EuGRZ 1999 |
4. Oktober 1999
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26. Jg. Heft 15-16
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Informatorische Zusammenfassung
Karin Oellers-Frahm, Heidelberg, nimmt die Mißachtung zweier auf Antrag Deutschlands und Paraguays ergangener einstweiliger Anordnungen des Internationalen Gerichtshofs (IGH) zum Anlaß, nach der völkerrechtlichen Vertragstreue der USA zu fragen: «Pacta sunt servanda – Gilt das auch für die USA?»
In beiden Fällen hatte der Internationale Gerichtshof die USA verpflichtet, die jeweils kurz bevorstehende Vollstreckung der Todesstrafe bis zur Entscheidung im Hauptverfahren auszusetzen (s.u. S. 450 und 451). Die Strafverfolgungsbehörden von Arizona bzw. Virginia hatten es bis zum Abschluß der Strafverfahren wider besseres Wissen unterlassen, die inhaftierten Beschuldigten über ihr Recht aus Art. 36 Abs. 1 der Wiener Konsularrechtskonvention zu belehren, um konsularischen Beistand zu ersuchen.
Die Weigerung der amerikanischen Behörden, der IGH-Anordnung Folge zu leisten, wurde in dem Paraguay betreffenden Verfahren vom US Supreme Court ausdrücklich (s.u. S. 473) gebilligt.
Die Autorin kommt nach einer vertieften Auseinandersetzung mit der völkerrechtlichen und innerstaatlichen Rechtslage bzw. Regierungs- und Gerichtspraxis u. a. zu folgenden Schlußfolgerungen:
«Wenn aber Völkerrecht in den Grauzonenbereich der political question Doktrin und der foreign affairs exceptionalism-Klausel gerät, dann ist für die Völkerrechtspartner der USA nicht mehr absehbar, wie Völkerrecht beachtet wird, da dann die jeweils politisch dominante Auffassung für oder gegen die Beachtung des Völkerrechts wirksam wird. (…).
Das Völkerrecht verlangt, daß ein Staat die Umsetzung seiner völkerrechtlichen Verpflichtungen nach Treu und Glauben vornimmt; tut er dies nicht, so mag dies innerstaatlich vertretbar sein, völkerrechtlich stellt dies aber eine Rechtsverletzung dar. (…) Deshalb wäre es auch äußerst bedauerlich, wenn Deutschland die Klage zurücknehmen würde, wie dies bedauerlicher Weise Paraguay getan hat, denn die Feststellung, daß der Umgang der USA mit dem Vertrag und dann mit der Anordnung des IGH eine Verletzung von Völkerrecht darstellt, würde vielleicht in der Diskussion in den Vereinigten Staaten den Stimmen wieder mehr Gewicht beimessen, die heute als „internationalistisch“ und damit praxisfremd bezeichnet werden. (…)
Gerade einer Großmacht wie den USA, die in den Vereinten Nationen eine führende Rolle einnimmt, sollte die Achtung völkerrechtlicher Verpflichtungen ein Anliegen sein, hinter dem politische Tagesinteressen zurückstehen; denn oft ist Vertragstreue – auf Gegenseitigkeit – Voraussetzung für den Frieden.» (Seite 437)
Internationaler Gerichtshof (IGH), Den Haag, ordnet im Fall Deutschland gegen USA in der Sache LaGrand die einstweilige Aussetzung der Vollstreckung der Todesstrafe bis zur Entscheidung in der Hauptsache an
Deutschland klagt, weil die USA ihren Verpflichtungen aus der Wiener Konsularkonvention von 1963 nicht nachgekommen sind. Der IGH führt in seiner innerhalb von nur 24 Stunden erlassenen einstweiligen Anordnung vom 3. März 1999 u. a. aus: «Die Hinrichtung von Walter LaGrand ist für den 3. März 1999 festgesetzt; die Hinrichtung würde irreparablen Schaden für die von Deutschland in diesem Fall geltend gemachten Rechte hervorrufen; (…) die internationale Verantwortlichkeit eines Staates entsteht durch die Handlung der zuständigen Organe und Behörden, die in dem Staat handeln, welche dies auch sein mögen; die Vereinigten Staaten sollten daher alle verfügbaren Maßnahmen ergreifen um zu gewährleisten, daß Walter LaGrand bis zur Entscheidung in der Hauptsache nicht hingerichtet wird; nach Informationen des Gerichtshofs fällt die Durchsetzung der in dieser Anordnung genannten Maßnahmen in die Zuständigkeit des Gouverneurs von Arizona; die Regierung der Vereinigten Staaten ist folglich verpflichtet, diese Anordnung dem genannten Gouverneur zu übermitteln; der Gouverneur von Arizona ist verpflichtet, in Übereinstimmung mit den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Vereinigten Staaten zu handeln.» (Seite 450)
Zu den Einzelheiten des Sachverhalts und der Rechtslage s.o. den Aufsatz von Karin Oellers-Frahm, S. 437.
