EuGRZ 2004 |
27. Dezember 2004
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31. Jg. Heft 22
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Informatorische Zusammenfassung
Gertrude Lübbe-Wolff, Karlsruhe, hinterfragt die Zulässigkeitsrechtsprechung des BVerfG zu Substantiierung und Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde
«Um zu vermeiden, dass eine Verfassungsbeschwerde entweder nach Einlegung eines aussichtslosen Rechtsbehelfs an Verfristung oder wegen Nichteinlegung eines nicht aussichtslosen Rechtsbehelfs am Subsidiaritätsgrundsatz scheitert, kommt es danach auf die richtige Einschätzung der Aussichten an, genauer: auf die richtige Prognose darüber, wie das Kriterium der Aussichtslosigkeit oder eine der gebräuchlichen Varianten durch das Bundesverfassungsgericht gehandhabt werden wird, – eine Einschätzung, die nicht nur anwaltlich unberatenen Beschwerdeführern Kopfzerbrechen bereiten kann. (…)
Darüber hinaus wird unter dem Gesichtspunkt der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde auch verlangt, dass der Beschwerdeführer dem geltend gemachten Grundrechtsverstoß bereits im fachgerichtlichen Verfahren mit zielführendem Vorbringen entgegengetreten ist. (…) Das Gebot der Rechtswegerschöpfung gilt, mit anderen Worten rügebezogen. (…)
Was alles zur Darlegung des Sachverhalts gehört, der die geltend gemachte Grundrechtsverletzung als möglich erscheinen lässt, bleibt in dieser Formulierung allerdings noch offen. Die diesbezüglichen Ansprüche sind mit wachsender Belastung des Gerichts deutlich gestiegen. Auch die mittelbaren, in den Darlegungsanforderungen implizierten Anforderungen an die Rechtskenntnisse der Beschwerdeführer sind gestiegen und erreichen nicht selten ein Niveau, dem auch Spitzenanwälte und Rechtsprofessoren nicht mehr gewachsen sind.»
Die Autorin stellt fest: «Zulässigkeitsvoraussetzungen sind als Instrument, die Belastung der Justiz zu steuern, nicht prinzipiell problematisch. Im Gegenteil: Für Effizienz und Rechtsschutzgewährung zu sorgen, ist eine ihrer wichtigsten Funktionen, und dazu gehört auch der Schutz vor einer Überlastung, die die Gerichte zu zeitgerechten Entscheidungen unfähig machen würde. (…) Das ändert nichts an dem Problem, dass die Zulässigkeitsrechtsprechung des Gerichts sich in einem langen Prozess aus vielen kleinen Schritten weit von dem entfernt hat, was die Rechtsschutzsuchenden aus dem Gesetz entnehmen können. Ihren Entlastungszweck erfüllen die aufgestellten Zulässigkeitsvoraussetzungen daher zu einem erheblichen Teil nicht nach dem Effizienzprinzip, sondern nach dem Stolpersteinprinzip: nicht dadurch, dass die Beschwerdeführer sich auf sie einstellen und dem Gericht damit bessere Grundlagen für zügige Entscheidungen liefern, sondern dadurch, dass sie wenig bekannt und zum Teil auch nicht leicht zu ermitteln sind und die Beschwerdeführer – vor allem die anwaltlich nichtvertretenen, aber nicht nur sie – deshalb Verfassungsbeschwerden einlegen, mit denen wegen Unzulässigkeit verhältnismäßig schnell fertigzuwerden ist. Diese Fehlentwicklung zu korrigieren, ist allerdings nicht einfach und wird, wenn und gleich in welcher Form es geschieht, Zeit in Anspruch nehmen.» (Seite 669)
Hans-Joachim Cremer, Mannheim, wägt die Völkerrechtsfreundlichkeit des Zweiten Senats des BVerfG gegen seine falsch verstandene Souveränität im Görgülü-Beschluss zur Bindungswirkung von EGMR-Urteilen ab
