EuGRZ 2011 |
30. November 2011
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38. Jg. Heft 19-21
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Informatorische Zusammenfassung
Wolfram Cremer, Bochum,behandelt „Grundrechtsverpflichtete und Grundrechtsdimensionen nach der Charta der Grundrechte der Europäischen Union“
«Die Auseinandersetzung über die Reichweite einer Bindung der Mitgliedstaaten soll hier (…) aus verschiedenen Gründen aufgenommen und vertieft werden. Zum einen stellt sich die Frage seit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon und dem gleichzeitigen Verbindlichwerden der gem. Art. 6 Abs. 1 EUV mit Primärrechtsrang ausgestatteten EU-Grundrechtecharta vom 7. Dezember 2000 in der am 12. Dezember 2007 angepassten Fassung insofern grundlegend neu, als sie nicht nur für eine neue Kategorie von Unionsgrundrechten zu erörtern ist, sondern auch – wie gezeigt wird – von einem gegenüber dem alten Rechtszustand gänzlich verschiedenen Regelungsmechanismus auszugehen hat. Außerdem ist die bisherige Diskussion durch eine Verengung auf eine Bindung der Mitgliedstaaten an die (Freiheits)Grundrechte in ihrer abwehrrechtlichen Funktion geprägt; hier soll dagegen auch untersucht werden, ob und ggf. inwiefern resp. in welchem Umfang die Mitgliedstaaten aus einer leistungs- und insbesondere schutzrechtlichen Funktion der Freiheitsgrundrechte, originären Leistungsgrundrechten sowie den sog. „Grundsätzen“ der EU-Grundrechtecharta verpflichtet werden. Des Weiteren werden die genannten Grundrechtsdimensionen – was im Übrigen im Sinne einer notwendig zu beantwortenden Vorfrage im Hinblick auf eine Bindung der Mitgliedstaaten angezeigt und teils gar unverzichtbar ist – auch im Hinblickauf eine Bindung der Union untersucht. In diesem Zusammenhang müssen namentlich die „Grundsätze“ in ihren alles andere als selbstverständlichen Grundstrukturen entfaltet werden. (…)
Entgegen der Judikatur des EuGH und einer verbreiteten Auffassung im Schrifttum ist dagegen mit dem Bundesverfassungsgericht eine Bindung an die Unionsgrundrechte in dem Umfang abzulehnen, in dem das Unionsrecht den Mitgliedstaaten Umsetzungs- resp. Anwendungsspielräume belässt. Soweit Spielräume bestehen, kann von einer „Durchführung“ keine Rede sein.»
Zusammenfassend hält der Autor fest: «Soweit die Charta Freiheitsgrundrechte in ihrer sog. klassischen abwehrrechtlichenFunktion verbürgt, ist die Union umfassend gebunden, die Mitgliedstaaten lediglich bei der „Durchführung“ des Unionsrechts und entgegen der Judikatur des EuGH nicht bereits, wenn das mitgliedstaatliche Verhalten in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt.
Des Weiteren ist die Union Adressat der schutzrechtlichen Dimension der Freiheitsgrundrechte sowie der originären Leistungsgrundrechte der Charta. Die aktuelle Wirksamkeit dieser Verpflichtung hängt freilich davon ab, ob die Union de constitutione lata über Kompetenzen zur Erfüllung des Schutz- resp. Leistungsauftrags verfügt. Die Mitgliedstaaten sind weder Adressaten der freiheitsgrundrechtlichen Schutzfunktion noch der originären Leistungsgrundrechte der Charta.
„Grundsätze“ statuieren für die Union verbindliche objektiv-rechtliche Verpflichtungen auf der obersten Stufe der unionsrechtlichen Normenhierarchie in Gestalt objektiv-rechtlicher Eingriffsverbote. Handlungsgebote sind ihnen dagegen nicht zu entnehmen. Gegenüber den Mitgliedstaaten entfalten „Grundsätze“ keinerlei Bindung.» (Seite 545)
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Straßburg, sieht in der fristlosen Kündigung einer Arbeitnehmerin nach Strafanzeige gegen ihren Arbeitgeber zur Offenlegung von erheblichen Missständen (hier: in Altenheim der Vivantes, Berlin) eine Verletzung der Freiheit der Meinungsäußerung (Art. 10 EMRK) / Heinisch gegen Deutschland
„Whistleblower“ sind nach diesem Urteil im Grundsatz geschützt: «Der Gerichtshof ist sich der Bedeutung des Rechts auf freie Meinungsäußerung im Zusammenhang mit Fragen von allgemeinem Interesse, des Rechts von Arbeitnehmern, strafbares oder rechtswidriges Verhalten seitens des Arbeitgebers anzuzeigen, der Pflichten und Verantwortlichkeiten von Arbeitnehmern gegenüber ihren Arbeitgebern und des Rechts von Arbeitgebern auf Mitarbeiterführung bewusst und hat die zahlreichen weiteren Interessen, die sich auf die vorliegende Rechtssache auswirken, abgewogen; dabei ist er zu dem Schluss gekommen, dass der Eingriff in das Recht der Bf. auf freie Meinungsäußerung, insbesondere ihr Recht, Informationen weiterzugeben, „in einer demokratischen Gesellschaft“ nicht „notwendig“ war.