IGH ordnet im Fall Paraguay gegen USA in der Sache Breard die Aussetzung der Vollstreckung der Todesstrafe bis zur Entscheidung in der Hauptsache an
In seiner einstweiligen Anordnung vom 9. April, deren Begründung im wesentlichen mit der oben genannten einstweiligen Anordnung im Verfahren Deutschland gegen USA i.d.S. LaGrand inhaltsgleich ist, heißt es u. a.: «Die Hinrichtung von Mr. Breard ist für den 14. April 1998 festgesetzt; die Hinrichtung würde es dem Gerichtshof unmöglich machen, die Wiedergutmachung anzuordnen, um die Paraguay nachsucht und würde somit irreparablen Schaden für die eingeklagten Rechte verursachen.» (Seite 451)
Hierzu s.a. die Entscheidung des US Supreme Court, S. 473 und den Aufsatz von Oellers-Frahm, S. 437.
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Straßburg, sieht Veröffentlichung ehrenrühriger Behauptungen (hier: Vorwurf grausamen bzw. verbotenen Robbenfangs) aus amtlich nicht freigegebenen Dokumenten auch ohne journalistische Überprüfung des Wahrheitsgehalts von Pressefreiheit gedeckt / Bladet Tromsø u. a. gegen Norwegen
Im Ausgangsverfahren gegen die Beschwerdeführer (Bf.), Verlag und Chefredakteur der in der nordnorwegischen Regionalhauptstadt Tromsø, dem Zentrum der norwegischen Robbenfangindustrie, erscheinenden Tageszeitung «Bladet Tromsø» (Auflage: 9.000 Exemplare), war von dem dortigen Landgericht die unkritische und distanzlose Veröffentlichung bestimmter Behauptungen aus einem vom Fischereiministerium wegen seines zweifelhaften Inhalts und mittlerweile dubios erscheinenden Verfassers zum Zweck der Überprüfung für die Öffentlichkeit vorläufig gesperrten Berichts mit Urteil vom 4. März 1992 als verleumderisch qualifiziert und gem. Art. 247, 253 StGB «für hinfällig erklärt» worden.
Die inkriminierte Veröffentlichung enthielt folgende unbewiesene Behauptungen: Verbotene Tötung mehrerer Harfen-Robben, Häutung von Robben bei lebendigem Leibe, Tätlichkeiten wütender Robbenjäger gegen denVerfasser und Bedrohung mit einer Fischhake.
Verlag und Chefredakteur wurden verurteilt, jedem der 17 Besatzungsmitglieder des in der Zeitung namentlich genannten Robbenfang-Schiffes 11.000 Norwegische Kronen, insgesamt also 187.000 NOK [1.000 NOK = ca. DM 220,–] Schadensersatz zu leisten.
