EuGRZ 1997 |
12. Oktober 1997
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24. Jg. Heft 17-18
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Informatorische Zusammenfassung
Hans Christian Krüger, Straßburg, entwickelt und stellt Auswahl-Kriterien der Richter für den neuen Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zur Diskussion
Erstens sollen die drei Kandidaten auf der Vorschlagsliste der Regierungen in alphabetischer Reihenfolge aufgeführt werden, um zu unterstreichen, daß alle drei Kandidaten den gleichen Rang einnehmen und nicht, wie bisher, der erstgenannte Kandidat den auf diese Weise erklärten Vorzug der Regierung genießt.
Zweitens sollen die Kandidaten jeweils den drei großen juristischen Berufsgruppen entstammen: Hochschullehrer, Richter bzw. Justizbeamte und Rechtsanwälte. Zur Gleichstellung der Geschlechter sollte im Auge behalten werden, daß ein Kandidat jeweils dem anderen Geschlecht angehört.
Drittens soll zu dem Dreier-Vorschlag der Regierung von einer unabhängigen Institution – wie Verfassungsgerichtshof, Oberster Gerichtshof oder das für die Auswahl von Richtern auf nationaler Ebene zuständige Gremium – eine kurze Stellungnahme darüber abgegeben werden, ob die vorgeschlagenen Kandidaten die in der Konvention vorgesehenen Qualifikationen besitzen.
Krüger führt zur Begründung dieses Vorschlages an: «Mehr als die Urteile anderer internationaler Gerichte schneiden die Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte oft tief in die Rechts- und Verfassungstraditionen der Vertragsstaaten ein und haben möglicherweise auch politische Konsequenzen. Es ist daher besonders wichtig, Richter zu finden, deren Rechtskenntnisse und Autorität allgemeine Anerkennung finden, möglichst sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene.»
Um die Kontinuität auch in der Rechtsprechung des EGMR sicherzustellen, plädiert der Autor dafür, daß mehrere der zur Zeit amtierenden Kommissionsmitglieder und Richter in den neuen Gerichtshof gewählt werden. (Seite 397)
Erik Staebe, Hamburg, untersucht Hintergrund und Realisierungschancen der Ankündigung der neuen britischen Regierung, die EMRK in innerstaatliches Recht umzusetzen Der Autor zeichnet die rechtspolitische Diskussion der letzten 50 Jahre nach und kommt zu dem Schluß: «Die Diskussion um die Umsetzung der EMRK oder eine andere Form des Grundrechtskatalogs ist in eine Sackgasse geraten. Seit längerem ist die Labour-Partei mit dem zumindest haushaltspolitisch leicht zu realisierenden Vorschlag angetreten, die Diskussion voranzutreiben. Nun zeigen sich ernsthafte verfassungsrechtliche Hindernisse. Entscheidende und offenbar nicht zu überwindende Hürde ist die Doktrin der Parlamentssouveränität. In der von dieser Doktrin geprägten Diskussion ist unabhängig von jeder Form des "faktischen Vorrangs" prinzipiell kein Erlaß einer dauerhaften Verfassung möglich. Trotz der Nachteile, die ein geschriebener Verfassungstext mit sich bringt, läßt sich zumindest aus der rechtspolitischen Diskussion jedoch der Schluß ziehen, daß ein solcher in Großbritannien gewünscht wird. (…)
Die Regierung selbst hat ihrem ursprünglich so forcierten Vorhaben inzwischen mehr Zeit gegeben. So ist damit zu rechnen, daß in der zweiten Jahreshälfte zunächst ein White Paper veröffentlicht wird, um die Diskussion voranzubringen.» (Seite 401)
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Straßburg, sieht in überlanger Verfahrensdauer (mehr als sieben Jahre) vor dem Bundesverfassungsgericht einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK
Probstmeier gegen Deutschland ist ein Parallelfall zu dem am selben Tage entschiedenen Fall Pammel gegen Deutschland (EuGRZ 1997, 310). Beide Fälle betreffen Richtervorlagen wegen der gesetzlichen Beschränkungen des Pachtzinses für Kleingärten.
Der EGMR betont, daß im Hinblick auf die Arbeitsüberlastung des Bundesverfassungsgerichts der deutschen Vereinigung im vorliegenden Fall lediglich eine zweitrangige Rolle zukommt, denn am 3. Oktober 1990 war die Sache Probstmeier bereits seit mehr als fünf Jahren beim Bundesverfassungsgericht anhängig.
