EuGRZ 1998 |
30. September 1998
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25. Jg. Heft 17-18
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Informatorische Zusammenfassung
Andreas Hänlein, München, kommentiert rechtsvergleichend drei Entscheidungen des türkischen Verfassungsgerichts zu Solidarität und Eigenverantwortung in der Sozialversicherung
«Das Verfassungsgericht der Türkei hat überzeugend aus der türkischen Verfassung den Grundsatz abgeleitet, daß Lohnersatzleistungen nur dann vollständig versagt werden dürfen, wenn der Versicherte den Versicherungsfall durch eine vorsätzliche Straftat herbeigeführt hat. Angesichts der vorgängigen Beitragszahlung und der existentiellen Bedeutung dieser Sozialleistungen ist bei bloß fahrlässigen Delikten der Satz, ein Delikt dürfe nicht zu rechtlichen Vorteilen führen, allenfalls eingeschränkt anzuwenden, d.h. unter Berücksichtigung der Lebenslage des Versicherten und insbesonderer auch seiner Familienangehörigen.
Die einschlägigen Normen des internationalen Rechts sprechen allerdings weitergehend dafür, auch bei fahrlässigem Fehlverhalten, das nicht strafbar ist, die Einstandspflicht der Solidargemeinschaft stets in vollem Umfang aufrecht zu erhalten. Daher sollte ein „unverzeihliches Fehlverhalten“, das nach Art. 111 SSK hälftige Leistungskürzungen ermöglicht, nur im Falle von Vorsatz angenommen werden.» (Seite 489)(S.a. die Entscheidung des Türk.VerfG unten S. 508.)
Wolfgang Roth, Mannheim, mißt das deutsche verwaltungsgerichtliche Rechtsmittelverfahren am Anspruch auf öffentliche Verhandlung nach Art. 6 Abs. 1 EMRK
«Das Gebot öffentlicher Verhandlung erfaßt zahlreiche nach deutschem Recht in die Zuständigkeit der Verwaltungsgerichte fallende Streitigkeiten. Es gilt dabei grundsätzlichfür alle Instanzen, und zwar in den Rechtsmittelzügen sowohl für etwaige Zulassungsverfahren als auch für die Entscheidung über die Zulässigkeit sowie über die Begründetheit des Rechtsmittels. Vorausgesetzt, in erster Instanz hat eine öffentliche Verhandlung stattgefunden, so braucht in der Rechtsmittelinstanz keine öffentliche Verhandlung durchgeführt zu werden, wenn nur über Rechtsfragen und nicht auch über Tatsachenfragen entschieden wird. Das BVerwG kann daher auch im Geltungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK in aller Regel ohne öffentliche Verhandlung entscheiden, das OVG jedoch nur ausnahmsweise, nämlich wenn die relevanten Tatsachen unstrittig sind oder eine der Sache angemessene Beweiswürdigung allein aufgrund der Aktenlage möglich ist. Erheben die Beteiligten jedoch substantiiert Einwendungen gegen die erstinstanzlichen Tatsachenfestellungen oder will das OVG neue Tatsachen berücksichtigen bzw. eine vom erstinstanzlichen Gericht abweichende Beweiswürdigung vornehmen, so muß es hierüber öffentlich verhandeln.
Fand hingegen in erster Instanz keine öffentliche Verhandlung statt, obwohl weder ein wirksamer Verzicht noch ein Ausnahmefall gemäß Art. 6 Abs. 1 S. 2 EMRK vorlag, so muß das Berufungsgericht über alle Tatsachen- und Rechtsfragen öffentlich verhandeln, um eine Heilung des Verstoßes gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK zu bewirken; eine öffentliche Revisionsverhandlung nur zu Rechtsfragen führte eine solche Heilung nicht herbei.» (Seite 495)
Türkisches Verfassungsgericht (Türk.VerfG), Ankara, erklärt die gesetzliche Versagung des sozialversicherungsrechtlichen Verletztengeldes bei einem durch eine fahrlässig begangene Straftat selbstverursachten Arbeitsunfall für verfassungswidrig
«Es ist ein Verstoß gegen das Versicherungsprinzip, wenn einem Arbeitnehmer, der keine Sicherheit außer seiner Arbeitskraft und der sozialen Sicherheit besitzt, der Schutz der sozialen Sicherheit aufgrund einer fahrlässigen Handlung versagt bleibt, die als Straftat bewertet werden kann.