Bei dem Verfasser des Berichts an das Fischereiministerium handelt es sich um Odd F. Lindberg, einen früheren freien Mitarbeiter der Zeitung, der sich mit wahrheitswidrigen Behauptungen in bezug auf Studium und Zusammenarbeit mit Forschungseinrichtungen den unbezahlten Auftrag, als vom Ministerium ernannter Fischerei-Inspektor auf dem Fangschiff „M/S Harmonie“ während der Jagdsaison 1988 mitzufahren, verschafft hatte. Mannschaft und Kapitän des Schiffes hatten es abgelehnt, ihn wie im Jahr davor (1987) wieder als freien Journalisten, Autor und Photographen mitzunehmen.
Der EGMR gibt der Beschwerde wegen Verletzung von Art. 10 EMRK statt und führt zur Begründung aus: «daß die Zeitung sich vernünftigerweise auf den offiziellen Lindberg-Bericht verlassen konnte, ohne verpflichtet zu sein, eigene Nachforschungen über die Korrektheit des Berichts anzustellen. Er sieht keinen Grund daran zu zweifeln, daß die Zeitung diesbezüglich in gutem Glauben gehandelt hat.
Auf der Grundlage der Fakten im vorliegenden Fall kann der Gerichtshof nicht feststellen, daß das zweifellose Interesse der Mannschaftsmitglieder am Schutz ihres Rufes ausreichend war, das herausragende öffentliche Interesse zu überwiegen, eine informierte öffentliche Debatte über eine Angelegenheit von lokalem, nationalem und internationalem Interesse zu ermöglichen.» (Seite 453)
In ihrer abweichenden Meinung kommen Richterin Palm und Richter Fuhrmann und Baka zu dem Ergebnis, «Art. 10 mag das Recht der Presse schützen zu übertreiben und zu provozieren, nicht aber den Ruf von Privatpersonen mit Füßen zu treten.» (Seite 465)
Richterin Greve kritisiert in ihrer abw. Meinung, außerdem daß im Hinblick auf die in der Zeitung beschuldigten Robbenjäger der in Art. 6 EMRK verbürgte Anspruch auf Beachtung der Unschuldsvermutung nicht bedacht worden sei. (Seite 468)
Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH), Luxemburg, sieht in der Umgehung strengerer nationaler GmbH-Gründungsvorschriften durch Errichtung der Gesellschaft in einem EU-Staat mit geringeren Anforderungen allein keinen Mißbrauch der Niederlassungsfreiheit / Rs. Centros Ltd
Im Ausgangsverfahren wird die Weigerung der dänischen Behörden angegriffen, die Zweigniederlassung einer von Dänen gegründeten englischen Gesellschaft ohne tatsächlichen Geschäftsverkehr in Dänemark zu genehmigen.
Der EuGH stellt fest: «Dabei ist unerheblich, daß das Gesellschaftsrecht in der Gemeinschaft nicht voll harmonisiert worden ist; außerdem bleibt es dem Rat jederzeit überlassen, aufgrund der ihm in Artikel 54 Absatz 3 Buchstabe g EG-Vertrag übertragenen Befugnisse diese Harmonisierung zu vervollständigen. (…) Kann somit ein Mitgliedstaat die Eintragung der Zweigniederlassung einer nach dem Recht eines anderen Mitgliedstaats, in der sie ihren Sitz hat, errichteten Gesellschaft nicht verweigern, so kann er doch alle geeigneten Maßnahmen treffen, um Betrügereien zu verhindern oder zu verfolgen. Das gilt sowohl – gegebenenfalls im Zusammenwirken mit dem Mitgliedstaat, in dem sie errichtet wurde – gegenüber der Gesellschaft selbst als auch gegenüber ihren Gesellschaftern, wenn diese sich mittels der Errichtung der Gesellschaft ihren Verpflichtungen gegenüber inländischen privaten oder öffentlichen Gläubigern entziehen möchten. Jedoch kann die Bekämpfung von Betrügereien nicht rechtfertigen, die Eintragung einer Zweigniederlassung einer in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassenen Gesellschaft zu verweigern.» (Seite 469)
