EuGRZ 2003 |
22. Oktober 2003
|
30. Jg. Heft 17-20
|
Informatorische Zusammenfassung
Dieter Kugelmann, Mainz, kommentiert in seiner Besprechung des EGMR-Urteils zur Auflösung der Wohlfahrtspartei in der Türkei „Die streitbare Demokratie nach der EMRK / Politische Parteien und Gottesstaat“
„Nach Ansicht des Gerichtshofes ist die Auflösung einer politischen Partei zulässig, wenn (1) eine Gefahr für das demokratische Regierungssystem unmittelbar bevorsteht, (2) die Handlungen und Äußerungen der Führer und Mitglieder auch der Partei in ihrer Gesamtheit zurechenbar sind und (3) sich daraus ein eindeutiges Gesamtbild eines von einer politischen Partei vertretenen Gesellschaftsmodells ergibt, das gegen die Konzeption einer demokratischen Gesellschaft verstößt. (…) Im Ergebnis kann dem Gerichtshof daher darin zugestimmt werden, dass die Scharia menschenrechtswidrig ist und eine übermäßige Privilegierung einer Religion innerhalb der politischen Ordnung dem Charakter der Demokratie widerspricht.
Die Refah schloss den Rückgriff auf Gewalt zur Durchsetzung ihrer Ziele nicht aus. (…) Im Fall der Türkei erweist sich, dass auch ein langjähriger Mitgliedstaat infolge politischer Umbrüche in eine Situation kommen kann, in der bestimmte Gruppen die Grundfesten des Staatswesens angreifen und rasch Zulauf finden. Unter den Bedingungen multi-ethnischer oder multi-religiöser Staaten könnenzugeschüttete oder zurückgedrängte Extremismen in kürzester Zeit hohe Sprengkraft entfalten. (…)
In ihren kollektiven Schutzgehalten entfalten zudem die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit des Art. 9 EMRK Wirkungen zu Gunsten von Glaubensgemeinschaften und auch religiös motivierten und orientierten politischen Parteien. Andererseits ist der Gottesstaat mit der Demokratie unvereinbar. In dieser Auslegung begegnet der Gerichtshof den Interpretationen des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 4, 5, 8 GG (…). Die einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofs, die den Freiheitsrechten kollektive Aussagen entnimmt, erweist sich als Beispiel der inhaltlichen Konvergenz europäischer Verfassungsauslegung.“ (Seite 533)
Das Urteil Refah Partisi, Erbakan u. a. gegen Türkei ist veröffentlicht in EuGRZ 2003, 206-222 (Heft 7-10).
Christian Maierhöfer, Erlangen, analysiert das IGH-Urteil Kongo gegen Belgien im Spannungsfeld zwischen „Weltrechtsprinzip und Immunität: das Völkerstrafrecht vor den Haager Richtern“
Der Autor stellt fest: „Das Urteil des IGH ist bei nüchterner Betrachtung weder der von Menschenrechtsorganisationen viel beklagte Rückschlag für das Völkerstrafrecht noch die von ad-hoc-Richter Bula Bula gewünschte Warnung an die Adresse der angeblichen „Kreuzritter des humanitären Fundamentalismus“. Der Gerichtshof hat keinesfalls versucht, das Rad der Geschichte wieder in die Zeit zurückzudrehen, als schlimmste Gräueltaten für die Täter folgenlos blieben. Er hat im Gegenteil betont, dass Immunität nicht prinzipiell von strafrechtlicher Verantwortlichkeit freistellt, sondern nur vor bestimmten Gerichten und unter bestimmten Umständen als Prozesshindernis wirkt. Das „Weltrechtsprinzip in Abwesenheit“ hat er nicht für völkerrechtswidrig erklärt, es ist inzwischen aber in der Praxis an politischen Zwängen gescheitert.
Wichtig ist, dass der IGH durch die Betonung der Staatenpraxis in der das Urteil tragenden Argumentation einen Pflock gegen jene immer mehr vordringende Völkerrechtskonzeption eingeschlagen hat, die Inhalt und Rang von Rechtsnormen unmittelbar aus materiellen Grundwerten ableiten will, anstatt auf die durch den Konsens der souveränen Staaten vermittelte verfahrensrechtliche Legitimation zu setzen. In dieser Besinnung auf die „klassische“ Legitimation des Völkerrechts liegt das Verdienst des Urteils. Leider wurde jedoch versäumt, zu verdeutlichen, dass auch dieses Völkerrechtsverständnis einen effektiven Menschenrechtsschutz ermöglicht.“ (Seite 545)
Das IGH-Urteil Kongo gegen Belgien ist mit Sondervoten veröffentlicht in EuGRZ 2003, 563-584 (in diesem Heft).