Die Regel des Art. 110 [des Gesetzes über die Sozialversicherungen], die einem Arbeitnehmer das Verletztengeld bei Arbeitsunfällen versagt, die aufgrund fahrlässiger Taten auftreten, verstößt gegen den Grund der Errichtung und Existenz der Sozialversicherungsanstalt.
Aus diesen Gründen verstößt die verfahrensgegenständliche Regel in Art. 110, soweit sie entsprechend der eingangs vorgenommenen Begrenzung des Verfahrensgegenstandes der Sachprüfung unterlag, gegen die Art. 2, 5 und 60 der Verfassung. Sie muß für nichtig erklärt werden.» (Seite 508)
Schweizerisches Bundesgericht (BGer), Lausanne, zu Kriterien für Beweismassnahmen im Haftprüfungsverfahren und für Wiederholungsgefahr als besonderen Haftgrund
Der Bf. wurde wegen des Verdachts, gegenüber seiner geschiedenen Ehefrau mit einer Pistole einen Tötungsversuch begangen zu haben, in Untersuchungshaft versetzt:
«Gerade der Umstand, dass er sich an das Tragen der Pistole gewöhnt hat und diese anlässlich einer Auseinandersetzung mit seiner ehemaligen Frau tatsächlich hervorholte, zeigt seine hohe Gefährlichkeit. In Freiheit belassen, darf angesichts der Eifersucht und der Unkontrolliertheit seines Handelns mit hoher Wahrscheinlichkeit angenommen werden, dass er seiner ehemaligen Frau weiterhin nachgehen wird, sie bedrohen wird und ihr gegenüber auch ein schweres Delikt begehen könnte. Es kann daher nicht gesagt werden, die Verübung weiterer Delikte sei lediglich hypothetisch und beziehe sich auf geringfügige Straftaten. In Anbetracht all dieser Umstände durfte das Obergericht ohne Verletzung der Strafprozessordnung, der Verfassung und der EMRK Wiederholungsgefahr annehmen.» (Seite 511)
BGer bestätigt Aufrechterhaltung der Sicherheitshaft trotz Möglichkeit der Verurteilung nur zu bedingt vollziehbarer Freiheitsstrafe als verfassungsgemäß
«Imvorliegenden Fall ist die Anklage [wegen Drogen- und ausländerrechtlicher Delikte] mit dem Strafantrag des Bezirksanwalts zwar ein gewichtiges Indiz für die zu erwartende Strafe und sind keine Anzeichen dafür ersichtlich, dass der Antrag unverhältnismässig oder praxisfremd wäre. Dennoch kann nicht ausgeschlossen werden, dass der Strafrichter eine höhere Strafe oder sonst eine unbedingt vollziehbare Strafe ausspricht, umso mehr, als bereits der Bezirksanwalt eine hohe Strafe an der obersten Limite vorschlägt, wo der bedingte Strafvollzug noch zulässig ist. Es ist daher keineswegs ausgeschlossen, dass der Strafrichter auf eine unbedingt vollziehbare Freiheitsstrafe erkennt. Es liegt daher auch im öffentlichen Interesse, dass dieser Strafvollzug mittels Aufrechterhaltung der Haft gesichert wird. Im Falle der Freilassung könnte eine unbedingte Freiheitsstrafe kaum mehr bzw. nur unter aufwendigen Vorkehrungen vollzogen werden, da der Beschwerdeführer, wie er selbst annimmt, im Falle der Haftentlassung fremdenpolizeilich ausgewiesen würde. (S. 514)
BGer läßt zur Wahrung des Grundsatzes der öffentlichen Urteilsverkündung im abgekürzten Strafbescheid-Verfahren die Auflage der Ausfertigung in einer öffentlich zugänglichen Kanzlei genügen
«Sofern keine besonderen, schutzwürdigen Geheimhaltungsinteressen – bei deren Vorliegen allenfalls die Öffentlichkeit ausnahmsweise von den Verhandlungen ausgeschlossen werden könnte – ersichtlich sind, hat der Berechtigte Anspruch auf Kenntnisnahme des vollständigen, ungekürzten und nicht anonymisierten Urteils (...).
