EuGRZ 2003 |
12. Dezember 2003
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30. Jg. Heft 21
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Informatorische Zusammenfassung
Von der Avantgarde in die Mitte der Politik / Sechs Elemente der EU-Verfassungsdebatte verdeutlichen die Ausgangslage der Regierungskonferenz 2003
Bei Redaktionsschluss war noch nicht sicher, ob die Re gie rungskonferenz – wie von der italienischen Ratspräsidentschaft geplant – Mitte Dezember in Brüssel zum Abschluss gebracht werden kann oder ob sie von der irischen Ratspräsidentschaft 2004 fortgeführt werden muss, damit der Verfassungsvertrag im Mai 2004 nach der Erweiterung der EU und rechtzeitig vor den nächsten Wahlen zum EP im Juni 2004 unterzeichnet werden kann. Damit würde sich in gewisser Weise die Vision Altiero Spinellis erfüllen, die EU-Verfassung in den thematischen Mittelpunkt der Wahlen zum Europäischen Parlament zu stellen.
Historische Versuche einer europäischen Verfassungsdebatte / Das EP als Avantgarde einer Konstituante
Nach der ersten Direktwahl des Europäischen Parlaments 1979 hatte Altiero Spinelli, Mitbegründer der Europäischen Föderalistischen Bewegung und 1946-1962 deren Vorsitzender, Mitglied der EG-Kommission 1970-1976, Abgeordneter im EP 1976-1986, als Parteiloser in der Kommunistischen Fraktion, eine parteiübergreifende parlamentarische Initiative begründet, deren Arbeit – von seiner visionären Tatkraft voran getrieben – 1983/84 in einen interfraktionellen Entwurf für eine Europäische Unionsverfassung mündete.
Cf. Vorentwurf eines Vertrages zur Gründung der Europäischen Union, vom EP am 14.9.1983 verabschiedet, Auszüge in EuGRZ 1983, 574 f.; der endgültige Entwurf wurde vom EP am 14.2.1984 verabschiedet, Auszüge in EuGRZ 1984, 246 f.
Das erklärte Ziel des EP lag darin, für die Verwirklichung dieses Verfassungsentwurfs die nationalen Parlamente als Verbündete zu gewinnen, um durch gemeinsamen Druck auf untätige nationale Regierungen europäische Fortschritte zu erzwingen. Die zweite Direktwahl des EP 1984 sollte zu einem Plebiszit für den Verfassungsentwurf einer Europäischen Union werden. Indes schlug die Spinelli-Initiative, eine Unions verfassung mit dem EP als Avantgarde ins Ziel zu bringen, am Ende wegen des mangelnden Interesses der nationalen politischen Parteien fehl.
Den weiteren Versuchen des EP, mit einem Grundrechtskatalog wenigstens den Grundstein für eine europäische Verfassung zu legen, erging es ähnlich.
Cf. Erklärung der Grundrechte und Grundfreiheiten vom 12. April 1989 und Bericht des belgischen Liberalen Karel De Gucht im Namen des Institutionellen Ausschusses, EuGRZ 1989, 204-211.
Der Bericht über eine Verfassung der Europäischen Union des belgischen Christdemokraten Fernand Herman endete 1994 mit einem Fiasko des EP. Die Mehrheit im Plenum wollte diesen Text ausdrücklich nicht verabschieden und das Thema einem späteren EP bzw. einem – damals noch außerhalb jeder realistischen Sichtweite liegenden – Konvent aus Mitgliedern des EP und der nationalen Parlamente überlassen. Dem in einer ersten Abstimmung am 9.2.1994 derart desavouierten Abgeordneten gelang es jedoch mit Unterstützung des Institutionellen Ausschusses, seinen unerwünschten Text als Anhang einer zweiten ablehnenden Entschließung vom 10.2.1994 zu Protokoll nehmen zu lassen. Damit war die enttäuschende Abkehr des EP von seiner ursprünglichen Verfassungsdynamik kaschiert.
Bericht und Entschließung sind abgedruckt in Revue universelle des droits de l'homme (RUDH) 1995, 457-468.
Die Konventsmethode schafft ein neues Kräftefeld, weil in ihr Vertreter der Regierungen, der nationalen Parlamente, der EU-Kommission und des EP zusammenwirken. Es handelt sich nicht mehr nur um die antagonistische Auseinandersetzung einer europäischen und einer nationalen Ebene, sondern um eine neue Mitte der Gesamt-Politik.
Diese Entwicklung wurde dadurch begünstigt, das der Herzog-Konvent mit der Grundrechte-Charta zunächst nur einen Text auszuarbeiten hatte, von dem nicht sicher war, ob er je Rechtskraft erlangen würde. Das erleichterte bestimmten Regierungen die Zu stim mung – weniger aus Überzeugung, sondern mit abwartendem Kalkül. Als der Giscard-Konvent antrat, wurde es institutionell und machtpolitisch Ernst.
