EuGRZ 2011 |
28. Dezember 2011
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38. Jg. Heft 22-23
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Informatorische Zusammenfassung
Christian Walter, München: Religiöse Symbole in der öffentlichen Schule – Bemerkungen zum Urteil der Großen Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Fall Lautsi gegen Italien
«Kaum ein verfassungsrechtliches Thema weckt in vergleichbarer Weise Emotionen wie der Umgang mit religiösen Symbolen in der Schule. Welche andere Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts als der Kruzifix-Beschluss hätte in Deutschland zu Demonstrationen mit mehreren tausend Teilnehmern geführt und politische wie kirchliche Spitzenvertreter auf die Straße getrieben?
Das Kammer-Urteil der Zweiten Sektion des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), das im Verfahren Lautsi u.a. gegen Italien zunächst die konventionsrechtliche Zulässigkeit von Kruzifixen in italienischen Klassenzimmern verneint hatte, rief in Italien ähnlich empörte Reaktionen in der Öffentlichkeit hervor. Im Verfahren vor der Großen Kammer haben Armenien, Bulgarien, Zypern, Russland, Griechenland, Litauen, Malta, Monaco, Rumänien und die Republik San Marino als Drittbeteiligte Stellung genommen und damit zum Ausdruck gebracht, dass die Problematik über den konkreten Anlassfall und die italienische Rechtslage hinaus von allgemeiner europäischer Bedeutung ist. (…)
Die institutionelle Ausgestaltung des Verhältnisses zwischen Staat und Religionsgemeinschaften variiert in Europa stark. Die Spannbreite reicht von Staatskirchen oder Staatsreligionen in England oder Norwegen bis zur strikten Trennung in Frankreich oder der Türkei. Mit Blick auf den Religionsunterricht reicht sie von der vollständigen Verbannung aus der staatlichen Schule (Frankreich) bis zu einer verpflichtenden Religionskunde mit Schwerpunkt auf christlichen Glaubenslehren (Norwegen). Dabei ist es keineswegs so, dass sich die staatskirchlichen Ordnungen mit Blick auf den Umgang mit religiösen Symbolen im öffentlichen Dienst im Allgemeinen und in der Schule im Besonderen als besonders restriktiv erweisen. (…)
Neben den unterschiedlichen Ausgestaltungen des Verhältnisses zwischen Staat und Religionsgemeinschaften im Allgemeinen weist der Gerichtshof ausdrücklich darauf hin, dass es insbesondere für den Umgang mit religiösen Symbolen keinen europaweiten Konsens gebe.
Mit dieser Orientierung an den in der Rechtsprechung etablierten Kriterien des Beurteilungsspielraums der Mitgliedstaaten korrigiert die Große Kammer die höchst ungewöhnliche Herangehensweise der Kammer, einen so sensiblen Fall ohne nähere Auseinandersetzung mit dem Beurteilungsspielraum der Mitgliedstaaten zu entscheiden. Man kann sich fragen, was die Kammer zu ihrem Vorgehen bewogen haben mag. Hierzu ist die Vermutung geäußert worden, das Schweigen zum Beurteilungsspielraum sei „beredt“ und letztlich der Versuch, den EGMR in Anlehnung an die Rolle des EuGH im Unionsrecht zu einem Motor der Integration für die EMRK zu machen. Ob das zutrifft oder ob es sich schlicht um einen handwerklichen Fehler der Entscheidung handelt, wird sich von außen nicht aufklären lassen. (…)
Im Ergebnis lässt sich festhalten, dass der EGMR mit dem Urteil der Großen Kammer das Neutralitätsprinzip in der Schule als eine Forderung der Religionsfreiheit und des elterlichen Erziehungsrechts keineswegs aufgegeben hat. Es wird vielmehr im Gegenteil die Verantwortung der Mitgliedstaaten für den religiösen Frieden in der Gesellschaft betont und eine gleichberechtigte Berücksichtigung der „Beziehungen zwischen Gläubigen und Nicht-Gläubigen, wie auch [der]jenigen zwischen den Anhängern verschiedener Religionen, Glaubensrichtungen und Überzeugungen“ eingefordert. Die