Christina Lux-Wesener, Köln, erläutert das EGMR-Urteil im Fall Odièvre gegen Frankreich – Anonyme Geburt mit EMRK vereinbar
„Die Debatte über rechtliche Zulässigkeit und ethische Legitimation anonymer Geburten und Babyklappen wird in vielen Mitgliedstaaten des Europarats bereits seit einigen Jahren intensiv geführt und entzündet sich an der vorliegenden Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte neu. In seinem Urteil hat der Gerichtshof – wenn auch nur mit knapper Stimmenmehrheit – das französische System der anonymen Geburt für mit der EMRK vereinbar erklärt. Dem Gerichtshof ist im Ergebnis zuzustimmen, wenngleich seine Begründung einige Fragen unbeantwortet lässt.“
Nach einer intensiven Prüfung der Rechts- und Problemlage im Hinblick auf das GG kommt Lux-Wesener zu dem Ergebnis, dass die Einführung derartiger Systeme prinzipiell zulässig wäre, doch im deutschen Rechtssystem trotz der französischen Vorbildwirkung einen Fremdkörper bilden würde. (Seite 555)
Das EGMR-Urteil Odièvre gegen Frankreich ist mit Sondervoten veröffentlicht in EuGRZ 2003, 584-595 (in diesem Heft).
Maud de Boer-Buquicchio, Straßburg: „Klarstellung zum Status des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und seiner Beziehungen zum Europarat“
Die Stellvertretende Generalsekretärin des Europarats und vormalige Vizekanzlerin des EGMR kritisiert u. a.: „Zwei kürzlich in der Europäischen Grundrechte-Zeitschrift erschienene Beiträge zeichnen ein Bild des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und seiner Beziehungen zum Europarat, das nicht den Realitäten entspricht. (…) In Wahrheit ist die Unabhängigkeit des EGMR und seiner Richter in keiner Weise gefährdet. Die EMRK und die sie ergänzenden Regelungen des Allgemeinen Abkommens über die Vorrechte und Befreiungen des Europarats und seines Sechsten Zusatzprotokolls stellen eine solide Basis für die Arbeit des Gerichtshofs dar. Der Generalsekretär hat sich immer wieder erfolgreich für die Unabhängigkeit des EGMR und seiner Richter eingesetzt.
Die Anmerkung verkennt den besonderen Status des EGMR, der zwar einerseits Vertragsorgan der EMRK, andererseits aber auch ein Teil des Europarats ist. (…) Die Einbindung des Gerichtshofs in den Europarat und seine Strukturen beeinträchtigt jedoch in keiner Weise seine Unabhängigkeit. Das Gegenteil trifft zu. Als freischwebendes „Konventionsorgan“ wären der Gerichtshof und seine Mitarbeiter weitgehend schutzlos. (…) Die in der Kanzlei des Gerichthofs beschäftigten Personen unterliegen seit jeher dem Dienstrecht des Europarats. Sie werden durch den Generalsekretär ernannt, der auch ihr oberster Dienstherr ist.“ (Seite 561)
Die vorstehend kritisierten Beiträge sind: N.P. Engel, Status, Ausstattung und Personalhoheit des Inter-Amerikanischen und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte / Facetten und Wirkungen des institutionellen Rahmens, EuGRZ 2003, 122-133; ders., Unabhängigkeit des EGMR als Voraussetzung für den Beitritt der EU zur EMRK (Art. I-7 Abs. 2 EU-Verfassungsentwurf), EuGRZ 2003, 388.
Internationaler Gerichtshof (IGH), Den Haag, verurteilt Belgien zur Aufhebung eines internationalen Haftbefehls, der gegen den amtierenden kongolesischen Außenminister Abdulaye Yerodia Ndombasi erlassen worden war
Der Haftbefehl war von einem Untersuchungsrichter beim Tribunal de Première Instance in Brüssel am 11.4.2000 wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit ausgestellt worden. Yerodia soll noch vor seinem Amtsantritt als Außenminister rassistische Hetzreden gehalten haben und so für die Ermordung von mehreren hundert in Kinshasa lebenden Tutsi verantwortlich gewesen sein.