«In seiner Abwehrhaltung gegenüber dem europäischen Menschenrechtsschutzsystem setzt sich der Görgülü-Beschluss zum einen deutlich ab von dem EMRK-freundlichen Ansatz, der vom selben, natürlich nicht gleich besetzten, Senat in einer früheren Entscheidung entwickelt worden ist [BVerfGE 74, 358 (370) = EuGRZ 1987, 203 (206)]. Nunmehr bestimmt der Zweite Senat des BVerfG das grundsätzliche Verhältnis von Völkervertragsrecht, und insbesondere der EMRK, zur deutschen Rechtsordnung in teils unklarer, teils fragwürdiger Weise, indem er den Einwirkungen der Konvention und den Entscheidungen des EGMR die – auch von Präsident Papier [Vorsitzender des Ersten Senats, FAZ-Interview vom 9.12.2004] herausgestrichene – „Souveränität“ entgegensetzt. (…)
Immerhin nimmt der Zweite Senat im wesentlichen richtig wahr, welche Wirkung die EMRK der Verurteilung eines Staates durch den EGMR zuschreibt. Seine Haltung dazu, wie sich diese Bindungswirkung von EGMR-Urteilen im innerstaatlichen, deutschen Recht entfaltet, kann indessen bestenfalls als unscharf und ambivalent bezeichnet werden. (…)
Doch darf nicht übersehen werden, dass das BVerfG bei alledem durchaus EMRK-freundlich davon ausgeht, dass sich die Bindungswirkung einer Entscheidung des EGMR im Innern der deutschen Rechtsordnung entfaltet. Es stellt sogar fest, diese Bindungswirkung (wenn auch abgeschwächt zur Berücksichtigungspflicht) erstrecke sich auf alle staatlichen Organe. (…) Ferner ist dem Beschluss zufolge in Fällen, in denen ein deutsches Gericht ein Urteil des EGMR nicht zur Kenntnis nimmt oder nicht hinreichend „berücksichtigt”, einer durch die Entscheidung dieses Gerichts beschwerten Partei die Möglichkeit eröffnet, dagegen Verfassungsbeschwerde zu erheben. (…)
Insgesamt aber erweist sich der Görgülü-Beschluss bei genauer Lektüre an vielen Stellen als inkonsistent. Er schwankt zwischen Völkerrechtsfreundlichkeit und der Behauptung einer deutschen Verfassungssouveränität. Dies schürt den Verdacht, dass die Mitglieder des Zweiten Senats uneins sind, was die innerstaatlichen Wirkungen des europäischen Systems zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten angeht. (…)
Gerade die Abwehrhaltung des Görgülü-Beschlusses gegenüber Einflüssen der Rechtsprechung des EGMR auf das deutsche Recht wurde auch in der Medienöffentlichkeit als dominant wahrgenommen. Wie das [Zeitungs-]Interview mit dem Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, der selbst nicht dem Zweiten Senat angehört, erweist, hat diese Abwehrhaltung Anhänger offenbar über die Senatsgrenzen hinweg. Umso stärker könnte sie auf andere Europaratsstaaten ausstrahlen und einem der ausgefeiltesten und praktisch wirksamsten Systeme des Menschenrechtsschutzes schweren Schaden zufügen. Der bloße Eindruck, die Bundesrepublik Deutschland wolle den von ihr mit der Ratifikation der Konvention und ihrer Protokolle übernommenen völkerrechtlichen Verpflichtungen nicht nachkommen, hervorgerufen von einem der angesehensten Verfassungsgerichte innerhalb Europas, untergräbt die Autorität des EGMR und zersetzt die Verbindlichkeit der europäischen Menschenrechtsstandards.» (Seite 683)
Cf. den hier kommentierten Görgülü-Beschluss des BVerfG unten S. 741; das nachstehende Urteil des EGMR, um dessen konkrete Bindungswirkung es im Beschluss des BVerfG geht, S. 700; die vor dem BVerfG wegen Nichtbeachtung des vorgenannten EGMR-Urteils angegriffene Entscheidung des OLG Naumburg, S. 749.
