EuGRZ 1999
7. Oktober 1999
26. Jg. Heft 17-18

Informatorische Zusammenfassung

«Die Rechtsprechung der Verfassungsgerichte im Bereich der Bekenntnisfreiheit» lautete das Thema der XI. Konferenz der Europäischen Verfassungsgerichte vom 17. bis 21. Mai 1999 in Warschau
Der Fragebogen an die teilnehmenden Gerichte, dessen Struktur die Berichte folgen, enthält die Teile (A) Status des Einzelnen und (B) Status der Religionsgemeinschaften mit jeweils vier Hauptfragen. (Seite 550)
Zum Status des Einzelnen wird gefragt: (I) Wesen und Inhalt der Gewissens- und Konfessionsfreiheit; (II) Schutz der religiösen Werte als Grundrecht des Menschen in der Rechtsprechung der Verfassungsgerichte an Hand einiger Beispiele; dazu gehören u. a. der Schutz religiöser Werte in der staatlichen Gesetzgebung, insbesondere in bezug auf Ehe und Familie wie im Scheidungsrecht und bei der Kindererziehung, der Schutz religiöser Gefühle und das Recht auf Achtung kirchlicher Feiertage; (III) Gewissens- und Konfessionsfreiheit in besonderen Situationen wie beim Militär, in Strafanstalten und Krankenhäusern; (IV) Bekenntnisfreiheit und parareligiöse Praktiken, das Problem der Sekten.
Zum Status der Religionsgemeinschaften wird sodann gefragt: (I) Religionsgemeinschaften und der Staat – ein allgemeines Modell der verfassungsmäßigen Beziehungen; (II) Freiheit der Gründung und Wirkung von Religionsgemeinschaften; (III) Zusammenwirken des Staates und der Religionsgemeinschaften, wobei die Trennung von Staat und Kirche im Mittelpunkt steht; (IV) Schulwesen und Religionsunterricht (außer an Hochschulen).
Im vorliegenden Heft werden die Berichte der vier deutschsprachigen Länder veröffentlicht.
Gabriele Kucsko-Stadlmayer, Wien – Landesbericht Österreich
Unter der Frage nach religiösen Konzepten in der Staatsordnung führt die Autorin u. a. aus: «Das österreichische Bundes-Verfassungsgesetz enthält – anders als das Bonner Grundgesetz – keine einleitende Anrufung Gottes und auch sonst keinerlei ausdrückliche oder implizite Hinweise auf sakrale Wurzeln oder religiös transzendentale Zwecke oder Bindungen der Republik Österreich als Produkt verfassunggebender Kreation. (…) Der heute noch immer geltende österreichische Grundrechtskatalog des StGG 1867 hat seinen Ursprung in den Jahren des beginnenden Konstitutionalismus und beruht diesem historischen Ursprung zufolge keineswegs auf der christlichen Naturrechtslehre, sondern auf der stark liberalistischen Konzeption der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789. (…)
Eine ausdrückliche Bezugnahme auf die religiösen Werte enthält im übrigen nur &Par; 2 Schulorganisationsgesetz: Danach hat die österreichische Schule „die Aufgabe, an der Entwicklung der Anlagen der Jugend nach den sittlichen, religiösen und sozialen Werten sowie nach den Werten des Wahren, Guten und Schönen … mitzuwirken“. Diese sehr allgemeine Regelung scheint sich nicht nur auf den Religionsunterricht, sondern auf die religiöse Dimension aller Unterrichtsgegenstände zu beziehen. Sie steht daher in einem Spannungsverhältnis zum erwähnten Prinzip der Säkularität des Staates und ist in der wissenschaftlichen Lehre sehr umstritten.»