Der Gerichtshof ist daher der Ansicht, dass die innerstaatlichen Gerichte in der vorliegenden Rechtssache keine angemessene Abwägung zwischen dem erforderlichen Schutz des Rufes und der Rechte des Arbeitgebers einerseits und dem erforderlichen Schutz der Meinungsfreiheit der Bf. andererseits vorgenommen haben.» (Seite 555)
EGMR unterstreicht das Kindeswohl als maßgebend für die Entscheidung über ein Umgangs- und Auskunftsrecht des mutmaßlichen biologischen Vaters gegen den Willen des rechtlichen Vaters und der Mutter und stellt wegen des Unterlassens der Prüfung des Kindeswohls eine Verletzung von Art. 8 EMRK fest / Schneider gegen Deutschland
Der Bf. behauptet, der leibliche Vater eines Kindes (F.) zu sein, dessen Mutter sich zeitweilig von ihrem aus beruflichen Gründen im Vereinigten Königreich lebenden Ehemann getrennt und mit dem Bf. in Deutschland eine intime Beziehung eingegangen war, ohne in dessen Wohnung zu ziehen. Noch vor der Geburt des Sohnes F. hatte sie die Beziehung zum Bf. beendet und war ihrem Ehemann ins Vereinigte Königreich gefolgt. Das Ehepaar hatte bereits eine gemeinsame Tochter, die bei der Geburt des F. sieben Jahre alt war. Die Eheleute ziehen es im Interesse ihres familiären Zusammenlebens vor, die Vaterschaft nicht überprüfen zu lassen.
Die innerstaatlichen Gerichte waren der Ansicht, es müsse alles vermieden werden, was das Vertrauen eines Kindes zu seiner Familie erschüttern könne.
Der EGMR beanstandet, «dass die innerstaatlichen Gerichte die widerstreitenden Interessen im Entscheidungsprozess nicht fair gegeneinander abgewogen haben und dem Bf. daher nicht den nach Art. 8 erforderlichen Schutz seiner Interessen zu Teil werden ließen. Sie haben in keiner Weise geprüft, ob der Umgang zwischen F. und dem Bf. unter den besonderen Umständen der Rechtssache dem Wohl des Kindes dienen würde. Darüber hinaus haben sie nicht geprüft, ob es unter den besonderen Umständen der Rechtssache dem Kindeswohl dienen würde, dem Antrag des Bf., zumindest Auskünfte über die persönliche Entwicklung von F. zu erhalten, stattzugeben, oder ob, zumindest in dieser Hinsicht, das Interesse des Bf. als vorrangig vor dem Interesse der rechtlichen Eltern zu gelten hatte. Daher haben sie keine ausreichenden Gründe angeführt, um ihren Eingriff i.S.v. Art. 8 Abs. 2 zu rechtfertigen. Der Eingriff in das Recht des Bf. auf Achtung seines Privatlebens war daher nicht „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“.» (Seite 565)
Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH), Luxemburg, zu den Grenzen der Patentierbarkeit biotechnologischer Erfindungen / Rs. Brüstle
„Verwendung von menschlichen Embryonen zu industriellen oder kommerziellen Zwecken“ – mit diesem Begriff in Art. 6 Abs. 2 Buchst. c der RL 98/44/EG hatte sich der EuGH vorliegend zum ersten Mal zu befassen. Er gelangt zu folgendem Ergebnis:
«Jede menschliche Eizelle vom Stadium ihrer Befruchtung an, jede unbefruchtete menschliche Eizelle, in die ein Zellkern aus einer ausgereiften menschlichen Zelle transplantiert worden ist, und jede unbefruchtete menschliche Eizelle, die durch Parthenogenese zur Teilung und Weiterentwicklung angeregt worden ist, ist ein „menschlicher Embryo“.