Es genügt daher im Lichte von Art. 6 Ziff. 1 EMRK und Art. 14 UNO-Pakt II, wenn die Verwaltung den im Verwaltungsstrafverfahren ausgefällten Strafbescheid für einige Zeit auf der Kanzlei zur Einsicht durch Interessierte auflegt oder – wie hier – einem Berechtigten [dem Anzeiger] auf besonderes Ersuchen hin Einsicht in einen Strafbescheid gewährt. Es besteht indessen kein Anspruch auf Aushändigung einer Kopie.
Die Beschwerde ist aus diesen Gründen gutzuheissen. Der angefochtene Beschwerdeentscheid ist aufzuheben und das Bundesamt für Zivilluftfahrt anzuweisen, dem Beschwerdeführer Einsicht in den Strafbescheid gegen den durch ihn angezeigten Piloten zu gewähren.»
Die Anzeige war erstattet worden, weil der Pilot eines einmotorigen Sportflugzeuges die Ortschaft Quinten/SG dreimal in einer Höhe von weniger als 100 m überflogen habe. (S. 516)
Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, erklärt zu niedrig bemessenen Gefangenen-Lohn für verfassungswidrig und setzt dem Gesetzgeber eine Reform-Frist bis zum 31. Dezember 2000
«Das Grundgesetz verpflichtet den Gesetzgeber, ein wirksames Konzept der Resozialisierung zu entwickeln und den Strafvollzug darauf aufzubauen. Dabei ist ihm ein weiter Gestaltungsraum eröffnet.
Arbeit im Strafvollzug, die dem Gefangenen als Pflichtarbeit zugewiesen wird, ist nur dann ein wirksames Resozialisierungsmittel, wenn die geleistete Arbeit angemessene Anerkennung findet. Diese Anerkennung muß nicht notwendig finanzieller Art sein. Sie muß aber geeignet sein, dem Gefangenen den Wert regelmäßiger Arbeit für ein künftiges eigenverantwortetes und straffreies Leben in Gestalt eines für ihn greifbaren Vorteils vor Augen zu führen.
Ein gesetzliches Konzept der Resozialisierung durch Pflichtarbeit, die nur oder hauptsächlich finanziell entgolten wird, kann zur verfassungsrechtlich gebotenen Resozialisierung nur beitragen, wenn dem Gefangenen durch die Höhe des ihm zukommenden Entgelts in einem Mindestmaß bewußt gemacht werden kann, daß Erwerbsarbeit zur Herstellung der Lebensgrundlage sinnvoll ist.
Art. 12 Abs. 3 GG beschränkt die zulässige Zwangsarbeit auf Einrichtungen oder Verrichtungen, bei denen die Vollzugsbehörden die öffentlich-rechtliche Verantwortung für die ihnen anvertrauten Gefangenen behalten.» (Seite 518)
BVerfG bekräftigt den Anspruch des Opfers eines Sexualdelikts auf Nennung des eigenen Namens in der Öffentlichkeit auch bei einer dadurch erleichterten Identifizierbarkeit des Täters (hier: des Vaters)
Die unverheiratete Bf., die ihren Geburtsnamen führt, wehrt sich gegen ein Urteil des OLG Celle, mit dem ihr verboten wird, sich in der Öffentlichkeit über den sexuellen Mißbrauch durch ihren, rechtskräftig verurteilten, Vater zu äußern, wenn sie dabei ihren (und damit auch den Namen des Vaters) nennt.