Der IGH gelangt zu der Feststellung, „dass die Verbreitung des Haftbefehls – unabhängig davon, ob sie die diplomatische Tätigkeit von Herrn Yerodia tatsächlich behindert hat – die Verletzung einer Verpflichtung Belgiens gegenüber dem Kongo darstellt, da dadurch die Immunität des amtierenden Außenministers des Kongo und, genauer gesagt, seine strafrechtliche Immunität und Unverletzlichkeit gemäß dem Völkerrecht verkannt wurde“. (Seite 563)
Cf. auch Christian Maierhöfer, in diesem Heft S. 545 ff.
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Straßburg, billigt das französische System der anonymen Geburt und sieht keinen absoluten Anspruch auf behördliche Auskunft über die leiblichen Eltern / Odièvre gegen Frankreich
Der EGMR ist der Auffassung, „dass Frankreich den ihm zustehenden Ermessensspielraum in Anbetracht der Komplexität und Sensibilität der Frage nach dem Geheimnis der eigenen Herkunft nicht überschritten hat, eine Frage, die im Zusammenhang zu sehen ist, nicht nur mit dem Recht eines jeden, seinen persönlichen Hintergrund zu kennen, sondern auch mit der Entscheidung der biologischen Eltern, mit den bestehenden familiären Bindungen und den Adoptiveltern“. Dementsprechend liegt keine Verletzung von Art. 8 EMRK vor. (Seite 584)
Cf. dazu Christina Lux-Wesener, in diesem Heft S. 555.
EGMR bestätigt Verbot für eine Lehrerin, an einer staatlichen Grundschule das islamische Kopftuch zu tragen / Dahlab gegen Schweiz
Die Beschwerdeführerin war erst nach ihrer Übernahme ins Beamtenverhältnis zum Islam übergetreten. Der EGMR meint, es könne „nicht von vornherein bestritten werden, dass das Kopftuchtragen einen Bekehrungseffekt haben kann, zumal es den Frauen durch ein Gebot des Korans vorgeschrieben zu sein scheint, das nach den Feststellungen des Schweizerischen Bundesgerichts (RUDH 1998, 53 ff.) schwerlich mit dem Grundsatz der Gleichheit der Geschlechter zu vereinbaren sein dürfte. Auch scheint das Tragen des islamischen Kopftuchs mit der Botschaft der Toleranz, des Respekts gegenüber dem anderen und vor allem der Gleichheit und Nichtdiskriminierung, die in einer Demokratie jeder Lehrer seinen Schülern vermitteln soll, schwer vereinbar zu sein.“ (Seite 595)
Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH), Luxemburg, bekräftigt den Grundsatz der Staatshaftung bei gemeinschaftsrechtswidrigen Fehlentscheidungen nationaler Gerichte und nennt die „offenkundige“ Verkennung der einschlägigen EuGH-Rechtsprechung als Kriterium / Rs. Köbler
„Der Grundsatz, dass die Mitgliedstaaten zum Ersatz von Schäden verpflichtet sind, die einem Einzelnen durch ihnen zuzurechnende Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht entstehen, ist auch dann anwendbar, wenn der fragliche Verstoß in einer Entscheidung eines letztinstanzlichen Gerichts besteht, sofern die verletzte Gemeinschaftsnorm bezweckt, dem Einzelnen Rechte zu verleihen, der Verstoß hinreichend qualifiziert ist und zwischen diesem Verstoß und dem dem Einzelnen entstandenen Schaden ein unmittelbarer Kausalzusammenhang besteht.“
Es geht um die Qualifizierung einer besonderen Dienstalterszulage für Universitätsprofessoren in Österreich und die Nicht anrechnung der an ausländischen Universitäten innerhalb der EU geleisteten Dienstjahre. Der EuGH sah in der negativen Entscheidung des VwGH keinen „offenkundigen“ Verstoß. (S. 597)
EuGH bestätigt Aufenthaltsrecht eines mit einer EU-Bürgerin (Britin) verheirateten Drittstaatsangehörigen (Marokkaner) trotz Aufenthaltsverbots (in GB) nach vorübergehender Niederlassung in einem anderen EU-Staat (Irland) / Rs. Akrich
Außerdem verweist der EuGH auf den in Art. 8 EMRK verbürgten Anspruch auf Achtung des Familienlebens und die Rechtsprechung des EGMR. (Seite 607)