Beim Verhältnis von Staat und Kirche heißt es: «Die Katholische Kirche hatte in Österreich bis zum Jahre 1867 die dominante Stellung als Staatsreligion. Mit der Einführung des Individualgrundrechts der Glaubens- und Gewissensfreiheit und der Gewährleistung der Korporationsbildung und gleichen autonomen Rechtsstellung für alle gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften durch das StGG 1867 wurde jedoch das System der Einheit von Staat und Kirche zugunsten einer grundsätzlichen Trennung aufgegeben. (…)
Österreich ist damit dennoch kein völlig „laizistischer“ Staat, die Trennung zwischen Staat und Kirche nicht in völlig reiner Form durchgeführt. Vielmehr ist das Verhältnis durch eine Reihe koordinationsrechtlicher Elemente gekennzeichnet: Man spricht von einem „Konkordanzsystem“, einem „System der pluralistischen Hereinnahme“ oder einer „paritätischen Anerkennung“. (…)
Positive staatliche Förderung von gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften ist damit nicht aus-, sondern eher eingeschlossen; es entspricht dem Selbstverständnis des freiheitlich-demokratischen Rechtsstaates, den gesellschaftlich-kulturellen Beitrag der Kirchen und Religionsgesellschaften – etwa als sinngebende Instanz in der pluralen Konsumgesellschaft – positiv anzuerkennen und zu fördern. Dies hat jedoch unter Berücksichtigung einer Haltung der Offenheit und Toleranz gegenüber den einzelnen Weltanschauungen zu geschehen. So gibt es auch eine Reihe von Rechtsnormen, die eine Art (neutrale) Religionsbejahung des Staates zum Ausdruck bringen: So die Korporationsgarantie für Kirchen und Religionsgesellschaften, die Erklärung des Religionsunterrichts zum Pflichtgegenstand an öffentlichen Schulen und dessen Finanzierung durch den Staat, die Kruzifixpflicht in Klassenräumen, die Garantie von Militär- und Anstaltsseelsorge, der Schutz des Beichtgeheimnisses, Gelöbnisformeln.» (Seite 505)
Winfried Hassemer und Dieter Hömig, Karlsruhe – Landesbericht Deutschland
Zum Verhältnis von Staat und Kirche stellen die Autoren fest: «Die Inkorporation der Weimarer Kirchenartikel in das Grundgesetz als Grundlage und Rahmen für das Verhältnis von Staat und Kirchen ist das Ergebnis eines Verfassungskompromisses, der notwendig wurde, weil die bei den Beratungen des Grundgesetzes gemachten Vorschläge zur Neuregelung dieses Verhältnisses keine Mehrheit finden konnten. (…)
Von daher erklärt sich, daß das Grundverhältnis zwischen Staat und Kirchen, wie es für die Bundesrepublik Deutschland in Art. 140 GG und den dort in Bezug genommenen Kirchenartikeln der Weimarer Reichsverfassung seinen Niederschlag gefunden hat, vom Bundesverfassungsgericht als Verhältnis nicht einer strikten, sondern bloß einer „hinkenden Trennung“ begriffen und als wechselseitige Selbständigkeit innerhalb eines Koordinationsystems oder als Partnerschaft zwischen Kirche und Staat gekennzeichnet wird. Das Trennungsmodell, mit dem der bis dahin für Deutschland charakteristischen Verbindung von Staat und Kirche ein Ende gesetzt worden ist, ist damit trotz des Verbots einer Staatskirche in Art. 137 Abs. 1 GG nicht das des Laizismus, baut vielmehr auf Kooperation zwischen Staat und Kirchen, schließt auch Formen der staatlichen Förderung nicht aus, verbietet allerdings die Einführung spezifisch staatskirchlicher Rechtsformen wie auch die Privilegierung bestimmter Bekenntnisse. Neben dem Prinzip der Nichtidentifizierung des Staates mit den Kirchen leiten sich aus diesem Regelungszusammenhang das für den Staat verbindliche Gebot religiös-weltanschaulicher Neutralität und der Grundsatz der Parität der Kirchen und Bekenntnisse ab. (…)
