EuGRZ 1997 |
17. September 1997
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24. Jg. Heft 14-16
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Informatorische Zusammenfassung
Gil Carlos Rodríguez Iglesias, Luxemburg, präzisiert die Grenzen der verfahrensrechtlichen Autonomie der Mitgliedstaaten bei der Anwendung des Gemeinschaftsrechts
«Da sowohl primäres als auch sekundäres Gemeinschaftsrecht zahlreiche subjektive Rechte zugunsten von Gemeinschaftsbürgern begründet haben, ohne aber vorzuschreiben, auf welche Weise diesen Rechten in den Mitgliedstaaten zur Durchsetzung verholfen werden muß und welche Rechtsbehelfe bei einer Verletzung dieser Rechte zur Verfügung stehen, ist es wichtig, die Frage nach den Grenzen der nationalen Kompetenzen bei der Ausführung des Gemeinschaftsrecht zu stellen.»
Der Autor kommt zu dem Ergebnis: «Somit endet die Verfahrensautonomie dort, wo die Anwendung von nationalen Verfahrensregeln sich in diskriminierender Weise auf das Gemeinschaftsrecht auswirkt oder aber dessen Effektivität in Frage stellt. Der Grundsatz der institutionellen und Verfahrensautonomie ist ein Ausdruck der dezentralen Anwendung des Gemeinschaftsrechts. Er geht weit über reine verfahrenstechnische Fragen hinaus; dies gilt entsprechend für seine Schranken.»
Rodríguez Iglesias stellt abschließend fest: «Die weitgehenden Schranken der institutionellen und Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten fügen sich im übrigen in die Grundprinzipien des Gemeinschaftsrechts – unmittelbare Wirkung, Vorrang, Haftung der Mitgliedstaaten für Rechtsverletzungen – ein. (…)
Die Schranken der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten zeigen die tiefe Verzahnung von Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht, mit anderen Worten: eine wechselseitige Durchdringung, die eine Intensität ohne Parallele erreicht hat. Ich bin überzeugt…, daß eine dualistische Betrachtung des Verhältnisses beider Rechtsordnungen dieser tiefen Verzahnung nicht gerecht wird.» (Seite 289)
Jürgen Kühling, Köln, untersucht die Grundrechtskontrolle durch den EuGH bei Kommunikationsfreiheit und Pluralismussicherung im Gemeinschaftsrecht
«Für die weitere Entwicklung der Kommunikationsfreiheit im Gemeinschaftsrecht stellt das Urteil im Fall Familiapress [s.u. S. 335] einen wichtigen Fixpunkt dar. Es setzt nicht nur die Rechtsprechungslinie, die der EuGH im Bereich der Dienstleistungsfreiheit für den Rundfunk zum Thema Pluralismussicherung entwickelt hat, für die Warenverkehrsfreiheit in bezug auf Presseerzeugnisse fort, sondern enthält zusätzliche Hinweise auf die Kommunikationsfreiheit im Gemeinschaftsrecht, insbesondere im Hinblick auf die Beschränkungsdogmatik. Überdies ist die Entscheidung für die weitere Grundrechtsjudikatur der Gemeinschaft insgesamt relevant.»
Kühling geht ausführlich auf die Berücksichtigung der Judikatur der Straßburger EMRK-Organe durch den EuGH ein und kommt abschließend zu dem Ergebnis: «EGMR und EKMR haben nicht nur materiell, sondern auch vom Begründungsniveau her einen gemeineuropäischen Standard gesetzt, der einen guten Mittelweg zwischen der breiten Ausführlichkeit mancher deutscher Urteile und der französischen imperatoria brevitas gefunden hat. Schließt sich der EuGH einem entsprechenden Begründungsstil für Grundrechtsfragen an, kann dies maßgeblich dazu beitragen, deutsche "Solange III"-Rufe zum verstummen zu bringen. Dazu ist ferner notwendig, daß der Gerichtshof wie im vorliegenden Fall die in der Sache einander entgegenstehenden Interessen hinreichend zur Wertung bringt.» (Seite 296)
Luigi Malferrari, Bologna/Heidelberg, kommentiert die Entwicklung zu Problemen der Gewaltenteilung, Gesetzgebung und Rechtssicherheit in der jüngsten italienischen Verfassungsrechtsprechung
In der Anmerkung zum Urteil des ital. VerfGH [s.u. S. 360], in dem die Praxis der Wiederholung von Gesetzes-Verordnungen für verfassungswidrig erklärt wird, legt der Autor ausführlich die dogmatischen Grundlagen und praktischen Zusammenhänge dar, wobei er begründet, warum der Mangel an Rechtssicherheit ein zentrales Problem der italienischen Rechtsordnung ist.