Große Kammer gibt dabei dem Beurteilungsspielraum der Mitgliedstaaten den notwendigen Raum und ermöglicht so die Fortschreibung unterschiedlicher Traditionen ebenso wie eigenständige religions-, schul- und integrationspolitische Akzentsetzungen. Am grundsätzlichen Anspruch auf konventionsrechtliche Kontrolle hält sie aber fest. Damit wird der Vielfalt der Staat-Religion-Beziehungen in den Mitgliedstaaten ein verbindlicher konventionsrechtlicher Rahmen gegeben, sie wird aber nicht über Gebühr beschränkt. Die Große Kammer hat in der Rechtssache Lautsi ein kluges Urteil gesprochen.» (Seite 673)
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Straßburg, wertet Kruzifix in öffentlichen Schulen Italiens nicht als Verletzung des Erziehungsrechts atheistischer Eltern / Lautsi u.a. gegen Italien
Die Große Kammer des EGMR korrigiert mit fünfzehn gegen zwei Stimmen das auf Verletzung von Art. 2 des 1. ZP-EMRK erkennende Kammer-Urteil (einstimmig) und betont die Sicherung des religiösen Friedens als staatliche Aufgabe:
«In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die Staaten dafür verantwortlich sind, in neutraler und unparteiischer Weise sicherzustellen, dass verschiedene Religionen, Glaubensrichtungen und Überzeugungen ausgeübt werden können. Es ist ihre Aufgabe, dazu beizutragen, dass die öffentliche Ordnung sowie religiöser Friede und Toleranz in einer demokratischen Gesellschaft, insbesondere zwischen gegnerischen Gruppen erhalten bleiben (…). Dies betrifft gleichermaßen die Beziehungen zwischen Gläubigen und Nicht-Gläubigen wie auch diejenigen zwischen den Anhängern verschiedener Religionen, Glaubensrichtungen und Überzeugungen. (…)
Insbesondere hindert Art. 2 Satz 2 des 1. ZP-EMRK die Staaten nicht daran, in ihrem Erziehungs- und Unterrichtswesen Informationen oder Kenntnisse zu vermitteln, die – direkt oder indirekt – religiöser oder weltanschaulicher Natur sind. Die Bestimmung berechtigt die Eltern nicht einmal, sich der Einbeziehung eines solchen Unterrichts oder einer derartigen Erziehung in den Lehrplan zu widersetzen.
Auf der anderen Seite verlangt die Vorschrift, welche die Sicherung einer pluralistischen Ausbildung zu ermöglichen sucht, dass der Staat bei Ausübung seiner Aufgaben im Erziehungs- und Unterrichtswesen dafür sorgt, dass die lehrplanmäßige Vermittlung von Informationen oder Kenntnissen, sachlich, kritisch und pluralistisch erfolgt, damit die Schülerinnen und Schüler in die Lage versetzt werden, in ruhiger Atmosphäre, frei von Missionierungsversuchen, eine eigene kritische Haltung zur Religion zu entwickeln. Dem Staat ist es verwehrt, Indoktrinierungsabsichten zu verfolgen, die als Nichtachtung der religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen der Eltern angesehen werden könnten. Dies ist die Grenze, welche die Staaten nicht überschreiten dürfen. (…)
In diesem Zusammenhang ist es richtig, dass die Anordnung zum Anbringen von Kruzifixen in den Klassenzimmern staatlicher Schulen – einem Symbol, das sich ungeachtet einer möglicherweise auch bestehenden säkularen Bedeutung unzweifelhaft auf das Christentum bezieht – der Mehrheitsreligion des Landes eine herausgehobene Sichtbarkeit im schulischen Umfeld verleiht.
Dies reicht allerdings für sich genommen nicht aus, um eine Indoktrinierung von Seiten des betroffenen Staates und einen Verstoß gegen die Anforderungen von Art. 2 des 1. ZP-EMRK anzunehmen. (…)
Zu einem ähnlichen Ergebnis kam der Gerichtshof im Zusammenhang mit dem Unterricht in „Religiöser Kultur und Ethik“ in türkischen Schulen, bei dem der Lehrplan der Wissensvermittlung über den Islam stärkeres Gewicht beimaß, weil es sich beim Islam, ungeachtet des säkularen Charakters des Staates, um die in der Türkei mehrheitlich ausgeübte Religion handelte (…).