Deutschland wird verurteilt, zum Ausgleich des materiellen Schadens DM 15.000,– und als Ersatz für Kosten und Auslagen knapp DM 9.000,– zu zahlen. (Seite 405)
Verfassungsgericht der Russischen Föderation (RussVerfG), Moskau, erklärt Verlust der russischen Staatsbürgerschaft wegen Aufenthalts außerhalb der Landesgrenzen (in Litauen) am gesetzlichen Stichtag (6.2.1992) für diskriminierend
Im Smirnoff-Urteil stellt das RussVerfG u.a. fest: «Das Verständnis der angefochtenen Norm des Gesetzes durch die rechtsanwendende Praxis dahingehend, daß es faktisch den Verlust der Staatsangehörigkeit der Russischen Föderation kraft Geburt ohne freie Willensäußerung des betroffenen Staatsbürgers begründet, widerspricht dem Art. 6 Abs. 3 der Verfassung der Russischen Föderation, wonach dem Bürger der Russischen Föderation seine Staatsangehörigkeit nicht entzogen werden kann. Diese Verfassungsbestimmung entspricht dem Art. 15 Abs. 2 der von der Generalversammlung der Vereinten Nationen gebilligten und verkündeten Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948, die festlegt, daß "niemandem seine Staatsangehörigkeit noch sein Recht, seine Staatsangehörigkeit zu wechseln, willkürlich entzogen werden darf".
Bei der Formulierung dieses Verbotes gehen die Verfassung der Russischen Föderation und die völkerrechtlichen Akte davon aus, daß die Persönlichkeit in allen Rechtsbeziehungen, darunter auch in denen, die mit der Staatsangehörigkeit zusammenhängen, nicht als Objekt staatlicher Tätigkeit, sondern als vollberechtigtes Subjekt auftritt. Dies verpflichtet den Staat, die Achtung der Würde der Person bei der Verwirklichung des Rechts auf die Staatsangehörigkeit zu gewährleisten (Art. 21 Abs. 1 der Verfassung der Russischen Föderation). Die willkürliche Entziehung odersogar der zeitweilige Verlust der legitim erworbenen Staatsangehörigkeit ohne Berücksichtigung der Willensäußerung des Staatsbürgers unter Verstoß gegen Art. 6 der Verfassung der Russischen Föderation schmälert darüber hinaus die Würde der Person, was in Übereinstimmung mit Art. 18, 21 Abs. 1 und Art. 55 Abs. 2 der Verfassung der Russischen Föderation sowohl beim Erlaß als auch bei der Anwendung der Gesetze unzulässig ist.» (Seite 410)
Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, billigt die Verurteilung wegen Totschlags und versuchten Totschlags von sechs ehemaligen DDR-Generälen wegen Tötung von Flüchtlingen an der innerdeutschen Grenze
Die 2. Kammer des Zweiten Senats begründet den Nichtannahme-Beschluß u.a. folgendermaßen: «Das Vertrauen in die Praxis der DDR, Tötungen von Flüchtlingen an der Grenze zur Bundesrepublik Deutschland – auch über die Regelungen des Grenzgesetzes der DDR hinaus – als generell gerechtfertigt anzusehen, genießt keinen verfassungsrechtlichen Schutz.»