Malferrari betont: «Diese Entscheidung zeichnet sich insgesamt durch ihre Prägnanz und ihren begrüßenswerten Inhalt aus. Zum einen sollte sie wegen der Kürze und Klarheit ihrer Argumentation als Beispiel für die künftige Verfassungsrechtsprechung sowie für alle anderen Gerichte dienen. Zum anderen hat sie der tadelnswerten Praxis der Wiederholung von Gesetzes-Verordnungen ein Ende gesetzt. Sie hat einen wichtigen Beitrag zur Verbesserung der Rechtssicherheit in Italien geleistet und somit das Rechtsstaatsprinzip, dessen wichtiger Bestandteil die Rechtssicherheit ist, mit Leben erfüllt. (…) Die mehrmalige und umfangreiche Verwendung von Gesetzes-Verordnungen in den letzten Jahren war nicht nur Folge, sondern auch Mitursache für die Funktionsmängel des Parlaments. Diesen circulus vitiosus hat der Verfassungsgerichtshof durchbrochen.» (Seite 303)
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Straßburg, sieht in der überlangen Verfahrensdauer (5 Jahre) vor dem Bundesverfassungsgericht einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK
Der Fall Pammel gegen Deutschland betrifft eine Vorlage des OLG Hamm an das BVerfG wegen der gesetzlichen Beschränkungen des Pachtzinses für Kleingärten (EuGRZ 1992, 567). Das Verfahren allein vor dem BVerfG dauerte 5 Jahre und 3 Monate.
Hierzu führt der EGMR aus: «Der Gerichtshof weist darauf hin, daß er mehrfach entschieden hat, daß Art. 6 Abs. 1 die Vertragsstaaten verpflichtet, ihr Gerichtswesen so zu organisieren, daß ihre Gerichte jeder seiner Anforderungen einschließlich der Verpflichtung, innerhalb einer angemessenen Frist zu entscheiden, gerecht werden können. (…) Obwohl diese Verpflichtung für ein Verfassungsgericht nicht in derselben Weise ausgelegt werden kann wie für die ordentliche Gerichtsbarkeit hat der Gerichtshof als letzte Instanz die Beachtung dieser Konventionsbestimmung anhand der besonderen Umstände jedes Falles und der in seiner Rechtsprechung verankerten Kriterien zu prüfen.
Allerdings ist ein Vertragsstaat international nicht für eine zeitweilige Überlastung seiner Gerichtsbarkeit verantwortlich, wenn er mit der gebotenen Zügigkeit geeignete Abhilfemaßnahmen trifft. (…) Gleichwohl kann nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs eine chronische Arbeitsüberlastung, wie sie seit Ende der siebziger Jahre beim Bundesverfassungsgericht besteht, eine überlange Verfahrensdauer nicht rechtfertigen.»
Deutschland wurde verurteilt, zum Ausgleich des materiellen Schadens DM 15.000,- und als Ersatz für Kosten und Auslagen DM 10.000,- zu zahlen. (Seite 310)
Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH), Luxemburg, lehnt Verkürzung der Arbeitnehmer-Ansprüche gem. RL 80/987/EWG durch Dauer des Konkursverfahrens ab
In Fortführung der Francovich-Rspr. zur Haftung des Staates für die verspätete Umsetzung einer Richtlinie (hier: RL zum Mindestschutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers) stellt der EuGH im Bonifaci-Urteil fest, die lange Dauer des Konkursverfahrens dürfe nicht dazu führen, daß die Referenzzeiten für die Bemessung der das Arbeitsentgelt betreffenden nichterfüllten Ansprüche leerlaufen:
«Unter Berücksichtigung sowohl der sozialen Zielsetzung der Richtlinie als auch der Notwendigkeit, die Referenzzeiten, an die die Richtlinie Rechtswirkungen knüpft, eindeutig festzusetzen, muß der Begriff "Eintritt der Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers" in den Artikeln 3 Absatz 2 und 4 Absatz 2 der Richtlinie den Zeitpunkt der Einreichung des Antrags auf Eröffnung des Verfahrens zur gemeinschaftlichen Gläubigerbefriedigung bezeichnen, wobei die garantierte Leistung nicht vor der Entscheidung über die Eröffnung eines solchen Verfahrens oder bei unzureichender Vermögensmasse der Feststellung der endgültigen Schließung des Unternehmens gewährt werden kann.» (Seite 317)
EuGH bekräftigt ungeschmälerten Zahlungsanspruch gem. Arbeitnehmer-Schutz-RL 80/987/EWG auch bei anschließender innerstaatlicher Sozialleistung
Im Maso-Urteil erklärt der EuGH, daß die «drei letzten Monate des Arbeitsvertrags oder des Arbeitsverhältnisses», für die die RL die Befriedigung der das Arbeitsentgelt betreffenden nichterfüllten Ansprüche garantiert, drei ganze Monate bedeuten.
