EuGRZ 2003
30. Dezember 2003
30. Jg. Heft 22-23

Informatorische Zusammenfassung

Karin Oellers-Frahm, Heidelberg, kommentiert zur Verbindlichkeit einstweiliger Maßnahmen den Fall Mamatkulov: „Der EGMR vollzieht – endlich – die erforderliche Wende in seiner Rechtsprechung“
„Da der Gerichtshof nur allgemeine Äußerungen zur Abweichung von vorhergehender Rechtsprechung macht, kommt nur unterschwellig zum Ausdruck, dass hier in der Tat ein Rechsprechungswechsel stattgefunden hat, der nicht die Rechtsprechung im Fall Cruz Varas, sondern im Fall Conka betrifft. Da der Gerichtshof in letzterem Fall ausdrücklich auch für das neue System die Feststellungen im Fall Cruz Varas für anwendbar hielt, stellt die vorliegende Entscheidung eine Wende mit Bezug auf diesen Fall dar. Es wäre wünschenswert gewesen, wenn dies klar zum Ausdruck gebracht worden wäre, damit der positive Schritt, den der Gerichtshof im vorliegenden Fall zur Stärkung der Effektivität des Rechtsschutzsystems der EMRK macht, deutlich herausgestellt wird. Das schmälert jedoch nicht die Bedeutung der vorliegenden Entscheidung, die nachholt, was schon das 11. Zusatzprotokoll hätte erreichen können, nämlich den effektiven Schutz der Rechte des Einzelnen. (…)
Die Tatsache, dass unabhängig von einer entsprechenden ausdrücklichen vertraglichen Bestimmung einstweilige Maßnahmen in der internationalen Gerichtsbarkeit inzwischen als verbindlich angesehen werden, darf auch als Ausdruck dafür verstanden werden, dass sich die internationale Gerichtsbarkeit von einem außergewöhnlichen Institut zu einer allgemein gängigen Institution entwickelt hat und damit den steigenden Stellenwert des Völkerrechts in den zwischenstaatlichen Beziehungen widerspiegelt.“ (Seite 689)
Das Mamatkulov-Urteil des EGMR (Erste Sektion), franz. Originalfassung, ist veröffentlicht in Revue universelle des droits de l’homme (RUDH) 2003, 5 ff.; dt. Übers. in EuGRZ 2003, 704 (in diesem Heft).
Stefan Kadelbach und Niels Petersen, Münster, sehen im Fall der Brennerblockade (Rs. Schmidberger, EuGRZ 2003, 492) „Europäische Grundrechte als Schranken der Grundfreiheiten“
„Die Grundfreiheiten des EG-Vertrages und die Grundrechte der Union haben eine unterschiedliche Entstehungsgeschichte. Die Grundfreiheiten waren bei Inkrafttreten der Römischen Verträge als Beschränkungs- und Diskriminierungsverbote an die Mitgliedstaaten der EWG gedacht und dienten der Verwirklichung des Gemeinsamen Marktes. Demgegenüber waren die europäischen Grundrechte lange Zeit nicht primärrechtlich positiviert und zunächst eine notwendige Folge der Rechtsprechung zur einheitlichen Wirkung des Gemeinschaftsrechts: Da sich dessen Anwendungsvorrang selbst gegenüber den Grundrechten der mitgliedstaatlichen Verfassungen durchsetzen sollte, bedurfte es einer Kompensation auf europäischer Ebene, die durch richterliche Rechtsfortbildung des EuGH geleistet wurde. (…)
Bisher fehlte es indes an einer Entscheidung darüber, wie sich Grundrechte und Grundfreiheiten im Kollisionsfalle zueinander verhalten. (…)