Der strikte Vertrauensschutz des Art. 103 Abs. 2 GG müsse zurücktreten, «wenn der Träger der Staatsmacht für den Bereich schwersten kriminellen Unrechts – wie etwa die vorsätzliche Tötung von Menschen – zwar Straftatbestände normiert, aber die Strafbarkeit gleichwohl durch Rechtfertigungsgründe ausschließt, indem er über die geschriebenen Normen hinaus zu solchem Unrecht auffordert, es begünstigt, und so die in der Völkerrechtsgemeinschaft allgemein anerkannten Menschenrechte in schwerwiegender Weise mißachtet.» (Seite 413)
BVerfG lehnt Verfassungsbeschwerde gegen Vollzug einer angedrohten Abschiebung nach Bosnien-Herzegowina wegen Nichterschöpfung des Rechtsweges als unzulässig ab
Die 1. Kammer des Zweiten Senats unterstreicht, daß der Bf. Gefahren für Leib, Leben oder persönliche Freiheit infolge der Abschiebung nicht substantiiert geltend gemacht hat. Weiter heißt es:
«Schon das Verwaltungsgericht hat dem Antragsteller entgegengehalten, daß er angesichts der bestehenden vollziehbaren Ausreisepflicht Veranlassung und auch ausreichend Zeit gehabt habe, seine Ausreise vorzubereiten und die nunmehr geltend gemachten Nachteile zu vermeiden; ein Vertrauen darauf, daß bis zum Ablauf der anläßlich der Einziehung des Passes gesetzten Meldefrist die Ausreisepflicht nicht durchgesetzt werde, sei nicht schutzwürdig, worauf der Antragsteller nach telefonischer Auskunft des Landeseinwohneramtes Berlin sogar ausdrücklich hingewiesen worden sei.» (Seite 417)
BVerfG präzisiert die Mindestanforderungen an die Abweisung einer Asylklage als offensichtlich unbegründet bzw. an die Feststellung einer inländischen Fluchtalternative
Die 1. Kammer des Zweiten Senats gibt der Vb. eines inzwischen 16jährigen Kurden aus dem von bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Militär und PKK betroffenen Osten der Türkei statt, der im Alter von elf Jahren in das Bundesgebiet eingereist ist.
«Die für die Beurteilung maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen sind vom Bundesverfassungsgericht bereits entschieden. Danach ist es mit Art. 19 Abs. 4 in Verbindung mit Art. 16a Abs. 1 GG unvereinbar, daß das Verwaltungsgericht mit letztlich spekulativen Erwägungen dem Beschwerdeführer den vollen Nachweis für das Nichtbestehen einer inländischen Fluchtalternative aufgebürdet und zugleich den weiteren Rechtsweg abgeschnitten hat.» (Seite 419)
BVerfG unterstreicht den Rechtsschutz verurteilter ausländischer Strafgefangener bei behördlicher Ablehnung ihres Antrags auf Überstellung zur Strafvollstreckung in ihr Heimatland
Die beiden erfolgreichen Beschwerdeführer sind Türken, davon einer kurdischer Volkszugehörigkeit, die wegen Drogendelikten zu Freiheitsstrafen von 12 bzw. 13 Jahren verurteilt wurden. Die Beschwerde eines weiteren Bf. in einem gleichgelagerten Fall wird nicht zur Entscheidung angenommen. In einem der drei Ausgangsverfahren hat die zuständige Staatsanwaltschaft ihre ablehnende Entscheidung damit begründet, daß nach vorliegenden Erkenntnissen zu erwarten sei, daß der Verurteilte im Falle einer Vollstreckung der Restfreiheitsstrafe in der Türkei bereits nach Verbüßung von 42% der verhängten Freiheitsstrafe zur Bewährung entlassen werde.
Der Zweite Senat kommt zu dem Ergebnis: «Das Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen und das Übereinkommen über die Überstellung verurteilter Personen veranlassen ein Verfahren, in dem die Grundrechtsposition des Verurteilten neben dem öffentlichen Interesse an der Strafverfolgung zu berücksichtigen ist. Findet ein zweistufiges Verfahren statt, in dem vor der Bewilligungsentscheidung des Bundesministeriums der Justiz die Staatsanwaltschaft als Vollstreckungsbehörde die vollstreckungsrechtlichen Belange prüft und eine Überstellung anregt, so muß der Resozialisierungsanspruch des Verurteilten bei der Entscheidung der Staatsanwaltschaft Berücksichtigung finden. Art. 19 Abs. 4 GG verbürgt insoweit den gerichtlichen Rechtsschutz zur Prüfung, ob die Vollstreckungsbehörde ihr Ermessen fehlerfrei ausgeübt hat.» (Seite 421)
BVerfG bestätigt Bestrafung für wiederholte Zuwiderhandlung gegen räumliche Beschränkung der Aufenthaltsgestattung für Asylbewerber als verfassungsgemäß
«Eine (…) "wiederholte" Zuwiderhandlung gegen die Aufenthaltsbeschränkung mit Strafe zu bedrohen, ist zur Durchsetzung der mit der Regelung verfolgten Zwecke nicht nur geeignet und erforderlich, auch das Übermaßverbot ist nicht verletzt. Die strafrechtliche Sanktion hat die wirkungsvolle Durchsetzung des öffentlichen Interesses daran im Auge, unkontrollierte Bewegungen der in großer Zahl in der Bundesrepublik Deutschland befindlichen Asylbewerber zu verhindern und sicherzustellen, daß sie sich jederzeit zur Verfügung der Behörden und Gerichte halten.» (Seite 427)
BVerfG bestätigt verfassungskonforme Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zur Nichtbeteiligung des Betriebsrats bei Streik-bedingten Versetzungen und Einstellungen
Die 2. Kammer des Ersten Senats weist eine Richtervorlage als unzulässig zurück, weil diese unzureichend begründet ist: «Das Bundesarbeitsgericht vertritt in ständiger Rechtsprechung die Auffassung, daß die Beteiligungsrechte des Betriebsrates während des Arbeitskampfes arbeitskampfkonform einzuschränken seien. Eine solche Auslegung sei auch für den Fall der Beteiligung des Betriebsrates an arbeitskampfbedingten Einstellungen und Versetzungen möglich und geboten (…). Diese Auffassung hat in der Literatur weitgehend Zustimmung gefunden (…).
