellen. Kein Mitglied der Bayerischen Ärztekammer kann in einem derartigen Fall einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen, ohne sich berufsrechtlichen Sanktionen auszusetzen. Für die Schwangere setzt damit die Norm die Mindestvoraussetzungen, die sie selbst erfüllen muß, um die Schwangerschaft abbrechen zu lassen, obwohl sie sich an den Arzt richtet und lediglich umschreibt, was ärztlich verantwortbares Handeln ist und – nach den Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 88, 203 [292] = EuGRZ 1993, 229 [254]) – ohnedies gilt. (…)
Für die Sperrwirkung der bundesrechtlichen Regelung kommt es nicht darauf an, ob der Bundesgesetzgeber in allen Punkten den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts gerecht geworden ist.»  (Seite 545)
BVerfG-Vizepräsident Papier sowie die Richterinnen Graßhof und Haas widersprechen der mit 5 zu 3 Stimmen ergangenen Senatsentscheidung in ihrer abweichenden Meinung umfassend: «Den Ergebnissen zu C III 2 (Einnahmequotierung), C III 3 (kompetenzrechtliche Sperre des Landes für die Regelung ärztlichen Berufsrechts) und zu C II 4 b (Fehlen einer Übergangsregelung beim Facharztvorbehalt) können wir nicht zustimmen. Wir halten auch die kompetenzrechtlichen Maßstäbe der Senatsmehrheit zu C II 1 und 2 für zu weitgehend, soweit sie die Kompetenz kraft Sachzusammenhangs betreffen.
Die Senatsmehrheit wendet ihre kompetenzrechtlichen Maßstäbe schon nicht konsequent an (I). Selbst auf der Grundlage ihrer eigenen Maßstäbe hätte die Senatsmehrheit nicht zu den Ergebnissen kommen können: – der Bundesgesetzgeber habe es den Ländern mit &Par; 13 Abs. 2 SchKG stillschweigend untersagt, Spezialkliniken durch eine Quotenregelung entgegenzuwirken; hierfür habe er auch eine Kompetenz kraft Sachzusammenhangs in Anspruch nehmen dürfen (I 2); – &Par; 218 c Abs. 1 Nr. 1 StGB lege – kompetenzgemäß – zugleich die berufsrechtlichen Anforderungen abschließend fest, die nach ärztlichem Berufsrecht für die Beratung der abbruchwilligen Frau durch den Arzt gelten (I 3).
Überdies mißachtet die Senatsmehrheit die strikten Grenzziehungen des Grundgesetzes bei der Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern (II).
Darüber hinaus verkennt die Senatsmehrheit, daß ein Bundesgesetz, das im Wege der Kompetenz kraft Sachzusammenhangs in einen ausschließlichen Gesetzgebungsbereich des Landes übergreift, die Landeszuständigkeit nur verdrängen kann, wenn es auch materiell verfassungsgemäß ist (III).
Schließlich bedurfte es keiner Übergangsregelung für die Einführung des Facharztvorbehalts (IV).»  (Seite 564)
Richter Kühling und Richterin Jaeger legen in ihrer abweichenden Meinung dar, warum ihnen die Senatsentscheidung aus formellen und materiellen Gründen zu kurz greift: «Das präventive Verbot mit Erlaubnisvorbehalt ist unverhältnismäßig. (…) Die Regelung des Art. 3 Abs. 1 BaySchwHEG bürdet den betroffenen Ärzten … eine besondere Last auf: sie werden gezwungen, staatlichen Behörden ihre Bereitschaft zu bekunden, Schwangerschaftsabbrüche durchzuführen. Das ist kein wertneutraler Akt, vergleichbar etwa mit der Einholung einer sicherheitstechnischen Genehmigung für ein bestimmtes Gerät. Schwangerschaftsabbrüche im Sinne von &Par; 218 a Abs. 1 StGB sind grundsätzlich als Unrecht anzusehen. Der Arzt darf an ihnen nur im Rahmen eines gesetzlich verankerten staatlichen Konzepts mitwirken, das auf wirksamen Schutz des Nasciturus angelegt ist. In weiten Teilen der Bevölkerung wird dies jedoch aus ethischen und religiösen Gründen abgelehnt. Eine Kommission der Katholischen Bischofskonferenz überlegt zur Zeit, wie sie sich an der Konfliktberatung beteiligen kann, ohne durch einen Beratungsschein mitursächlich für den Abbruch zu werden. Vor diesem Hintergrund ist es für einen Frauenarzt nicht leicht, einen Antrag nach Art. 3 Abs. 1 BaySchwHEG zu stellen. Er läuft Gefahr, mit der mißbilligten Handlung identifiziert und dem rufschädigenden Vorwurf der Tötung von Ungeborenen ausgesetzt zu werden. Belastend sind schließlich auch die besonderen behördlichen Kontrollen, denen Erlaubnisinhaber unterliegen; die zuständigen Behörden werden dafür mit weitgehenden Befugnissen ausgestattet, das Grundrecht der Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 GG) wird eingeschränkt (Art. 7 BaySchwHEG). (…)
Bestätigt wird diese Einschätzung durch den Umstand, daß sich auch auf eine gezielte Umfrage durch die Behörden, die durch die einstweilige Anordnung des Bundesverfassungsgerichts in dieser Sache veranlaßt worden ist, im Freistaat Bayern von insgesamt etwa 1.300 Frauenärzten nur etwa 120 bereitgefunden haben, eine Erlaubnis zu beantragen, von denen rund die Hälfte nicht einmal gestattet, daß ihre Bereitschaft zur Vornahme von Schwangerschaftsabbrüchen den Beratungsstellen oder nachsuchenden Frauen offengelegt wird.»  (Seite 573)