Das Urteil enthält drei wichtige Aussagen. Erstens hat es die Grundsätze über die grundfreiheitlichen Schutzpflichten, die der EuGH in der Bauernprotest-Entscheidung [EuGRZ 1997, 620] aufgestellt hatte, in einigen wichtigen Punkten konkretisiert. (…) Als Korrektiv zur tatbestandlichen Ausweitung der Grundfreiheiten durch die Schaffung von Schutzpflichten hat der EuGH zum zweiten eine neue Kategorie von Rechtfertigungsgründen für deren Beeinträchtigung geschaffen, nämlich die verfassungsimmanenten Schranken der Grundrechte. Zum dritten hat er damit die Bindung der Mitgliedstaaten an die europäischen Grundrechte weiter gezogen, indem er eine neue Gruppe von Fällen der Durchführung des Unionsrechts anerkannt hat. Zugleich hat er einen Beitrag zur Grundrechtsdogmatik geleistet, deren bisherige Entwicklung vor allem im deutschen Schrifttum immer wieder als unzureichend kritisiert worden ist.“ (Seite 693)
Jörg Luther, Alessandria, prüft „Wege zu einer europäischen Union der Justiz: deutsch-italienische Erwartungen und Begegnungen“
„Während manche Gemeinschaftsjuristen sich ohnehin als europäische Avantgarde fühlen, bietet der „Rechtsraum“ vielen anderen (vor allem älteren) Juristen noch keine neue Heimat und Gemeinschaft. (…) Wenn die europäische Verfassungspolitik nach Laeken wieder um neue Institutionen ringt, kann davon auch die Entwicklung der Justiz in Europa nicht unberührt bleiben. Nicht nur die Mehrebenen-Demokratie, sondern auch der Mehrebenen-Rechtsstaat stehen nun auf der Tagesordnung der Verfassungsdebatte.“
Der Autor nimmt den „europäischen Juristen als Leitbild der nationalen Juristenausbildungsreformen“ sowie Qualität und Autonomie der Justiz als gemeineuropäisches Problem und schließlich die Konstitutionalisierung des Rechtsraums in den Blick: „Der steinige Weg zu einer „europäischen Union der Justiz“ kann aber vor allem durch die in die Grundrechtecharta aufgenommenen Justizgrundrechte und gemeineuropäische Rechtsstaatsprinzipien langsam geebnet werden.“ (Seite 698)
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Straßburg, beansprucht Verbindlichkeit für die von ihm beschlossenen einstweiligen Maßnahmen / Mamatkulov u. a. gegen Türkei
Die Erste Sektion des EGMR leitet damit eine Änderung der bisherigen Rechtsprechung ein, bei der noch aussteht, ob die inzwischen angerufene Große Kammer das Urteil bestätigt: „Der Gerichtshof wiederholt in diesem Zusammenhang, dass die Auslegung der Konventionsnormen unter Berücksichtigung des Prinzips von Treu und Glauben und Ziel und Zweck des Vertrages sowie der Regel der Effektivität (effet utile) vorzunehmen ist. Das gilt auch für Verfahrensregeln, die im Lichte der Konventionsnormen, in deren Zusammenhang sie stehen, auszulegen sind.
Der Gerichtshof stellt somit fest, dass jede Vertragspartei, an die einstweilige Anordnungen gerichtet sind, um irreparablen Schaden für das Opfer der behaupteten Verletzung zu vermeiden, diese Maßnahmen beachten muss und sich jeder Handlung oder Unterlassung zu enthalten hat, die die Integrität und Effektivität des Endurteils beeinträchtigen könnte.“
Es geht um zwei usbekische Staatsangehörige, die wegen terroristischer Aktivitäten strafrechtlich verfolgt und trotz entgegenstehender einstweiliger Anordnungen des EGMR von der Türkei an Usbekistan ausgeliefert wurden, wo sie zu langjährigen Haftstrafen verurteilt worden sind. (Seite 704)
Cf. Karin Oellers-Frahm in diesem Heft S. 689.