Supreme Court, Washington D.C., mißachtet einstweilige Anordnung des Internationalen Gerichtshofs im Fall Paraguay gegen USA auf Aussetzung der Vollstreckung der Todesstrafe in der Sache Breard
Zu den Einzelheiten des Sachverhalts und der Rechtslage s.o. den Aufsatz von Karin Oellers-Frahm, S. 437. Die Begründung der 6:3-Entscheidung liest sich wie eine schlecht verbrämte Aufforderung an den Gouverneur von Virginia der Entscheidung des IGH keine Folge zu leisten:
«Es ist unglücklich, daß dieser Fall zu uns kommt, während ein Verfahren vor dem IGH anhängig ist, das schon viel eher vor den IGH hätte gebracht werden können. Dennoch muß dieses Gericht die ihm vorgelegten Fragen auf der Grundlage des Rechts entscheiden. Die Exekutive kann ihrerseits bei der Ausübung ihrer Zuständigkeiten im Bereich der auswärtigen Beziehungen diplomatische Gespräche mit Paraguay führen, was sie im vorliegenden Fall auch getan hat. Gestern hat die Außenministerin dem Gouverneur von Virginia einen Brief geschickt, in dem sie zur Aussetzung von Breards Hinrichtung auffordert. Wenn der Gouverneur die Entscheidung des IGH abwarten will, so ist das sein Recht. Aber nichts in unserer bisherigen Rechtsprechung ermächtigt uns, diese Entscheidung für ihn zu treffen.» (Seite 473)
Einzig die Richter Stevens, Breyer und Frau Ginsburg erklären in ihren abweichenden Meinungen, die ablehnende Entscheidung der Richter-Mehrheit für übereilt. Sie wollten eine Aussetzung der Hinrichtung anordnen, um die Anträge im üblichen Verfahren zu prüfen. (Seite 474, 475)
Schweizerisches Bundesgericht (BGer), Lausanne, bekräftigt den Vorrang des Völkerrechts bei der innerstaatlichen Umsetzung von Menschenrechtsnormen (hier: Art. 6 Ziff. 1 EMRK), bestätigt in der Sache jedoch die Einziehung von Gewalt propagierenden Schriften der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK)
Grundsätzlich hält das BGer fest: «In seiner jüngsten Rechtsprechung hat das Bundesgericht verschiedentlich erklärt, dass sich die Eidgenossenschaft nicht unter Berufung auf inländisches Recht ihrer völkerrechtlichen Verpflichtungen entziehen könne. Das Landesrecht müsse daher in erster Linie völkerrechtskonform ausgelegt werden. (…) Dies hat zur Folge, dass eine völkerrechtswidrige Norm des Landesrechts im Einzelfall nicht angewendet werden kann. Diese Konfliktregelung drängt sich umso mehr auf, wenn sich der Vorrang aus einer völkerrechtlichen Norm ableitet, die dem Schutz der Menschenrechte dient.»
Aus den genannten Erwägungen und da nicht ersichtlich sei, welche andere Behörde als das Bundesgericht die Aufgabe der Gewährung rechtlichen Gehörs gem. Art. 6 Ziff. 1 EMRK im Hinblick auf den Einziehungsbeschluss des Bundesrates übernehmen könnte, zieht das BGer die Konsequenz, das eingereichte Rechtsmittel als Verwaltungsgerichtsbeschwerde entgegenzunehmen.