1 – Giscard d’Estaing: Verfassungsrede vor dem EP
Es war dies am 3.9.2003 die erste öffentliche Gesamtwürdigung vor einem Organ der EU, nachdem die Übergabe der Teile I und II in Thessaloniki und der Teile III und IV in Rom nur auf der nichtöffentlichen Regierungsebene stattfand.
Der Konventspräsident führte u. a. aus: „Wenn die Bedeutung des Verfassungsvertrags … durch die Regierungskonferenz entscheidend geschmälert werden sollte und er daraufhin eine negative Beurteilung des Europäischen Parlaments erhält, ist es sehr unwahrscheinlich, dass er von den Staaten und den Völkern Europas ratifiziert wird.
Wenn dagegen die Regierungen der Union auf der Konferenz einen Verfassungsvertrag verabschieden, der unserem Vorschlag nahe kommt – wir erwarten nicht, dass unser Entwurf Wort für Wort übernommen wird –, und dieser die Zustimmung des Europäischen Parlaments erhält, dann wird er einen Schwerpunkt der großen politischen Debatte im Vorfeld der Europawahlen im Juni 2004 bilden. Dies würde Gelegenheit bieten, an die dynamischen Kräfte zu appellieren, die in unserem Kontinent schlummern, das Interesse der Zivilgesellschaft zu wecken und die Unentschlossenen aus der Reserve zu locken.“ (Seite 649)
2 – EP-Debatte über Giscards Verfassungsrede
Nach den italienischen Ministern Fini und Frattini, die eine vollwertige Beteiligung des EP an der Regierungskonferenz zusagten, und Kommissionspräsident Prodi, der sich gegen eine Zwei-Klassen-Kommission aussprach, erhielten am 3.9.03 Vertreter sämtlicher Fraktionen für eine erste Bewertung des Verfassungsentwurfs das Wort. Méndez de Vigo, Hänsch, Poettering, Barón Crespo, Watson, Wurtz, Frassoni, Pasqua, Abitbol, Berthu und Duff.
Giscard antwortete jedem der Redner ausführlich und sagte abschließend:
„In unserer derzeitigen Situation stehen uns zwei Möglichkeiten offen. Entweder Europa erhält keine Verfassung und führt bis in alle Ewigkeit immer dieselben Debatten, oder es bekommt eine Verfassung und ist sich bewusst, dass es damit leben muss. Daher fordere ich nicht, dass aus Ihrem Parlament ein revolutionärer Elan hervorgeht, sondern der eindeutige Wunsch und das unmissverständliche Streben der Völker Europas, auf diesem Wege der Union voranzukommen.“ (Seite 653)
3 – Bericht der Abgeordneten Gil Robles und Tsatsos sowie die Stellungnahmen von 14 EP-Ausschüssen
Der vom konstitutionellen Ausschuss am 10.9.03 verabschiedete Bericht gliedert sich in eine allgemeine Bewertung und in spezifische Anmerkungen wie Klärung der Verantwortlichkeiten, institutionelle Innovationen, Beschlussfassung, Gesetzgebungsakte und Rechtsakte ohne Gesetzescharakter, Haushalt und Eigenmittel, nationale und regionale Parlamente, Justiz und Inneres. (Seite 665)
4 – Entschließung des EP über den Verfassungsentwurf im Hinblick auf die Regierungskonferenz
In der Resolution vom 24.9.03 heißt es: „Die neuen Vorschriften werden an den Herausforderungen, die die erweiterte Union darstellt, erprobt werden müssen; die Methode des Konvents sollte bei allen künftigen Revisionen Anwendung finden.“ Das EP ist der Ansicht, dass der Verfassungsvertrag am 9. Mai 2004 (Europatag), unmittelbar nach dem Beitritt der neuen Mitglieder zur Union von allen 25 Mitgliedstaaten „unterzeichnet werden muss“ und dass die Referenden bzw. parlamentarischen Ratifizierungen alle am selben Tag erfolgen sollten. (Seite 682)
5 – Tsatsos-Erklärung zur Erprobung der künftigen Verfassung: „Es ist absolut denkbar, aus diesem Papier eine Mentalität abzuleiten, die integrativ wirken kann.“ (Seite 686)
6 – Doppelte Mehrheit als Ausdruck der Union der Bürger und Union der Staaten / Die Papiere des Europäischen Konvents Nr. 1
Giscard d'Estaing, Amato und Dehaene versuchen nach dem Vorbild der von Hamilton, Madison und Jay 1787/88 in New Yorker Zeitungen unter dem Pseudonym Publius veröffentlichten Federalist Papers eine ähnliche Dynamik in die europäische Verfassungsdebatte zu tragen. (Seite 686)