Es ist Sache des nationalen Gerichts, im Licht der technischen Entwicklung festzustellen, ob eine Stammzelle, die von einem menschlichen Embryo im Stadium der Blastozyste gewonnen wird, einen „menschlichen Embryo“ im Sinne von Art. 6 Abs. 2 Buchst. c der Richtlinie 98/44 darstellt.
Der Ausschluss von der Patentierung nach Art. 6 Abs. 2 Buchst. c der Richtlinie 98/44, der die Verwendung menschlicher Embryonen zu industriellen oder kommerziellen Zwecken betrifft, bezieht sich auch auf die Verwendung zu Zwecken der wissenschaftlichen Forschung, und nur die Verwendung zu therapeutischen oder diagnostischen Zwecken, die auf den menschlichen Embryo zu dessen Nutzen anwendbar ist, kann Gegenstand eines Patents sein.
Eine Erfindung ist nach Art. 6 Abs. 2 Buchst. c der Richtlinie 98/44 von der Patentierung ausgeschlossen, wenn die technische Lehre, die Gegenstand des Patentantrags ist, die vorhergehende Zerstörung menschlicher Embryonen oder deren Verwendung als Ausgangsmaterial erfordert, in welchem Stadium auch immer die Zerstörung oder die betreffende Verwendung erfolgt, selbst wenn in der Beschreibung der beanspruchten technischen Lehre die Verwendung menschlicher Embryonen nicht erwähnt wird.»(Seite 576 [GA Bot], 585 [Urteil])
EuGH ordnet transgen belasteten Bienenhonig als zulassungspflichtiges Lebensmittel ein / Rs. Bablok u.a.
Im Ausgangsverfahren vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof geht es um die Feststellung, ob die betroffenen Imkerei- produkte durch den Eintrag von Pollen von genetisch verändertem Mais (MON 810) nicht mehr verkehrs- oder gebrauchsfähig und damit „wesentlich beeinträchtigt“ i.S.d. §§ 36a GenTG und 906 Abs. 2 BGB sind. Der EuGH betont, dass die relevanten unionsrechtlichen Vorschriften das Ziel verfolgen, «die nachteiligen Auswirkungen zu vermeiden, die sich aus diesen GVO {genetisch veränderten Organismen] für die Gesundheit des Menschen und die Umwelt ergeben könnten (…) So müssen Lebensmittel, die aus GVO bestehen, diese enthalten oder daraus hergestellt werden, nach dem dritten Erwägungs- grund dieser Verordnung zum Schutz der Gesundheit des Menschen einer „Sicherheitsprüfung“ unterzogen werden. In der Verordnung Nr. 1829/2003 wird dadurch ein zusätzliches Kontrollniveau eingeführt. Diese Verordnung würde gegenstandslos, wenn man davon ausginge, dass Bewertungen und Zulassungen, die in Anwendung der Richtlinie 90/220 oder der Richtlinie 2001/18 vorgenommen bzw. erteilt wurden, alle anschließenden potenziellen Risiken für die Gesundheit des Menschen und die Umwelt abdeckten. Wenn die in Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1829/2003 genannten Voraussetzungen erfüllt sind, besteht die Zulassungs- und Überwachungspflicht unabhängig vom Anteil des genetisch veränderten Materials in dem fraglichen Erzeugnis.» (Seite 591)
EuGH erklärt tarifvertragliche Altersgrenze von 60 Jahren für Verkehrspiloten (hier: bei der Lufthansa) für altersdiskriminierend i.S.d. RL 2000/78/EG/ Rs. Prigge u.a. «Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 ist dahin auszulegen, dass er einer tarifvertraglichen Klausel entgegensteht, die wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende die Altersgrenze, ab der Piloten als körperlich nicht mehr fähig zur Ausübung ihrer beruflichen Tätigkeit gelten, auf 60 Jahre festlegt, während die nationale und die internationale Regelung dieses Alter auf 65 Jahre festlegen. Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2000/78 ist dahin auszulegen, dass die Flugsicherheit kein legitimes Ziel im Sinne dieser Vorschrift ist.» (Seite 597)