Eine Verletzung der Meinungsäusserungs- und Pressefreiheit (Art. 10 EMRK) liegt jedoch nicht vor; denn: «Die bei den Akten liegenden übersetzten Auszüge aus den eingezogenen Schriften zeigen, dass darin keineswegs nur für die Anliegen der kurdischen Bevölkerung in der Türkei geworben wird. Vielmehr sollen die dort herrschenden Spannungen in die Schweiz hineingetragen und es soll bei den hier lebenden Emigranten Druck erzeugt werden. Auch wenn sich der Aufruf zum bewaffneten Kampf hauptsächlich auf das Territorium der Türkei bezieht, ist doch auch eine Radikalisierung bei den hier lebenden Kurden beabsichtigt. Auf Emigranten, welche die erwartete Unterstützung verweigern, soll Druck ausgeübt werden. Die generelle Propagierung der Gewalt zur Durchsetzung der kurdischen Anliegen fördert die Tendenz, auch gegenüber hier lebenden andersdenkenden Landsleuten Gewalt anzuwenden, und begünstigt überhaupt extremistische Gewaltakte. Die Schriften sind daher geeignet, die innere Sicherheit zu gefährden. Da sie sich zudem keineswegs auf eine Kritik an den türkischenBehörden beschränken – was zulässig wäre –, sondern diese beschimpfen, sind sie auch geeignet, die aussenpolitischen Beziehungen und die Neutralität der Schweiz zu beeinträchtigen.» (Seite 475)
House of Lords, London, bestätigt Recht des Strafgefangenen auf Presse-Interview in eigener Sache zwecks weiterer Nachforschungen zum Nachweis der Unschuld
Zur Begründung führt Lord Steyn u. a. aus: «Erstens sei festzuhalten, daß bis zu dem Zeitpunkt, als der Innenminister ein generelles Verbot aller Presse-Interviews mit Strafgefangenen ausgesprochen habe, solche Gespräche gelegentlich stattgefunden und wesentlich zur Aufklärung und Berichtigung von Fehlurteilen beigetragen hätten. Es gebe keinen Grund zu der Annahme, daß sich diese Interviews in irgendeiner Weise nachteilig auf die Disziplin in der Strafanstalt ausgewirkt hätten. Zweitens sei festzustellen, daß es einem Journalisten wegen des generellen Verbots des Innenministers heute praktisch unmöglich sei, sich des Falles eines Strafgefangenen anzunehmen, der geltend mache, Opfer eines Justizirrtums geworden zu sein; denn er könne die Sache nicht mündlich mit ihm erörtern. Ein wichtiges Mittel für die Aufklärung von Fehlentscheidungen der Strafjustiz sei damit verloren gegangen.» (Seite 479)
Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, hält Berücksichtigung des Börsenkurses zur angemessenen Entschädigung für außenstehende oder ausgeschiedene Aktionäre bei Vertragskonzernen bzw. Eingliederungen für geboten
«Die Verkehrsfähigkeit als Eigenschaft des Aktieneigentums darf bei der Wertbestimmung des Eigentumsobjekts nicht außer Betracht bleiben. Der Ausgleich für außenstehende Aktionäre muß vielmehr so bemessen sein, daß sie auch künftig solche Renditen erhalten, die sie erhalten hätten, wenn der Unternehmensvertrag nicht geschlossen worden wäre; die Abfindung muß so bemessen sein, daß die Minderheitsaktionäre den Gegenwert ihrer Gesellschaftsbeteiligung erhalten. (…) Es ist aber mit Art. 14 Abs. 1 GG unvereinbar, wenn dabei der Kurswert der Aktie außer Betracht bleibt.» (Seite 481)
BVerfG lehnt einstweilige Anordnung gegen Sozialversicherungspflicht für geringfügig Nebenbeschäftigte in Gebäudereiniger-Unternehmen ab / 630-Mark-Jobs