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Straßburg, sieht in Verweigerung des Sorgerechts und einjährigem Ausschluss des Umgangsrechts gegenüber dem nichtehelichen Vater Verletzungen von Art. 8 EMRK / Görgülü gegen Deutschland
Die Mutter hatte sich vor der Geburt vom Vater des Kindes getrennt und dieses unmittelbar nach der Geburt zur Adoption freigegeben. Der Junge wurde in der Familie zur Pflege untergebracht, die ihn adoptieren möchte.
Der EGMR weist auf seine Rechtsprechung hin, die verlangt, «dass der Staat in Fällen, in denen nachweislich Familienbande zu einem Kind bestehen, so handeln muss, dass diese Bande sich weiterentwickeln können». Demzufolge «ist jeder Staat nach Art. 8 der Konvention verpflichtet, auf die Zusammenführung eines leiblichen Elternteils mit seinem Kind hinzuwirken». In diesem Zusammenhang stellt der Gerichtshof ferner fest, «dass eine wirksame Achtung des Familienlebens voraussetzt, dass zukünftige Beziehungen zwischen einem Elternteil und seinem Kind nicht vom bloßen Verstreichen der Zeit abhängen dürfen».
Der EGMR räumt ein, «dass eine sofortige Trennung von Christofers Pflegefamilie negative Folgen für sein körperliches und seelisches Befinden hätte haben können. Im Hinblick darauf, dass der Bf. Christofers leiblicher Vater und unstreitig bereit und in der Lage ist, ihn zu betreuen, ist der Gerichtshof jedoch nicht überzeugt, dass das OLG Naumburg alle möglichen Wege zur Lösung des Problems geprüft hat.» (…)
Zur Sorgerechtsverweigerung durch das OLG heißt es weiter: «Die vom Amtsgericht angestrebte Lösung, nämlich die Erweiterung und Erleichterung der Kontakte zwischen dem Bf. und Christofer, der zunächst bei der Pflegefamilie verbleiben sollte, wurde anscheinend nicht in Betracht gezogen. Der Gerichtshof weist diesbezüglich darauf hin, dass die Möglichkeiten einer Zusammenführung immer weiter abnehmen und schließlich zunichte gemacht werden, wenn der biologische Vater und das Kind überhaupt nicht oder nur so selten zusammen kommen dürfen, dass nicht zu erwarten ist, dass zwischen ihnen eine natürliche Bindung entsteht.» (Seite 700)
Cf. die Hinweise auf die im Zusammenhang mit dem Görgülü-Urteil des EGMR ergangenen weiteren Entscheidungen des OLG Naumburg und des BVerfG oben bei S. 683.
EGMR (Große Kammer, GK) bestätigt in Abänderung des Kammer-Urteils (EuGRZ 2002, 25) die richterliche Beurteilung des Kindeswohls ohne die absolute Notwendigkeit einer direkten Befragung des Kindes / Sahin gegen Deutschland (GK)
Das Gericht hatte von der Befragung des drei bzw. in einem späteren Verfahrensabschnitt fünf Jahre alten Kindes wegen der Bedenken der psychologischen Sachverständigen abgesehen und das vom nichtehelichen Vater beantragte Umgangsrecht abgelehnt.
Der EGMR (GK) stellt entgegen dem Kammer-Urteil ausdrücklich fest, «dass es generell Sache der nationalen Gerichte ist, das ihnen vorliegende Beweismaterial zu würdigen, dies gilt auch für die Mittel der Feststellung des erheblichen Sachverhalts. Zu sagen, dass innerstaatliche Gerichte in der Frage des Umgangsrechts eines nicht sorgeberechtigten Elternteils ein Kind stets vor Gericht anhören müssen, ginge zwar zu weit, doch ausschlaggebend für diese Frage sind die besonderen Umstände des jeweiligen Falls unter gebührender Berücksichtigung des Alters und der Reife des Kindes.» (Seite 707)
EGMR (Große Kammer, GK) anerkennt richterliche Unabhängigkeit und verneint in Abänderung des Kammer-Urteils (EuGRZ 2001, 588) eine schematische Pflicht zur Einholung eines psychologischen Gutachtens zur Ermittlung der „wahren“ Wünsche eines, den Umgang mit dem nichtehelichen Vater ablehnenden, Kindes / Sommerfeld gegen Deutschland (GK)
«Zu sagen, dass innerstaatliche Gerichte in der Frage des Umgangsrechts eines nicht sorgeberechtigten Elternteil stets einen psychologischen Sachverständigen hinzuziehen müssen, ginge zwar zu weit, doch ausschlaggebend für diese Frage sind die besonderen Umstände des jeweiligen Falls unter gebührender Berücksichtigung des Alters und der Reife des betreffenden Kindes.