Art. 137 Abs. 3 WRV gewährleistet allen Kirchen, die ihrem Wesen nach vom Staat unabhängig sind und ihre Gewalt nicht von ihm herleiten, das Recht der Selbstbestimmung. Als institutionelle Garantie entfaltet dieses Recht einen über das Grundrecht der kollektiven Religionsfreiheit hinausgehenden Schutzgehalt. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts erweist sich das Selbstbestimmungsrecht als notwendige, rechtlich selbständige Gewährleistung, die der Freiheit des religiösen Lebens und Wirkens der Kirchen und Religionsgemeinschaften die zur Wahrnehmung ihrer Aufgaben unerläßliche Freiheit der Bestimmung über Organisation, Normsetzung und Verwaltung hinzufügt. (…)
Das Recht der Selbstbestimmung ist den Kirchen nach Art. 137 Abs. 3 Satz 1 WRV allerdings nur innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes garantiert. Diese Formel kann nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts im Hinblick auf das „Spezifikum des geistig-religiösen Auftrags der Kirchen“ nicht im Sinne des von bestimmten Grundrechtsgewährleistungen her bekannten allgemeinen Gesetzesvorbehalts verstanden werden. Es gibt elementare Teile der kirchlichen Ordnung, die rein innerkirchlichen Angelegenheiten, für die der Staat überhaupt keine Schranken in Gestalt von allgemeinen Gesetzen errichten kann. Zu den „für alle geltenden Gesetzen“ können deshalb nur solche Gesetze rechnen, die für die Kirche dieselbe Bedeutung haben wie für jedermann. Trifft das Gesetz die Kirche nicht wie den Jedermann, sondern in ihrer Besonderheit als Kirche härter, ihr Selbstverständnis, insbesondere ihren geistig-religiösen Auftrag beschränkend, also anders als den normalen Adressaten, dann bildet es insoweit keine Schranke.» (Seite 525)
Adrian Hungerbühler und Michel Féraud, Lausanne – Landesbericht Schweiz
Das Verhältnis von Staat und Kirche fassen die Autoren folgendermaßen zusammen: «Die Bundesverfassung [von 1874] schreibt kein bestimmtes „Modell“ für das Verhältnis zwischen Religionsgemeinschaften und Staat vor, sondern überlässt dies den Kantonen, denen die sogenannte Kirchenhoheit zusteht. 1980 wurde eine eidgenössische Volksinitiative, welche eine vollständige Trennung von Staat und Kirche verwirklichen wollte, deutlich abgelehnt. Das Bundesgericht leitet allerdings aus der bundesverfassungsrechtlich gewährleisteten Religionsfreiheit (Art. 49 und 50 BV) das Gebot der religiösen und weltanschaulichen Neutralität des Staates ab, welches die Errichtung einer eigentlichen Staatskirche ausschliesst.
In den Kantonen lassen sich verschiedene Modelle unterscheiden. Die Kantone Genf und Neuenburg haben die Trennung von Staat und Kirche eingeführt. In allen anderen Kantonen besteht eine – mehr oder weniger – enge Verbundenheit von Kirche und Staat. Besonders eng ist dieses Verhältnis in den ehemals evangelisch-reformierten Kantonen (namentlich Zürich, Bern und Waadt). Im Einzelnen weisen die Kantone sehr unterschiedliche Regelungen auf. (…)
Die Kantonsverfassungen bzw. Kirchengesetze schreiben für die öffentlichrechtlichen Kirchen demokratische Entscheidstrukturen vor. In den meisten Kantonen sind – nebst den obersten kirchlichen Organen – auch die Pfarrer durch das Kirchenvolk zu wählen. Das Demokratieprinzip gilt gewissermassen als Ausdruck des Schweizer ordre public. Wahlvorschriften können in ein Spannungsverhältnis zu innerkirchlichen Satzungen und zum Selbstverständnis der betroffenen Kirche geraten. In der Praxis wird jedoch immer ein gangbarer Weg gefunden; sodann haben sich die betroffenen Kirchen dem Demokratieprinzip geöffnet. Das Staatskirchenrecht muss allerdings auf das kirchliche Selbstbestimmungsrecht Rücksicht nehmen und darf nicht unbesehen Demokratie staatlich verordnen. Im Zusammenhang mit der Beurteilung einer Stimmrechtsbeschwerde ist dem Bundesgericht von einem Teil der schweizerischen Doktrin vorgeworfen worden, es habe dem Selbstbestimmungsrecht der Kirche unzureichend Rechnung getragen.»