Die 2. Kammer des Ersten Senats stellt fest: «Im Hinblick auf die besonders strengen Anforderungen, die an die verfassungsgerichtliche Außerkraftsetzung von Gesetzen im Wege einer einstweiligen Anordnung gestellt werden, ist nicht hinreichend dargelegt, daß ohne deren Erlaß die Antragstellerinnen ihre Tätigkeit mit hoher Wahrscheinlichkeit auf Dauer einstellen müßten. Andere Unternehmer (…), die infolge der sie treffenden Beendigung von geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen ebenfalls erhebliche Schwierigkeiten haben, sind offenbar in der Lage, die entstandenen Arbeitsausfälle und die gestiegenen Arbeitskosten auszugleichen; jedenfalls haben sie sich nicht an das Bundesverfassungsgericht gewandt.» (Seite 488)
BVerfG sieht Pressefreiheit durch zivilrechtliche Verurteilung eines Presseverlags zur Auskunftserteilung über den Lieferanten rechtswidrig veröffentlichter Fotos verletzt
Die 1. Kammer des Ersten Senats führt aus: «Die Gerichte haben die Auskunftsverpflichtung allein deshalb als zulässigen Eingriff in die Pressefreiheit angesehen, weil die Veröffentlichung der Bilder rechtswidrig war und die Urheberrechtsverletzung von der Beschwerdeführerin und dem Lieferanten als Mittäter begangen worden sei. Unabhängig von der Frage, ob der von den Zivilgerichten zugrunde gelegte Sachverhalt die Annahme einer Mittäterschaft in subjektiver Hinsicht im Sinne eines bewußten und gewollten Zusammenwirkens rechtfertigt, führt diese Auffassung dazu, daß der Informantenschutz generell im Fall einer zumindest in Kauf genommenen Urheberrechtsverletzung entfällt. Das trägt den Belangen der Pressefreiheit jedoch nicht hinreichend Rechnung.»
Konkret ging es um die Trauung eines wegen Mordes zu lebenslanger Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilten Strafgefangenen mit seiner früheren Therapeutin am 13. März 1997. Die Hamburger Justizbehörden hatten aus Rücksicht auf die Hinterbliebenen des Opfers die Öffentlichkeit ausgeschlossen. (Seite 490)
BVerfG nimmt zur richterlichen Willkür bei der Bewertung des Erinnerungsvermögens hochbetagter Personen Stellung / hier: 90-jährige Vermieterin
Die 1. Kammer des Ersten Senats betont: «Ein allgemeiner Erfahrungssatz des Inhalts, daß neunzigjährige Personen sich nicht mehr an das erinnern können, was sie zu einem ungefähr zwei Wochen zurückliegenden Zeitpunkt über eine in Aussicht genommene Vereinbarung mit dem anderen Vertragsteil abgesprochen haben, besteht nicht.» (Seite 494)
Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Berlin, legt im Kruzifix-Streit die Neufassung des einschlägigen bayerischen Landesgesetzes in der Weise verfassungskonform aus, daß ernsthaft und einsehbar Widersprechende (hier: die Schüler-Eltern) bei fehlender angemessener Ausweichmöglichkeit sich letztlich durchsetzen
In den Leitsätzen hält das BVerwG grundsätzlich fest: «Die Regelung des Art. 7 Abs. 3 BayEUG, wonach in allen Klassenräumen der Volksschulen ein Kreuz anzubringen ist, dem jedoch aus ernsthaften und einsehbaren Gründen des Glaubens oder der Weltanschauung widersprochen werden kann, verstößt nicht gegen Bundesverfassungsrecht, insbesondere nicht gegen das Neutralitätsgebot und die negative Glaubensfreiheit.
Die Widerspruchsregelung ist bundesverfassungskonform dahin auszulegen, daß sich die Widersprechenden dann, wenn sie sich auf derartige ernsthafte und einsehbare Gründe stützen, eine Einigung nicht zustande kommt und andere zumutbare, nicht diskriminierende Ausweichmöglichkeiten nicht bestehen, letztlich durchsetzen müssen.
Für die Annahme ernsthafter und einsehbarer Gründe des Glaubens oder der Weltanschauung reicht es aus, wenn aus den Darlegungen der Eltern deutlich wird, daß sie Atheisten sind und/oder aus antireligiösen Auffassungen heraus es als unzumutbar ansehen, daß ihr Kind in der Erziehung religiösen Einflüssen ausgesetzt werde. Weltanschauliche Indifferenz kann dagegen einen Widerspruch nicht tragen. Ein freies Vetorecht besteht nicht.