EuGH billigt nationale Grenzwerte für den Lärmpegel am Boden beim Überfliegen von Wohngebieten in der Nähe von Flughäfen / Rs. European Air Transport SA (EAT) Eine derartige Regelung (hier: Region Brüssel-Hauptstadt) stelle als solche kein Verbot für den Zugang zum betroffenen Flughafen dar. Im Ausgangsfall hatte die zuständige belgische Umweltschutzbehörde gegenüber der betroffenen Fluggesellschaft für 48 der 62 im Oktober 2006 zwischen 2.00 Uhr und 5.00 Uhr morgens begangenen Zuwiderhandlungen eine Geldbuße in Höhe von 56.113,– Euro auferlegt. (Seite 604)
EuGH zu Reichweite und Grenzen der Immunität von Abgeordneten des EP bei Äußerungen außerhalb des Parlaments / Rs. Patriciello Der Abgeordnete wird strafrechtlich verfolgt, weil er bei einer verbalen Auseinandersetzung mit einer Gemeindepolizistin auf einem Parkplatz in der Nähe eines neurologischen Instituts und unweit seines Wohnsitzes diese beschuldigt hatte, sie habe die Parkzeiten der angeblichen Falschparker falsch aufgeschrieben, m.a.W., Urkundenfälschung begangen. Das EP hatte gegenüber den italienischen Strafverfolgungsbehörden beschlossen, die Immunität des Abgeordneten nicht aufzuheben. Der EuGH gelangt zu folgendem Ergebnis: «Art. 8 des dem EUV, dem AEUV und dem EAG-Vertrag beigefügten Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass eine von einem Europaabgeordneten außerhalb des Europäischen Parlaments abgegebene Erklärung, die in seinem Herkunftsmitgliedstaat zu einer strafrechtlichen Verfolgung wegen falscher Anschuldigung geführt hat, nur dann eine in Ausübung seines parlamentarischen Amtes erfolgte Äu- ßerung darstellt, die unter die in dieser Vorschrift vorgesehene Immunität fällt, wenn sie einer subjektiven Beurteilung entspricht, die in einem unmittelbaren und offensichtlichen Zusammenhang mit der Ausübung eines solchen Amtes steht. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, festzustellen, ob diese Voraussetzungen im Ausgangsverfahren vorliegen.» (Seite 607)
EuGH zur Gültigkeit eines Landpachtvertrages eines Schweizer Landwirts als selbständiger Grenzgänger für in Baden-Württemberg im Grenzgebiet gelegenes Ackerland / Rs. Graf und Engel
Das Landratsamt Waldshut verweigert die Genehmigung des Landpachtvertrags (369 Ar) mit dem Argument, die zollfreie Ausfuhr der dort erzeugten landwirtschaftlichen Produkte führe zu Wettbewerbsverzerrungen gegenüber den benachbarten deutschen Landwirten, weil der pachtende Schweizer Landwirt in der Schweiz höhere Preise erziele als deutsche Landwirte für die gleichen Produkte in Deutschland. Da auch deutsche Landwirte Interesse an der Anpachtung des fraglichen Grundstücks bekundet hätten, läge eine ungesunde Verteilung der Bodennutzung vor (§ 2 des Landpachtverkehrsgesetzes).
Der EuGH entscheidet, der Pachtvertrag könne in Anbetracht des Grundsatzes der Gleichbehandlung nicht beanstandet werden, «wenn diese Regelung in ihrer Anwendung eine erheblich größere Zahl von Staatsangehörigen des anderen Vertragsstaats berührt als Staatsangehörige des Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet diese Regelung gilt. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob dies zutrifft.» (Seite 610)
EuGH zu den gerichtlichen Zuständigkeiten bei Verletzung von Persönlichkeitsrechten durch Veröffentlichungen im Internet und Wahlmöglichkeiten der Kläger / Verb. Rsn. eDate Advertising und Martinez
«Art. 5 Nr. 3 der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 (…) ist dahin auszulegen, dass im Fall der Geltendmachung einer Verletzung von Persönlichkeitsrechten durch Inhalte, die auf einer Website veröffentlicht worden sind, die Person, die sich in ihren Rechten verletzt fühlt, die Möglichkeit hat, entweder bei den Gerichten des Mitgliedstaats, in dem der Urheber dieser Inhalte niedergelassen ist, oder bei den Gerichten des Mitgliedstaats, in dem sich der Mittelpunkt ihrer Interessen befindet, eine Haftungsklage auf Ersatz des gesamten entstandenen Schadens zu erheben. Anstelle einer Haftungsklage auf Ersatz des gesamten entstandenen Schadens kann diese Person ihre Klage auch vor den Gerichten jedes Mitgliedstaats erheben, in dessen Hoheitsgebiet ein im Internet veröffentlichter Inhalt zugänglich ist oder war. Diese sind nur für die Entscheidung über den Schaden zuständig, der im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats des angerufenen Gerichts verursacht worden ist.» Seite 613)