Schließlich hält der Gerichtshof fest, dass das Elternrecht der Beschwerdeführerin vollständig erhalten geblieben ist, ihre Kinder aufzuklären, anzuleiten, ihnen gegenüber die natürliche Aufgabe als Erzieherin auszuüben und sie auf einem Weg zu führen, der mit ihren eigenen weltanschaulichen Überzeugungen übereinstimmt.» (Seite 677)
Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH), Luxemburg, zu Voraussetzungen für die zulässige Inhaftierung eines illegal sich aufhaltenden Drittstaatsangehörigen (Armenier) zur Strafvollstreckung (in Frankreich) / Rs. Achughbabian
Die RL 2008/115/EG über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger ist dahin auszulegen, «dass sie
– der Regelung eines Mitgliedstaats, die den illegalen Aufenthalt mit strafrechtlichen Sanktionen ahndet, entgegensteht, soweit diese Regelung die Inhaftierung eines Drittstaatsangehörigen zur Strafvollstreckung zulässt, der sich zwar illegal im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats aufhält und nicht bereit ist, dieses Hoheitsgebiet freiwillig zu verlassen, gegen den aber keine Zwangsmaßnahmen im Sinne von Art. 8 dieser Richtlinie verhängt wurden und dessen Haft im Fall einer Inhaftnahme zur Vorbereitung und Durchführung seiner Abschiebung noch nicht die höchstzulässige Dauer erreicht hat,
– einer solchen Regelung aber nicht entgegensteht, soweit diese die Inhaftierung eines Drittstaatsangehörigen zur Strafvollstreckung zulässt, auf den das mit dieser Richtlinie geschaffene Rückkehrverfahren angewandt wurde und der sich ohne einen Rechtfertigungsgrund für seine Nichtrückkehr illegal in dem genannten Hoheitsgebiet aufhält.» (Seite 687)
Schweizerisches Bundesgericht (BGer), Lausanne, anerkennt keinen Anspruch auf privaten Hausunterricht (hier: durch die Mutter)
Das BGer hält zunächst fest, Art. 26 Abs. 3 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen stellt kein Völkergewohnheitsrecht i.S.d. Art. 38 Abs. 1 lit. b IGH-Statut dar; Art. 26 Abs. 3 kommt somit keine Rechtsverbindlichkeit zu. Das Bundesgericht prüft sodann Art. 13 Abs. 3 Uno-Pakt I, Art. 19 und 62 Bundesverfassung und Art. 3 lit. a Verfassung des Kantons St. Gallen (KV/SG).
Ausführlich setzt sich das BGer damit auseinander, warum die Entscheidung des Verwaltungsgerichts des Kantons St. Gallen nicht willkürlich ist, und führt u.a. aus:
«Die vorinstanzliche Begründung überzeugt. Da bereits bundesrechtlich verlangt wird, dass eine Aufgabe der Schule (…) darin besteht, die soziale Kompetenz der Schülerinnen und Schüler entwicklungsspezifisch zu fördern, ist es nicht willkürlich, wenn für die Erziehung zur Gemeinschaftsfähigkeit nicht nur auf die elterliche Erziehung, auf Freizeitaktivitäten und auf Kontakte mit Freunden und Bekannten vertraut wird, sondern auch ein ausserfamiliäres und freundschaftsunabhängiges Umfeld einbezogen wird. Denn nur dort kann eine familienunabhängige Auseinandersetzung mit Erwachsenen, Vorgesetzten, Respektpersonen, anderen Kindern mit teilweise anderen Kulturen erfolgen, was die Kinder befähigt, sich im späteren Leben bestmöglich zu integrieren, und ihnen die gleichen Chancen eröffnet. Willkürlich wäre indes, wenn so hohe Anforderungen an die Erziehung zur Gemeinschaftsfähigkeit gestellt würden, dass die Kinder gleichsam eine Schule besuchen müssten. Dies verlangt aber entgegen der Auffassung der Beschwerdeführer die Vorinstanz nicht. Sie hat lediglich festgehalten, dass der Klavierunterricht, welcher zudem nur ein Kind betrifft, nicht hinreichend ist, die Erziehung zur Gemeinschaftsfähigkeit zu gewährleisten.» (Seite 692)
Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, bestätigt Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung und anderer verdeckter Ermittlungsmaßnahmen als verfassungsgemäß
Der Beschluss des Zweiten Senats bezieht sich auf §§ 100a, 100f, 101 Abs. 1 und 4 bis 6, 110 Abs. 3, 160a StPO. In der Begründung wird u.a. ausgeführt:
«Der Gesetzgeber hat mit der Neuregelung des § 100a Abs. 4 StPO ein zweistufiges Schutzkonzept entwickelt, um den Betroffenen vor Eingriffen in den absolut geschützten Kernbereich privater Lebensgestaltung zu bewahren. § 100a Abs. 4 Satz 1 StPO ordnet an, dass eine zielgerichtete Erhebung kernbereichsrelevanter Daten unterbleibt. Kommt es dennoch – ohne dass dies im Vorfeld zu erwarten war – zu einer Berührung des Kernbereichs, ist in § 100a Abs. 4 Sätze 2 bis 4 StPO eine Dokumentations- und Löschungspflicht sowie ein Verwertungsverbot vorgesehen.
Ein ausschließlicher Kernbereichsbezug kann vor allem dann angenommen werden, wenn der Betroffene mit Personen kommuniziert, zu denen er in einem besonderen, den Kernbereich betreffenden Vertrauensverhältnis – wie zum Beispiel engsten Familienangehörigen, Geistlichen, Telefonseelsorgern, Strafverteidigern oder im Einzelfall auch Ärzten – steht (…). Soweit ein derartiges Vertrauensverhältnis für Ermittlungsbehörden erkennbar ist, dürfen Maßnahmen der Telekommunikationsüberwachung nicht durchgeführt werden.
Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführer müssen Telekommunikationsüberwachungsmaßnahmen aber nicht schon deshalb von vornherein unterlassen werden, weil auch Tatsachen mit erfasst werden, die auch den Kernbereich des Persönlichkeitsrechts berühren. Ein entsprechendes umfassendes Erhebungsverbot würde die Telekommunikationsüberwachung in einem Maße einschränken, dass eine wirksame Strafverfolgung gerade im Bereich schwerer und schwerster Kriminalität nicht mehr gewährleistet wäre. Der Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung ist in diesen Fällen durch einen hinreichenden Grundrechtsschutz in der Auswertungsphase sicherzustellen. (…)
Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführer ist es von Verfassungs wegen nicht geboten, zusätzlich zu den staatlichen Ermittlungsbehörden eine unabhängige Stelle einzurichten, die über die (Nicht-)Verwendbarkeit der gewonnenen Erkenntnisse im weiteren Ermittlungsverfahren entscheidet.» (Seite 696)
BVerfG beanstandet Nichtvorlage an den EuGH als Verletzung des Anspruchs auf den gesetzlichen Richter
Die 2. Kammer des Ersten Senats begründet ausführlich, warum das BVerfG in st. Rspr. die Vorlagepflicht zum EuGH als essentiell ansieht. Konkret geht es um die in der Satzung einer Industrie- und Handelskammer festgelegte Höchstaltersgrenze von 68, in Ausnahmefällen 71 Jahren. (Seite 713)
Konsolidierung der Arbeitsfähigkeit des EGMR ist die erklärte Priorität der britischen Ratspräsidentschaft im Ministerkomitee des Europarats. (Seite 716)
EuGH-Generalanwältin Verica Trstenjak sieht in der Rückführung eines Asylbewerbers (VO Nr. 343/2003) in einen EU-Mitgliedstaat, dessen Asylsystem zusammengebrochen ist, (Griechenland) eine Verletzung von Art. 47 GRCh / Rs. N.S. (Seite 717)