Das vorlegende Gericht führt diese höchstrichterliche Rechtsprechung und das sich zu ihr äußernde Schrifttum zwar an, setzt sich aber mit der Frage einer Auslegung der Vorschrift, insbesondere im Sinne einer teleologischen Reduktion, wie sie die herrschende Meinung vornimmt, nicht auseinander. Eine eingehende Erörterung der dazu vorgetragenen Argumente war aber unverzichtbar. Hinreichende Darlegungen bietet die Vorlage dazu jedoch nicht.» (Seite 432)
BVerfG bestätigt Pflicht zu ergänzender Berichterstattung bei späterem Freispruch nach anfänglicher "Verdachts-Berichterstattung"
Die 3. Kammer des Ersten Senats nimmt eine entsprechende Verfassungsbeschwerde des "Stern" nicht zur Entscheidung an und führt aus, eine Verdachtsberichterstattung berge stets das Risiko der Unrichtigkeit in sich: «Das gilt insbesondere beim Bericht über Vorfälle, die Gegenstand gerichtlicher Aufklärung werden. Es ist dann verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, wenn die Gerichte den erforderlichen Ausgleich zwischen Pressefreiheit und Persönlichkeitsrecht dadurch herbeiführen, daß sie dem Betroffenen das Recht zubilligen, eine ergänzende Mitteilung über den für ihn günstigen Ausgang des Strafverfahrens zu verlangen.» (Seite 434)
BVerfG zu den Grenzen der fortwirkenden Immunität eines ehemals in der DDR akkreditierten Botschafters vor strafrechtlicher Verfolgung durch die Bundesrepublik Deutschland
Die Vb. betrifft einen in letzter Instanz vom Kammergericht bestätigten Haftbefehl gegen den ehemaligen syrischen Botschafter in der DDR wegen Beihilfe zum Mord und zur Herbeiführung einer Sprengstoffexplosion. Bei dem der Gruppe Carlos angelasteten Anschlag auf das Maison de France in West-Berlin kam ein Mensch ums Leben, mehr als 20 Personen wurden zum Teil schwer verletzt.
Das BVerfG kommt zu dem Ergebnis: «Die Regeln des Diplomatenrechts stellen eine in sich geschlossene Ordnung, ein sog. self-contained régime dar, das die möglichen Reaktionen auf Mißbräuche der diplomatischen Vorrechte und Immunitäten grundsätzlich abschließend umschreibt. (…)
Es besteht keine allgemeine Regel des Völkerrechts, nach der die in Art. 39 Abs. 2 Satz 2 WÜD [Wiener Übereinkommen über diplomatische Beziehungen] kodifizierte, fortwirkende Immunität über die Bestimmungen dieses Abkommens hinaus erga omnes, also auch gegenüber Drittstaaten wirkte.