Schweizerisches Bundesgericht (BGer), Lausanne, sieht in Disziplinarbuße gegenüber Rechtsanwalt weder strafrechtliche Anklage noch Strafe i.S.v. Art. 6 und 7 EMRK
„Die kantonalen Instanzen durften ohne weiteres davon Ausgehen, die Verwendung beleidigender Ausdrücke dieser Art sei eines Anwalts unwürdig und mithin standeswidrig.“ (Seite 612)
BGer zieht Grenzen bei Nachzug von ausländischen Familienangehörigen eines eingebürgerten Schweizers
Der aus der Türkei stammende Bf. hatte, nachdem sein Asylgesuch im August 1992 abgelehnt worden war, im November desselben Jahres eine Schweizerin geheiratet und erlangte 1997 das Bürgerrecht. Im November 1999 wollte er seine in der Türkei bei ihrer Mutter zurückgelassene nichteheliche Tochter nachkommen lassen. (Seite 615)
Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, erklärt in einer 5:3 Entscheidung das Verbot für eine Lehrerin, das islamische Kopftuch in Schule und Unterricht zu tragen, ohne gesetzliche Grundlage für verfassungswidrig
In den Leitsätzen heißt es: „Der mit zunehmender religiöser Pluralität verbundene gesellschaftliche Wandel kann für den Gesetzgeber Anlass zu einer Neubestimmung des zulässigen Ausmaßes religiöser Bezüge in der Schule sein.“
Im Urteil des Zweiten Senats selbst, das von einer aus Afghanistan stammenden Deutschen erstritten wurde, wird ausgeführt: „Das Tragen eines Kopftuchs macht im hier zu beurteilenden Zusammenhang die Zugehörigkeit der Beschwerdeführerin zur islamischen Religionsgemeinschaft und ihre persönliche Identifikation als Muslima deutlich. Die Qualifizierung eines solchen Verhaltens als Eignungsmangel für das Amt einer Lehrerin an Grund- und Hauptschulen greift in das Recht der Beschwerdeführerin auf gleichen Zugang zu jedem öffentlichen Amt aus Art. 33 Abs. 2 GG in Verbindung mit dem ihr durch Art. 4 Abs. 1 und 2 GG gewährleisteten Grundrecht der Glaubensfreiheit ein, ohne dass dafür gegenwärtig die erforderliche, hinreichend bestimmte gesetzliche Grundlage besteht.“ (Seite 621)
In ihrer abweichenden Meinung betonen die Richter Jentsch, Di Fabio und Mellinghoff: „Das von der Beschwerdeführerin begehrte kompromisslose Tragen des Kopftuchs im Schulunterricht ist mit dem Mäßigungs- und Neutralitätsgebot eines Beamten nicht zu vereinbaren. (…) Überdies liegt nahe, dass einige Eltern von einem Protest absehen werden, weil sie deswegen Nachteile für ihr Kind befürchten. Die Möglichkeit einer Beeinträchtigung des Schulfriedens ist im Fall der Beschwerdeführerin im Übrigen auch schon konkret geworden, wie Erfahrungen im Vorbereitungsdienst und die ablehnende Reaktion von anderen Lehrerinnen zeigen. (…)
Schließlich gibt die Senatsmehrheit dem Landesgesetzgeber keine Möglichkeit, sich auf die von ihr angenommene neue Verfassungsrechtslage einzustellen und versäumt es, Rechtsprechung und Verwaltung zu sagen, wie sie bis zum Erlass eines Landesgesetzes verfahren sollen.“ (Seite 630)
BVerfG erinnert an Sorgfaltspflichten bei der Ausübung der Pressefreiheit / Haarfarbe des Bundeskanzlers
Die 1. Kammer des Ersten Senats stellt fest: Die Verbreitung ungeprüfter Behauptungen aus einem Interview (Haarfarbe und Überzeugungskraft von Bundeskanzler Schröder) ist auch für Presseagenturen nicht von der Pressefreiheit gedeckt. (S. 638)
BVerfG präzisiert die Reichweite der Berufsfreiheit beim Sozietätswechsel von Rechtsanwälten (Seite 640)
BVerfG – Selbstablehnung des Richters Jentsch (Seite 645)
EuGH-Präsident Gil Carlos Rodríguez Iglesias kehrt nach fast 18 Richterjahren an die Universität zurück. Vassilios Skouris am 7.10.03 zum neuen Präsidenten des EuGH gewählt. (S. 647)
EGMR – Senator Lines gegen 15 EU-Staaten wegen Versagung vorläufigen Rechtsschutzes durch die Gemeinschaftsgerichte gegen Vollstreckung einer existenzvernichtenden Kartellbuße / Mündliche Verhandlung in Straßburg nach Prozesserfolg vor EuG in Luxemburg vertagt. (Seite 648)