In diesem Zusammenhang weist der Gerichtshof darauf hin, dass das Mädchen bei seiner Anhörung durch die Amtsrichterin zur Frage des Umgangs dreizehn Jahre alt war. Dieselbe Richterin hatte sie bereits im Alter von zehn und elf Jahren im Rahmen des ersten Verfahrens befragt. Durch den Vorteil des unmittelbaren Kontakts zu dem Mädchen war das Amtsgericht durchaus in der Lage, seine Aussagen zu bewerten und festzustellen, ob sie zu einer autonomen Willensbildung fähig war oder nicht.» (Seite 711)
EGMR verurteilt Wegnahme sämtlicher acht Kinder einer Familie, darunter ein Neugeborenes, ohne vorherige Anhörung der Eltern zur Unterbringung an vier verschiedenen geheim gehaltenen Orten als Verletzung des Rechts der Eltern auf Achtung des Familienlebens (Art. 8 EMRK) / Haase gegen Deutschland
Die Bf. hatten u.a. vorgetragen, dass der Beschluss des Amtsgerichts Münster vom 17.12.2001, mit dem ihnen das Sorgerecht entzogen worden war, vom Bundesverfassungsgericht zwar aufgehoben worden sei, die Trennung von ihren Kindern aber fortbestehe.
Der EGMR hat auch die Methode der Vollziehung des Beschlusses des AG Münster geprüft und stellt fest: «Das plötzliche Verbringen von sieben Kindern aus Schule, Kindergarten und häuslicher Umgebung und ihre Unterbringung in unbekannten Pflegefamilien und Heimen sowie das Verbot jeglichen Umgangs mit den Bf. war durch die Lage nicht erfordert und kann nicht als angemessen angesehen werden.
Insbesondere stellt das Verbringen eines neugeborenen Kindes aus dem Krankenhaus eine äußerst einschneidende Maßnahme dar. Diese Maßnahme hatte für die Mutter traumatische Wirkung und setzte sie einer körperlichen und seelischen Belastung aus; darüber hinaus wurden dem Säugling die Möglichkeit der Nähe zu seiner leiblichen Mutter und, wie von den Bf. dargelegt, die Vorteile des Stillens vorenthalten. Durch das Verbringen wurde auch dem Vater die Möglichkeit genommen, seiner Tochter nach der Geburt nahe zu sein.» (Seite 715)
Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH), Luxemburg, verurteilt Italien wegen der Weigerung zu loyaler Zusammenarbeit mit der EU-Kommission zur Aufklärung eines Falls der Verletzung von Sicherheitsnormen beim Umweltschutz / Rs. Kommission gegen Italien
«Nach Art. 10 EG müssen die Mitgliedstaaten nach Treu und Glauben an den Untersuchungen der Kommission im Rahmen von Artikel 226 EG mitwirken und ihr alle zu diesem Zweck angeforderten Auskünfte erteilen. Die Italienische Republik hat aber, selbst nachdem sie mehrfach dazu aufgefordert worden war, die angeforderten Auskünfte nicht erteilt. (…)
Demzufolge ist festzustellen, dass die Italienische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Artikel 10 EG verstoßen hat, dass sie in einer die Gesundheit und die Sicherheit von Arbeitnehmern in einer in der Gemeinde Mandello del Lario in der Lombardei gelegenen Kläranlage betreffenden Sache nicht loyal mit der Kommission zusammengearbeitet hat.» (Seite 723)
Eidgenössisches Versicherungsgericht (EVG), Luzern, bekräftigt prinzipiellen Anspruch auf öffentliche Gerichtsverhandlung in sozialversicherungsrechtlichen Streitigkeiten