Es besteht keine allgemeine Regel des Völkerrechts, nach der die Bundesrepublik Deutschland verpflichtet wäre, die fortwirkende Immunität eines ehemals in der DDR akkreditierten Botschafters von strafrechtlicher Verfolgung nach Art. 39 Abs. 2 Satz 2 WÜD aus Gründen der Staatennachfolge zu beachten, wenn die Bundesrepublik Deutschland bereits vor der Wiedervereinigung zur Strafverfolgung nach bundesdeutschem Recht befugt gewesen ist.» (Seite 436)
BVerfG billigt Ordnungsgeld wegen Verstoßes gegen ein gerichtliches Wiederholungsverbot beleidigender Äußerungen
«Jedenfalls im Regelfall gebietet Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG nicht, daß eine Eigenberichterstattung, die durch wörtliche Wiedergabe der untersagten Äußerungen den eingetretenen Verletzungserfolg wieder auffrischt, hingenommen wird. Hierbei ist auch zu berücksichtigen, daß eine solche Berichterstattung in eigener Sache, zumal wenn sie wie hier ohne inhaltliche Distanzierung von diesen Äußerungen stattfindet, beim Publikum den Eindruck hervorrufen kann, die Äußerungen würden der Sache nach wiederholt.» (Seite 446)
Bayerischer Verfassungsgerichtshof (BayVerfGH), München, bestätigt Neufassung des bayerischen Gesetzes über das Erziehungs- und Unterrichtswesen (BayEUG) zum Anbringen eines Kreuzes in Klassenräumen staatlicher Volksschulen
Das mit drei Popularklagen angegriffene Gesetz war nach der Kruzifix-Entscheidung des BVerfG vom 16. Mai 1995 (= EuGRZ 1995, 359) erlassen worden.
Der BayVerfGH argumentiert u.a.: «Der Toleranzpflicht des Staates entspricht die Pflicht jedes einzelnen Bürgers, Toleranz zu üben (vgl. Art. 117 BV). Toleranz bedeutet in diesem Zusammenhang, daß jeder die religiöse oder weltanschauliche Einstellung des anderen zu respektieren hat. Toleranz in diesem Sinn umfaßt gleichzeitig Recht und Verpflichtung: Einerseits kann Toleranz eingefordert werden; in dieser Form stellt das Toleranzgebot ein wichtiges Schutzelement für andersdenkende Minderheiten dar. Andererseits muß Toleranz auch von demjenigen geübt werden, der selbst auf Toleranzgewährung pocht; in dieser Ausgestaltung verhindert das Toleranzgebot den Vorrang einer andersdenkenden Minderheit über die Mehrheit. (…)
Es entspricht einem allgemein anerkannten Rechtsgrundsatz, daß derjenige, der ein Recht geltend macht, die Gründe für sein Verlangen darlegen muß. Dieser Grundsatz gilt auch in Fällen, in denen es um Fragen des Gewissens oder der religiösen Überzeugung geht. Der Grund hierfür ist letztlich, daß das der Verfassung zugrundeliegende Leitbild eines geordneten Lebens in der Gemeinschaft nicht mehr zu verwirklichen wäre, wenn man sich lediglich mit der begründungslosen Berufung auf eine religiös-weltanschauliche Überzeugung von Pflichten ausnehmen oder Rechte für sich in Anspruch nehmen könnte.» (Seite 447)
Europäisches Parlament (EP), Straßburg, ruft erneut zur Ächtung von Antipersonenminen auf. Ferner protestiert das Parlament gegen politisch motivierte Absetzung von drei Verfassungsrichtern in Peru. (Seite 458)
EuGH-Generalanwalt G. Tesauro plädiert zur Frage der Ausländer-Diskriminierung durch Unterlassen der Höflichkeitsanrede im Strafverfahren auf Unzuständigkeit des EuGH
In seinen Schlußanträgen in der Rs. Grado und Bashir kommt Tesauro zu dem Schluß: «Wie (…) bemerkt wurde, besteht nämlich, unabhängig von allem wahrscheinlich und eventuell diskriminierenden Charakter der Praxis der Staatsanwaltschaft Tübingen zum Nachteil ausländischer Angeschuldigter, die nach Angaben des vorlegenden Gerichts darin besteht, ihnen gegenüber nicht die Anrede "Herr" zu verwenden, kein Zusammenhang zwischen dieser Praxis und dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits, in dem das vorlegende Gericht, ich erinnere daran, einen Strafbefehl gegen den Angeschuldigten erlassen soll, der eines strafrechtlichen Vergehens bezichtigt wird.» (Seite 459)