Außerdem wird die Absicht der Entschädigungsbehörde zurückgewiesen, die Ansprüche, die sich aus den letzten drei Monaten des Arbeitsverhältnisses bei dem zahlungsunfähig gewordenen Arbeitgeber ergeben, mit einer innerstaatlichen «Mobilitätszulage» zu verrechnen, die der Sicherung des Lebensunterhalts eines entlassenen Arbeitnehmers für die drei Monate dient, die auf die Beendigung des Arbeitsverhältnisses folgen. (Seite 322)
EuGH hält einjährige Ausschlußfrist für die Geltendmachung von Ansprüchen wegen der verspäteten Umsetzung der Arbeitnehmer-Schutz-RL 80/987/EWG für angemessen
Im Palmisani-Urteil kommt der EuGH zu dem Ergebnis: «Es verstößt nicht gegen das Gemeinschaftsrecht bei seinem gegenwärtigen Stand, wenn ein Mitgliedstaat für die Erhebung einer Klage auf Ersatz des durch die verspätete Umsetzung der Richtlinie 80/987/EWG… entstandenen Schadens eine Ausschlußfrist von einem Jahr nach der Umsetzung in sein nationales Recht vorschreibt, sofern diese Verfahrensvorschrift nicht weniger günstig ist als Vorschriften, die für ähnliche Klagen innerstaatlicher Art gelten.» (Seite 325)
EuGH zieht die Grenze für den innerstaatlichen Vertrauensschutz dort, wo die Rückforderung (gemeinschafts-)rechtswidriger staatlicher Beihilfen unmöglich gemacht würde
Im Alcan-Urteil heißt es u.a.: «Ohne daß beurteilt werden müßte, wie sich die deutschen Behörden im Ausgangsfall verhalten haben, was allein in die Zuständigkeit der nationalen Gerichte und nicht in die des Gerichtshofes im Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 des Vertrages fällt, ist festzustellen, daß die Beihilfeempfängerin kein berechtigtes Vertrauen in die Ordnungsmäßigkeit der Gewährung der Beihilfe geltend machen kann. (…) Die Verpflichtung des Begünstigten, sich zu vergewissern, daß das Verfahren des Artikels 93 Absatz 3 des Vertrages eingehalten wurde, kann nämlich nicht vom Verhalten der Behörde abhängen, auch wenn diese für die Rechtswidrigkeit des Bescheids in einem solchen Maße verantwortlich war, daß die Rücknahme als Verstoß gegen Treu und Glauben erscheint.»
Konkret geht es um eine Beihilfe in Höhe von 8 Millionen DM, die der in Ludwigshafen von der Fa. Alcan betriebenen Aluminiumhütte von der Landesregierung Rheinland-Pfalz zum Ausgleich für erhebliche Strompreiserhöhungen und zur Sicherung des Fortbestandes von 330 Arbeitsplätzen 1982 angeboten und 1983 in zwei Raten – ohne die erforderliche Genehmigung der EG-Kommission – ausgezahlt worden war. (Seite 327)
EuGH erklärt Umgehung gemeinschaftsrechtlicher Fristen durch innerstaatliche Rechtsbehelfe für unzulässig
Das Coen-Urteil betrifft die Mitwirkung innerstaatlicher Behörden beim Einstellungsverfahren für EG-Bedienstete auf Zeit. Der EuGH führt hierzu aus: «Kann in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens die Rechtmäßigkeit eines von einem Gemeinschaftsorgan eingeleiteten Einstellungsverfahrens von der Ordnungsmäßigkeit bestimmter Handlungen der nationalen Behörden abhängen, an die sich das Gemeinschaftsorgan gewandt hat, so hat der Betroffene, der sich verletzt fühlt, innerhalb der im Statut festgelegten Fristen – und sei es auch nur vorsorglich – die vorgesehenen Rechtsbehelfe einzulegen. Jede andere Auslegung würde es erlauben, die im Vertrag und im Statut vorgesehenen zwingenden Fristen durch Rechtsbehelfe, die auf nationaler Ebene eingeführt sind, zu umgehen.» (Seite 332)
EuGH bestätigt seine Rechtsprechung zur Nichtanwendung gemeinschaftswidrigen innerstaatlichen Rechts
Im Morellato-Urteil geht es um Einfuhrbeschränkungen für französisches Brot nach Italien wegen seiner in Frankreich erlaubten und in Italien verbotenen Zusammensetzung, die nach der Entscheidung des EuGH nicht gem. Art. 36 EGV mit der Notwendigkeit des Gesundheitsschutzes gerechtfertigt werden können.