Die Widerspruchsregelung ist verfassungskonform dahin zu handhaben, daß vorhersehbare Konflikte wegen der Anbringung des Kreuzes möglichst von vornherein vermieden und notfalls schon bei der Klasseneinteilung berücksichtigt werden. Der Schulleiter hat während des gesamten Verfahrens die gebotene Diskretion zu wahren.»
Zu den Pflichten des Schulleiters heißt es in dem Kruzifix-Urteil des BVerwG: «Der Schulleiter darf daher niemandem offenbaren, wer der Anbringung eines Kreuzes widersprochen hat, wieviele dies und mit welcher Begründung sie dies getan haben – nicht den Eltern, nicht den Schülern und auch nicht den Lehrern, und sei es auch nur mittelbar. (…) Eine Elternversammlung zur Ermittlung des Mehrheitswillens scheidet daher aus Rechtsgründen aus.»
Gegenüber den Eltern betont das BVerwG: «Ebenso ist dem Widersprechenden zuzumuten, sich auf die vom Toleranzgedanken geprägten Einigungsbemühungen des Schulleiters einzulassen.» (Seite 497)
Der Kruzifix-Beschluß des BVerfG ist in EuGRZ 1995, 359 veröffentlicht; vgl. auch die – nach dem Kruzifix-Beschl. des BVerfG ergangene – Entscheidung des BayVerfGH, EuGRZ 1997, 447 sowie die rechtsvergleichend bedeutsame Entscheidung des Schweizerischen Bundesgerichts, EuGRZ 1991, 89.
EuGH-Präsident Gil Carlos Rodríguez Iglesias und Kommissionspräsident Romano Prodi zu den Herausforderungen an die Rechtsgemeinschaft der EU
Rodríguez Iglesias erklärte beider Vereidigung der neuen EG-Kommission am 17. September 1999 vor dem Plenum des EuGH in Luxemburg, die Wahrung des Rechts sei «das eigentliche Fundament der Gemeinschaft». Er würdigte die Aufgaben der Kommission als Hüterin der Verträge und als Amicus curiae in den Vorabentscheidungsverfahren.
Prodi ging auch auf die «überproportional zunehmende Arbeitslast» bei Gerichtshof und Gericht Erster Instanz ein: «Es versteht sich von selbst, daß die Elemente für eine Lösung nicht zu Lasten des Vorlageverfahrens gehen können … In einer Gemeinschaft, die sich ständig vertieft und erweitert, ist der Fortbestand einer kohärenten Rechtsprechung und deren Fähigkeit, die authentische Auslegung der Regeln zu geben, die alle zu respektieren haben, eine absolute Notwendigkeit.» (Seite 503)
BVerfG lehnt einstweilige Anordnung gegen die Abschaffung der Beihilfefähigkeit von Krankenhauskosten in Brandenburg ab. (Seite 504)
Vor dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH), Luxemburg, sind zwei Verfahren zum Militärdienst für Frauen anhängig
Es geht um die Weigerung des britischen Verteidigungsministers, die als Köchin bei einer aufgelösten Armee-Einheit bislang tätige und sonst arbeitslose Klägerin des Ausgangsverfahrens, Angela Maria Sirdar, Rs. C-273/97, künftig bei den Royal Marines zu beschäftigen.
Die Klägerin in dem vom Verwaltungsgericht Hannover vorgelegten Verfahren verfügt über eine Ausbildung auf dem Gebiet der Elektronik und bewarb sich 1996 für den freiwilligen Dienst in der Bundeswehr mit dem Verwendungswunsch: Instandsetzung (Elektronik). Ihr Antrag wurde mit der Begründung abgelehnt, es sei gesetzlich ausgeschlossen, daß Frauen Dienst mit der Waffe leisteten (Art. 12 Abs. 4 GG). Die Klägerin, Tanja Kreil, Rs. C-285/98, sieht darin eine gemeinschaftswidrige Diskriminierung. (Seite 436)