«Nachdem der Versicherte in der vorinstanzlichen Beschwerdeschrift ausdrücklich einen Antrag auf Anordnung einer öffentlichen Verhandlung gestellt hatte, kann auch darin, dass er unter Hinweis darauf, dass die Ausführungen der IV-Stelle als bestritten zu gelten hätten, soweit sie von der beschwerdeführerischen Darstellung abwichen, von der Einreichung einer Replikschrift absah, kein Verzicht auf die Durchführung einer öffentlichen Verhandlung erblickt werden.» (Seite 724)
Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, erkennt im Hinblick auf die entschädigungslosen Enteignungen in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands 1945-1949 keine völkerrechtliche Restitutionspflicht des wiedervereinigten Deutschlands
«Das Grundgesetz will die Öffnung der innerstaatlichen Rechtsordnung für das Völkerrecht und die internationale Zusammenarbeit in den Formen einer kontrollierten Bindung; es ordnet nicht die Unterwerfung der Rechtsordnung unter die Völkerrechtsordnung und den unbedingten Geltungsvorrang von Völkerrecht vor dem Verfassungsrecht an, sondern will den Respekt vor friedens- und freiheitswahrenden internationalen Organisationen und dem Völkerrecht erhöhen, ohne die letzte Verantwortung für die Achtung der Menschenwürde und die Beachtung der Grundrechte durch die deutsche öffentliche Gewalt aus der Hand zu geben. (…)
Der Bundesrepublik Deutschland erwuchs mit der deutschen Vereinigung die souveräne Kompetenz, über das Fortbestehen der besatzungshoheitlichen Enteignungen zu entscheiden. Das Völkerrecht verpflichtete die Bundesrepublik Deutschland nicht zur Restitution. Sie unterlag nur einer Pflicht zur erfolgsbezogenen Zusammenarbeit, um einen Zustand näher am Völkerrecht zu erreichen.»
Das BVerfG betont abschließend, seine Entscheidung stehe nicht im Widerspruch zur EMRK und der Rechtsprechung des EGMR. (Seite 728)
Richterin Lübbe-Wolff leitet ihre abweichende Meinung mit einem Satz ein, der so prägnant in Karlsruhe noch nicht zu lesen war: «Der Senat antwortet auf Fragen, die der Fall nicht aufwirft, mit Verfassungsgrundsätzen, die das Grundgesetz nicht enthält.» (Seite 740)
BVerfG legt die Bindungswirkung von Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) einschränkend aus, eröffnet jedoch den Weg der Verfassungsbeschwerde wegen Missachtung von EGMR-Urteilen durch innerstaatliche Gerichte / Görgülü-Beschluss
«Sowohl die fehlende Auseinandersetzung mit einer Entscheidung des Gerichtshofs als auch deren gegen vorrangiges Recht verstoßende schematische „Vollstreckung“ können gegen Grundrechte in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip verstoßen.» Mit diesen beiden Angelpunkten versucht das BVerfG, seine Verfahrensherrschaft inhaltlich zu sichern.
«Wenn das Konventionsrecht der Europäischen Menschenrechtskonvention und mit ihm der Bundesgesetzgeber auf der Grundlage von Art. 59 Abs. 2 GG eine unmittelbare Geltung der Rechtsentscheide angeordnet haben, so entfalten sie unterhalb des Verfassungsrechts diese Wirkung. Diese Rechtswirkung festzustellen, ist innerstaatlich zunächst Sache der zuständigen Fachgerichte. (…)
Sind für die Beurteilung eines Sachverhalts Entscheidungen des Gerichtshofs einschlägig, so sind grundsätzlich die vom Gerichtshof in seiner Abwägung berücksichtigten Aspekte auch in die verfassungsrechtliche Würdigung, namentlich die Verhältnismäßigkeitsprüfung einzubeziehen, und es hat eine Auseinandersetzung mit den vom Gerichtshof gefundenen Abwägungsergebnissen stattzufinden (vgl. Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats des BVerfG, EuGRZ 2004, S. 317 (319)).