Das BVerfG hebt das Urteil des OLG wegen Verletzung der Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG) und des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) der Bf. auf. In der Begründung heißt es:
«Jede Person hat die Freiheit zu entscheiden, ob sie sich mit Erlebnissen dieser Art überhaupt an andere oder an die Öffentlichkeit wendet. Entschließt sie sich aber dazu, liegt in dem Verbot, das höchstpersönliche Schicksal auch in personalisierter Form zu schildern, regelmäßig eine einschneidende Beeinträchtigung der Kommunikationsmöglichkeiten und der Persönlichkeitsentfaltung. (...) Allerdings ist das für die Beschwerdeführerin bestimmende Erlebnis, über das sie öffentlich sprechen möchte, mit der Person ihres Vaters unlösbar verknüpft. Bei der Rücksichtnahme, die diese Verknüpfung erfordert, ist aber in Rechnung zu stellen, daß die Beschwerdeführerin über den Kläger des Ausgangsverfahrens aus der Perspektive des Opfers seiner Handlungen berichtet. Die Äußerung läßt sich deswegen als Bloßstellung des Vaters nicht ausreichend verstehen. Sie muß auch im Zusammenhang mit der Überwindung der Opferstellung gesehen werden. Die Opfersituation, von der nach den Feststellungen der Gerichte auszugehen ist, würde sich nochmals verstärken, wenn dem Opfer die Darstellung in personalisierter Form verwehrt würde.» (Seite 532)
BVerfG bestätigt Urteil des Bundesarbeitsgerichts, wonach der Ausschluß teilzeitbeschäftigter Arbeitnehmer von der betrieblichen Altersversorgung (hier: der Post) das Diskriminierungsverbot des GG verletzt und eine Vorlage an den EuGH nicht geboten ist
«Die vom Bundesarbeitsgericht in der angegriffenen Entscheidung vertretene Auffassung, daß der dem Ausgangsverfahren zugrunde liegende Fall des Ausschlusses teilzeitbeschäftigter Arbeitnehmer von der betrieblichen Altersversorgung nicht zu den Fällen gehört, in denen die Barber-Rechtsprechung und das Barber-Protokoll eine Rückwirkungsbegrenzung vorsehen, leuchtet ein, ist jedenfalls aber gut vertretbar. Dasselbe gilt für die Annahme, das europarechtliche Rückwirkungsverbot schließe die Anwendung nationaler Diskriminierungsverbote nicht aus.» (Seite 537)(S.a. die Vorlagen an den EuGH auf S. 544.)
BVerfG verneint Anspruch des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma auf Vertretung in den Aufsichtsgremien der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten
Die 1. Kammer des Ersten Senats führt nach Feststellung der überwiegenden Unzulässigkeit der Verfassungsbeschwerde wegen Fristversäumnis bzw. Fehlens eines beschwerdefähigen Gegenstandes zur Sache aus: «Die Kontrolle des Rundfunks durch die sogenannten gesellschaftlich relevanten Gruppen, für die sich der Gesetzgeber entschieden hat, dient der Wahrung des Allgemeininteresses an einem freien Rundfunkwesen. Nicht dagegen soll sie es den Gruppen erlauben, ihre spezifischen Interessen im Rundfunk geltend zu machen ... Deswegen hat das Bundesverfassungsgericht einen aus Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG folgenden Anspruch gesellschaftlicher Gruppen auf Vertretung in den Aufsichtsgremien des Rundfunks stets abgelehnt.»
Zur Andersbehandlung des Zentralrats der Juden heißt es: «Während sich der vom Beschwerdeführer vertretene Bevölkerungsteil als Minderheit mit eigener Sprache und eigener kultureller Identität versteht, ist die jüdische Bevölkerungsgruppe vom Gesetzgeber in ihrer Eigenschaft als Religionsgemeinschaft bei der Zusammensetzung der Aufsichtsgremien berücksichtigt worden.» (Seite 540)
Europäisches Parlament (EP), Straßburg, nimmt zu den Auswirkungen der geplanten Ost-Erweiterung der EU hinsichtlich der Zusammenarbeit im Bereich Justiz und Inneres Stellung
«Im Bewußtsein der erheblichen Bemühungen, die nach Jahrzehnten totalitärer Regime bei der Entwicklung der Rechtsstaatlichkeit und der Heranbildung von neuen Führungsschichten, Verwaltungsbeamten, Richtern, Staatsanwälten und Polizisten erforderlich sind,» verlangt das EP u.a., «daß bei den Verhandlungen mit den beitrittswilligen Ländern der Schwerpunkt seitens der EU nicht nur auf die polizeiliche und justitielle Zusammenarbeit gelegt wird, sondern auch auf die Förderung und Stärkung des Rechtsstaats und im einzelnen auf den Beitritt zu den internationalen Übereinkommen über die Menschenrechte (...).» (Seite 542)
Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH), Luxemburg, wird zum Verhältnis nationaler und europäischer Diskriminierungsverbote entscheiden
Kernfrage ist, ob das Bundesarbeitsgericht durch die zeitlich begrenzte Rückwirkung des europäischen Diskriminierungsverbots („Barber-Protokoll“) gehindert ist, eine Verletzung des im Grundgesetz verankerten Diskriminierungsverbots festzustellen. Das BVerfG hat diese Frage in Parallelverfahren (s.o. S. 537) verneint. Der EuGH wurde von den Landesarbeitsgerichten Hamburg und Niedersachsen angerufen, deren Vorabentscheidungsfragen in diesem Heft abgedruckt sind. (Seite 544)