EGMR billigt Änderung des Berufsrechts für Rechtsanwälte (Abschaffung der Singularzulassung bei einem OLG) / Wendenburg gegen Deutschland
Der EGMR (dritte Sektion) bestätigt die Entscheidung des BVerfG, EuGRZ 2000, 654 ff. in vollem Umfang. (Seite 709)
Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH), Luxemburg, festigt Schutz personenbezogener Daten im Internet / hier: ehrenamtlicher Gemeindehelfer der protestantischen Kirche von Schweden / Rs. Lindqvist
Frau Lindqvist porträtierte sich selbst und 18 ihrer Kollegen auf für Konfirmanden bestimmte Internet-Seiten auf humorvolle Art, wobei sie Namen, Telefonnummern, Freizeitbeschäftigungen und z. B. auch mitteilte, dass eine bestimmte Frau wegen einer Fußverletzung krank geschrieben sei. Diese erstattete Strafanzeige, das innerstaatliche Gericht der zweiten Instanz legte die Frage auch unter dem Aspekt der Meinungs- und Informationsfreiheit (Art. 10 EMRK) vor.
Der EuGH kommt nach ausführlicher Prüfung des gemeinschaftsrechtlichen Schutzes personenbezogener Daten zu dem Ergebnis, dass deren Beschränkungen nicht im Widerspruch zu irgendwelchen innerhalb der EU geltenden Rechten und Freiheiten stehen. (Seite 714)
EuGH qualifiziert Bereitschaftsdienst eines Arztes mit persönlicher Anwesenheit im Krankenhaus in vollem Umfang als Arbeitszeit / Rs. Jaeger
Im Kern geht es um die Auslegung der Mindestvorschriften für Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeitszeitgestaltung in der RL 93/104: „Entscheidend für die Annahme, dass der von den Ärzten im Krankenhaus geleistete Bereitschaftsdienst die charakteristischen Merkmale des Begriffs Arbeitszeit im Sinne der Richtlinie 93/104 aufweist, ist nach Auffassung des Gerichtshofes, dass sie sich an einem vom Arbeitgeber bestimmten Ort aufhalten und diesem zur Verfügung stehen müssen, um gegebenenfalls sofort ihre Leistungen erbringen zu können.
Der bloße Umstand, dass der Arbeitgeber dem Arzt einen Ruheraum zur Verfügung stellt, in dem er sich aufhalten kann, solange keine beruflichen Leistungen von ihm verlangt werden, ändert nichts an diesem Ergebnis.“ (Seite 722)
Schweizerisches Bundesgericht (BGer), Lausanne, legt das bernische Volksschulgesetz im Hinblick auf den disziplinarischen Schulausschluss verfassungskonform aus
Das BGer stellt u. a. fest: „Wird der geordnete Schulbetrieb durch einen Schüler derart gestört, dass dadurch der Bildungsauftrag der Schule gegenüber den anderen Schülern der Klasse oder des betreffenden Schulhauses in Frage gestellt wird, liegt der vorübergehende Ausschluss des Störers vom Unterricht sowohl im öffentlichen Interesse als auch im (überwiegenden) privaten Interesse der übrigen Schüler an einer genügenden unentgeltlichen Schulbildung.“ (Seite 730)
BGer präzisiert die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die gerichtliche Verwertung von Protokollen aus einer Überwachung von Telefongesprächen
In den Leitsätzen des Gerichts heißt es: „Die aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör als Teilaspekt des Grundsatzes des fairen Verfahrens folgenden Verteidigungsrechte erheischen, dass aktenmässig belegt ist, wie Beweismittel produziert werden (hier: deutsche Protokolle von abgehörten fremdsprachigen Telefongesprächen).“ (Seite 737)
BGer lehnt Schadenersatz für richterlich nicht genehmigte Ausschaffungshaft bei einem sich der Ausschaffung widersetzenden Ausländer ab
„Verweigert der Haftrichter im Rahmen von Art. 13c Abs. 2 ANAG die Genehmigung der Ausschaffungshaft, sind Schadenersatz- oder Genugtuungsansprüche gestützt auf Art. 5 Ziff. 5 EMRK ausgeschlossen, wenn die Fremdenpolizei das Vorliegen der Haftvoraussetzungen in vertretbarer Weise bejaht hat.“ (Seite 739)