Schweizerisches Bundesgericht (BGer), Lausanne, definiert Kriterien für die Beurteilung einer vertretbar behaupteten erniedrigenden Behandlung durch einen Polizeibeamten
Wer in vertretbarer Weise behauptet, von einem Polizeibeamten erniedrigend behandelt worden zu sein, hat Anspruch auf eine wirksame und vertiefte amtliche Untersuchung. Im konkreten Fall allerdings liegt keine Verletzung von Art. 10 Abs. 3 BV, Art. 3 EMRK vor. Der 27-jährige Bf. hatte als Lenker eines mit fünf weiteren Personen (davon drei 25, 26 und 30 Jahre alt) besetzten PKW versucht, mit starker Beschleunigung rückwärts fahrend einer Polizeikontrolle zu entgehen, und rammte einen geparkten Lieferwagen. Er war mit 1,29 Promille alkoholisiert; der Drogentest auf THC, Kokain und Opiate war positiv. Einer der den Unfall aufnehmenden Polizeibeamten hat den Bf., um ihn von ständigen Störungen abzuhalten, für ein bis zwei Sekunden am Kragen gepackt und ihm nachdrücklich bedeutet, sich zum Polizeifahrzeug zu begeben. Das BGer stellt nach weiterer Erörterung von Einzelheiten fest: «Der Beschwerdeführer stand dem Polizeibeamten A. gegen- über in einer Situation, die für ihn nicht ernsthaft bedrohlich und somit nicht geeignet sein konnte, das Gefühl von Ohnmacht und Unterlegenheit zu erzeugen. Das Vorgehen des Polizeibeamten A. zielte denn auch nicht darauf ab, den Beschwerdeführer zu demütigen, sondern darauf, diesen zur Räson zu bringen, damit er – der Polizeibeamte A. – endlich ungestört seine Arbeit machen konnte.» (Seite 619)
Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, erklärt die im deutschen Gesetz für die Wahlen zum Europäischen Parlament (Europawahlgesetz, EuWG) enthaltene 5 %-Sperrklausel für nichtig / Änderung der Rechtsprechung
Der Leitsatz des Zweiten Senats lautet: «Der mit der Fünf-Prozent-Sperrklausel in § 2 Abs. 7 EuWG verbundene schwerwie- gende Eingriff in die Grundsätze der Wahlrechtsgleichheit und Chancengleichheit der politischen Parteien ist unter den gegebe- nen rechtlichen und tatsächlichen Verhältnissen nicht zu rechtfertigen.» (Seite 621)
Abweichende Meinung der Richter Di Fabio und Mellinghoff:
«Wir tragen die Entscheidung in Ergebnis und Begründung nicht mit. Der Senat gewichtet durch eine zu formelhafte Anlegung der Prüfungsmaßstäbe den Eingriff in die Wahlrechtsgleichheit und Chancengleichheit politischer Parteien nicht überzeugend, zieht den Gestaltungsspielraum des Wahlgesetzgebers zu eng und nimmt eine mögliche Funktionsbeeinträchtigung des Europaparlaments trotz dessen gewachsener politischer Verantwortung in Kauf. Die Beibehaltung der Fünf-Prozent-Sperrklausel wird auf entsprechende Wahlprüfungsbeschwerden hin als Eingriff in die Grund- sätze der Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit politischer Parteien verfassungsrechtlich auf seine Rechtfertigung geprüft. Hat das Bundesverfassungsgericht noch im Jahr 1979 die Fünf-Prozent-Sperrklausel für die Europawahl als gerechtfertigt angesehen (BVerfGE 51, 222 = EuGRZ 1979, 320), so hält der Senat heute trotz abnehmender praktischer Wirkung der Sperrklausel (dazu unter I. [Rn. 149 ff.]) und trotz beträchtlicher Kompetenzzuwächse sowie einer deutlich gestiegenen politischen Bedeutung des Europaparlaments (dazu unter II. [Rn. 157 ff.]) die Sperrklausel für nicht mehr gerechtfertigt, ohne dass hinreichend offengelegt wird, inwieweit sich die Maßstäbe der Beurteilung verändert haben.» (Seite 634)