Hat der Gerichtshof in einem konkreten Beschwerdeverfahren unter Beteiligung der Bundesrepublik Deutschland einen Konventionsverstoß festgestellt und dauert dieser Verstoß an, so ist die Entscheidung des Gerichtshofs im innerstaatlichen Bereich zu berücksichtigen, das heißt die zuständigen Behörden oder Gerichte müssen sich mit der Entscheidung erkennbar auseinandersetzen und gegebenenfalls nachvollziehbar begründen, warum sie der völkerrechtlichen Rechtsauffassung gleichwohl nicht folgen. (…)
Allerdings ist das Bundesverfassungsgericht im Rahmen seiner Zuständigkeit auch dazu berufen, Verletzungen des Völkerrechts, die in fehlerhafter Anwendung oder Nichtbeachtung völkerrechtlicher Verpflichtungen durch deutsche Gerichte liegen und eine völkerrechtliche Verantwortlichkeit Deutschlands begründen können, nach Möglichkeit zu verhindern und zu beseitigen. (…)
Vor diesem Hintergrund muss es jedenfalls möglich sein, gestützt auf das einschlägige Grundrecht, in einem Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht zu rügen, staatliche Organe hätten eine Entscheidung des Gerichtshofs missachtet oder nicht berücksichtigt. Dabei steht das Grundrecht in einem engen Zusammenhang mit dem im Rechtsstaatsprinzip verankerten Vorrang des Gesetzes, nach dem alle staatlichen Organe im Rahmen ihrer Zuständigkeit an Gesetz und Recht gebunden sind.» (Seite 741)
Cf. den kritischen Aufsatz von Cremer, in diesem Heft S. 683 ff.
Oberlandesgericht Naumburg widerspricht der Bindungswirkung des EGMR-Urteils im Fall Görgülü gegen Deutschland in Bezug auf innerstaatliche Umgangs- und Sorgerechtsentscheidungen
«Die Wirkung des Urteilsspruchs [EGMR, EuGRZ 2004, 700] erschöpft sich mithin de iure und de facto, vorbehaltlich einer innerstaatlichen Gesetzesänderung, in der Feststellung und Sanktionierung einer in der Vergangenheit nach Ansicht des EGMR liegenden Rechtsverletzung, sodass einem wie immer zu wertenden, jedenfalls für die Gerichte unverbindlichen Ausspruch hinsichtlich einer künftig nach Ansicht des Gerichtshofs hierzulande gesetzlich gebotenen Änderung des Umgangs- und Sorgerechts nichtehelicher Väter ebenso wenig Bedeutung, geschweige denn bindende Wirkung zukommt wie die Entscheidung selbst ohne Einfluss auf die Rechtskraft der beanstandeten Entscheidung bleibt.» (Seite 749)
Der vorstehende Beschluss des OLG Naumburg wurde vom BVerfG aufgehoben, s.o. S. 741.
Ministerkomitee des Europarats, Straßburg, rügt Italien wegen Nichtumsetzung von EGMR-Urteilen
Vor dem Hintergrund des Urteils Immobiliare Saffi vom 28.7.1999 (HRLJ 2000, 442) und 140 weiteren Parallelfällen wird die Nichtvollstreckung bestimmter innerstaatlicher Gerichtsurteile als struktureller Mangel beanstandet. (Seite 752)
EGMR erklärt Menschenrechtsbeschwerde wegen überlanger Dauer eines Strafverfahrens für zulässig / Uhl gegen Deutschland
Der Fall ist von besonderem Interesse, weil das BVerfG die zuvor erhobene Verfassungsbeschwerde wegen unzureichender Substantiierung nicht zur Entscheidung angenommen hatte. (Seite 752)