Zu Kruzifix und anderen die Schule betreffenden Symbol-Fragen geben die Autoren u. a. die folgenden Beispiele: «Das Bundesgericht erblickte darin, dass eine Gemeinde des Kantons Tessin in den Räumen ihrer Primarschule Kruzifixe anbringen liess, eine Verletzung der durch Art. 27 Abs. 3 BV geforderten konfessionellen Neutralität des Unterrichts in öffentlichen Schulen (BGE 116 [1990] Ia 252 = EuGRZ 1991, 89). Das Kruzifix wird in der Schweiz als konfessionelles Zeichen der katholischen Kirche empfunden. Dieser Entscheid gab Anlass zu heftigen Diskussionen. (…)
Gestützt auf Art. 49 BV wurde die Tochter eines strenggläubigen Moslems, welche die zweite Primarklasse besuchte, vom (obligatorischen) gemischtgeschlechtlichen Schwimmunterricht dispensiert (BGE 119 [1993] Ia 178 = EuGRZ 1993, 400). Probleme mit kopftuchtragenden islamischen Schülerinnen wurden bisher, soweit ersichtlich, pragmatisch gelöst.
Das Lehrpersonal muss, wegen seiner Vorbildfunktion und weil es die staatliche Einrichtung verkörpert, unter dem Gesichtswinkel der religiösen Neutralität weitergehende Einschränkungen dulden als die Schüler. Das Bundesgericht erachtete es als zulässig, einer an einer öffentlichen Schule tätigen, zum Islam konvertierten Lehrerin das Tragen des muslimischen Kopftuches zu untersagen (BGE 123 [1997] I 296).» (Seite 536)
Herbert Wille, Bendern – Landesbericht Liechtenstein
Die Tatsache, daß der Staatsgerichtshof bisher zu Fragen des Verhältnisses von Staat und Kirche noch nicht hat entscheiden müssen, hat ihren Grund in folgendem Sachverhalt:
«Die liechtensteinische Bevölkerung ist seit alters her der römisch-katholischen Religion verbunden. An diesem Zustand hat sich bis heute nicht viel geändert, wie dies neueste statistische Angaben bestätigen. Man trifft heute noch auf einen weitgehend konfessionell geschlossenen Staat, in dem die römisch-katholische Kirche dominant geblieben ist, was in der Gesetzgebung dementsprechend auch zum Ausdruck kommt. Es überrascht daher nicht, daß das liechtensteinische Staatskirchenrecht ein hohes Maß an Beharrungsvermögen auszeichnet. Auffallend ist nämlich, daß alte Gesetze, die teils in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts zurückreichen, unbesehen weiterbestehen. Es kennt sie kaum jemand, so daß sie auch nicht mehr gehandhabt werden. Auch zeigt es sich, daß Verfassungsrecht Programmsatz geblieben ist, wie dies bei der Schaffung von Kirchgemeinden gemäß Art. 38 Satz 2 LV der Fall ist. Das heißt aber auch, daß religionsrechtliche Regelungen, wie sie in anderen Staaten zum festen Bestand des Staatskirchenrechts gehören, fehlen. Die Tradition spielt auf diesem Gebiet eine beherrschende Rolle, so daß sich Gesetzesschritte offensichtlich nicht aufgedrängt haben. Man behilft sich in der Praxis, sollten sich Konflikte ergeben, mit pragmatischen Lösungen.» (Seite 543)