BVerfG erstreckt die Grundrechtsberechtigung auf juristische Personen aus Mitgliedstaaten der EU / Cassina-Beschluss
Der Erste Senat stellt seinem Beschluss, der den italienischen Möbelhersteller Cassina betrifft, folgende Leitsätze voran: «1. Die Erstreckung der Grundrechtsberechtigung auf juristische Personen aus Mitgliedstaaten der Europäischen Union stellt eine aufgrund des Anwendungsvorrangs der Grundfreiheiten im Binnenmarkt (Art. 26 Abs. 2 AEUV) und des allgemeinen Dis- kriminierungsverbots wegen der Staatsangehörigkeit (Art. 18 AEUV) vertraglich veranlasste Anwendungserweiterung des deut- schen Grundrechtsschutzes dar. 2. Durch die Annahme, das Recht der Europäischen Union lasse keinen Umsetzungsspielraum, kann ein Fachgericht Bedeutung und Tragweite der Grundrechte des Grundgesetzes verkennen.» In der Sache selbst hat die Bf. keinen Erfolg. Weder ihre Eigentumsrechte noch ihr Recht auf den gesetzlichen Richter sind verletzt. (Seite 637)
BVerfG beanstandet die Fortdauer der Sicherungsverwahrung in einem Altfall, hält dem OLG Hamm die Verkennung seines Urteils vom 4. Mai 2011 (EuGRZ 2011, 297) vor und verweist die Sache an das LG Arnsberg zurück. (Seite 645)
BVerfG nimmt ausführlich zu den Prärogativen eines Bundesverfassungsrichters Stellung, der auch Hochschullehrer ist / Richter Di Fabio
Die 2. Kammer des Zweiten Senats weist Antrag auf Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit des Richters Di Fabio als unbegründet zurück. (Seite 650)
BVerfG untersagt Zwangsbehandlung eines Maßregelpatienten gegen dessen erklärten Willen (durch Injektion unter Fesselung) mit einem Neuroleptikum (hier: Abilify)
§ 8 Abs. 2 Satz 2 des baden-württembergischen Unterbringungsgesetzes 1991 ist nichtig. (Seite 654)
BVerfG zu den verfahrensmäßigen Anforderungen an die Vorlage eines Gesetzes, das Unionsrecht umsetzt
Der Erste Senat betont: «Die Vorlage eines Gesetzes, das Recht der Europäischen Union umsetzt, nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG an das Bundesverfassungsgericht ist unzulässig, wenn das vorlegende Gericht nicht geklärt hat, ob das von ihm als verfassungswidrig beurteilte Gesetz in Umsetzung eines dem nationalen Gesetzgeber durch das Unionsrecht verbleibenden Gestaltungsspielraums ergangen ist. Das vorlegende Gericht muss hierfür gegebenenfalls ein Vorabentscheidungsverfahren zum Europäischen Gerichtshof nach Art. 267 Abs. 1 AEUV einleiten, unabhängig davon, ob es ein letztinstanzliches Gericht ist.» (Seite 658)
BVerfG sieht in der Aussetzung einer Sicherungsverwahrung auf fünf Monate zur Bewährung anstelle einer sofortigen Entlassung keinen Grund zur Beanstandung. (Seite 665)
Parlamentarische Versammlung des Europarats, Straßburg – Rechtsausschuss ergreift Initiative gegen Überlastung und unzureichende finanzielle Ausstattung des EGMR. (Seite 667)
EGMR besteht auf der völkerrechtlich verbrieften Immunität seiner Richter und deren Ehepartner
Am 6. Oktober 2011 fand im Rahmen strafrechtlicher Ermittlungen gegen die Ehefrau des rumänischen EGMR-Richters Bîrsan in dessen Heimatwohnung auf Anordnung der Nationalen Anti-Korruptionsbehörde eine Hausdurchsuchung statt. Die Ehefrau ist Richterin in Rumänien. Der EGMR hat bei der rumänischen Vertretung in Straßburg interveniert. In der Folge beantragten die rumänischen Behörden die Aufhebung der Immunität von Frau Bîrsan in Bezug auf ein konkretes Ermittlungsverfahren. Dem hat der EGMR nach zwei Plenumssitzungen mit Entscheidung vom 29. November 2011 stattgegeben. Der Immunitätsaufhebung kommt keine Rückwirkung zu. (Seite 667)
BVerfG erlässt einstweilige Anordnung gegen Übertragung von Parlamentsrechten auf 9er-Gremium im Zusammenhang mit Finanzgeschäften der Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF). (Seite 668)