BGer zu Reichweite und Grenzen der Glaubens- und Gewissensfreiheit im Strafvollzug
Im Fall eines wegen Mordes und Vergewaltigung im vorzeitigen Strafvollzug einsitzenden Beschuldigten erklärt das BGer sowohl den Ausschluss von einem Gruppengottesdienst wegen Fluchtgefahr als auch Disziplinarmaßnahmen wegen Verweigerung der Arbeit an orthodoxen Feiertagen für zulässig. (S. 743)
Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, sieht in dem (Vereins-)Verbot des sog. Kalifatstaats des Metin Kaplan keine Verletzung der Religionsfreiheit
Die 2. Kammer des Ersten Senats bestätigt das angegriffene Urteil des Bundesverwaltungsgerichts, in dem den Beschwerdeführern Aufruf zur Gewaltanwendung unter Einsatz religös-rechtlicher Autorität und menschenverachtende Intoleranz vorgehalten wird. (Seite 746)
BVerfG bestätigt Auslieferung an die USA eines wegen Terrorismus-relevanter Straftaten in Deutschland festgenommenen Staatsbürgers des Jemen
„Das BVerfG knüpft an seine neuere Rechtsprechung an, „wonach im Auslieferungsverkehr zwischen Deutschland und anderen Staaten, insbesondere wenn dieser auf einer völkervertraglichen Grundlage durchgeführt wird, dem ersuchenden Staat im Hinblick auf die Einhaltung der Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit und des Menschenrechtsschutzes grundsätzlich Vertrauen entgegenzubringen ist. Dieser Grundsatz kann so lange Geltung beanspruchen, wie er nicht durch entgegenstehende Tatsachen erschüttert wird (…)
Zum anderen ist entscheidend zu berücksichtigen, dass die Vereinigten Staaten die mögliche Anwendung des Präsidentenerlasses vom 13. November 2001 durch ihre Zusicherung vom 22. Mai 2003 ausgeschlossen haben. (…) Zudem kann angenommen werden, dass die Bundesregierung über ihre diplomatischen Vertretungen das weitere Verfahren in den Vereinigten Staaten von sich aus beobachtet.“ (Seite 749)
BVerfG billigt Ablehnung des vorläufigen verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes gegen Tischgebet in einem kommunalen Kindergarten
Die 2. Kammer des Ersten Senats führt u. a. aus, das Beschreiten des Hauptsacherechtswegs sei auch deshalb zumutbar, weil die für den Kindergarten Verantwortlichen nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts bemüht sind, der besonderen Situation des beschwerdeführenden Kindes „sowohl durch eine schonende Gestaltung des Ablaufs der gemeinsamen Mahlzeit als auch in der Weise Rechnung zu tragen, dass auf die anderen Kindergartenkinder pädagogisch dahingehend eingewirkt wird, dem nicht am Tischgebet teilnehmenden beschwerdeführenden Kind respektvoll zu begegnen und sein Verhalten alsAusdruck einerachtenswerten eigenen weltanschaulichen Überzeugung zu tolerieren.“ (Seite 756)
BVerfG differenziert bei der Auferlegung von Dolmetscherkosten im Strafverfahren
Die 3. Kammer des Zweiten Senats stellt fest: „In jedem Fall wird der Inhaftierte vor Weiterleitung an einen Dolmetscher darauf hinzuweisen sein, dass er ggf. Übersetzungskosten selbst zu tragen hat, um ihm die Möglichkeit zu geben, diese Aufwendungen zu sparen.
Da im konkreten Fall keinerlei Differenzierung vorgenommen und offenbar die Übersetzung sämtlicher Briefe angeordnet worden ist, ohne den Beschwerdeführer auf die ggf. entstehenden Kosten hinzuweisen, können die angegriffenen Entscheidungen hinsichtlich der für die Briefkontrolle entstandenen Übersetzungskosten keinen Bestand haben.
Die Auferlegung der Kosten für die Übersetzung der Telefonüberwachungsprotokolle verstößt hingegen nicht gegen Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG.“ (Seite 757)
Mündliche Verhandlung vor dem EGMR über Menschenrechtsbeschwerden wegen Ost-Enteignungen (sowjetische Besatzungszone und DDR) am 29. Januar 2004. (Seite 764)