In dem Urteil heißt es: «Sind Bestimmungen des nationalen Rechts mit dem Gemeinschaftsrecht unvereinbar, so sind nach ständiger Rechtsprechung die nationalen Gerichte gehalten, für die volle Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts Sorge zu tragen, indem sie die unvereinbaren Bestimmungen des nationalen Rechts aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewendet lassen.» (Seite 333)
Zu den EuGH-Urteilen Bonifaci, Maso, Palmisani, Alcan, Coen und Morellato s.a. den Aufsatz von Gil Carlos Rodríguez Iglesias, Zu den Grenzen der verfahrensrechtlichen Autonomie der Mitgliedstaaten bei der Anwendung des Gemeinschaftsrechts, S. 289.
EuGH billigt innerstaatliches Verbot von Preisausschreiben in Zeitschriften zur Aufrechterhaltung der Medienvielfalt und damit verbundene Einfuhrbeschränkungen
Im Ausgangsverfahren klagt der österreichische Familiapress Verlag gegen den deutschen Heinrich Bauer Verlag auf Unterlassung, weil die in dessen Wochenzeitschrift "Laura" enthaltenen Preisrätsel mit zu verlosenden Preisen zwischen 500,- und 5.000,- DM zwar in Deutschland erlaubt, in Österreich jedoch verboten sind.
Im Familiapress-Urteil stellt der EuGH fest: «Die Aufrechterhaltung der Medienvielfalt kann ein zwingendes Erfordernis darstellen, das eine Beschränkung des freien Warenverkehrs rechtfertigt. Diese Vielfalt trägt nämlich zur Wahrung des Rechts der freien Meinungsäußerung bei, das durch Artikel 10 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten geschützt ist und zu den von der Gemeinschaftsrechtsordnung geschützten Grundrechten gehört. (…) Allerdings sind die betreffenden nationalen Vorschriften nach ständiger Rechtsprechung… nur zulässig, wenn sie in einem angemessenen Verhältnis zum verfolgten Zweck stehen und wenn dieser Zweck nicht durch Maßnahmen erreicht werden kann, die den innergemeinschaftlichen Handelsverkehr weniger beschränken.»
Daher sei zu untersuchen, «ob ein nationales Verbot der im Ausgangsverfahren streitigen Art in einem angemessenen Verhältnis zur Aufrechterhaltung der Medienvielfalt steht und ob dieser Zweck nicht durch Maßnahmen erreicht werden kann, die den innergemeinschaftlichen Handelsverkehr sowie die Meinungsfreiheit weniger beschränken.»
Weiter heißt es in dem Urteil: «Zu diesem Zweck ist zum einen zu ermitteln, ob Zeitschriften, die im Rahmen von Preisausschreiben, Rätseln oder Gewinnspielen eine Gewinnchance eröffnen, mit kleinen Presseunternehmen im Wettbewerb stehen, von denen angenommen wird, daß sie keine vergleichbaren Preise aussetzen können, und die die streitige Regelung schützen will, zum anderen, ob eine solche Gewinnchance einen Kaufanreiz darstellen kann, der zu einer Verlagerung der Nachfrage führen kann. Es ist Sache des nationalen Gerichts, auf der Grundlage einer Untersuchung des österreichischen Pressemarktes zu beurteilen, ob diese Voraussetzungen erfüllt sind.» (Seite 335, 344)
Generalanwalt Giuseppe Thesauro war in seinen Schlußanträgen zum selben Ergebnis gekommen. (Seite 335)
Zum Familiapress-Urteil s.a. Jürgen Kühling, Grundrechtskontrolle durch den EuGH: Kommunikationsfreiheit und Pluralismussicherung im Gemeinschaftsrecht, S. 296.
Schweizerisches Bundesgericht (BGer), Lausanne, unterstreicht die Notwendigkeit richterlicher Kontrolle bei der Festhaltung von Asylgesuchstellern am Flughafen über mehrere Tage
Nach den Feststellungen des BGer genügt die gegenwärtige Regelung nicht den Anforderungen der EMRK, insbesondere nicht in bezug auf die richterliche Kontrolle gem. Art. 5 Ziff. 4 EMRK. Deshalb müsse der Gesetzgeber tätig werden. Das Bundesgericht stellt wegen Vorliegens einer Gesetzeslücke für eine Übergangsfrist gesetzesergänzende Grundsätze auf. Bis zu einer gesetzlichen Neuregelung erklärt das BGer die Schweizerische Asylrekurskommission für zuständig, die richterliche Kontrolle über das Flughafenverfahren auf Antrag auszuüben. (Seite 346)
Schweizerisches Bundesgericht (BGer), Lausanne, wertet Quotenregelung als unverhältnismäßigen Eingriff in das Diskriminierungsverbot und bestätigt kantonale Ungültigerklärung einer entsprechenden Volksinitiative "für eine gleichberechtigte Vertretung der Frauen und Männer in den kantonalen Behörden – Initiative 2001"
Das BGer faßt seine Erwägungen folgendermaßen zusammen: «Die mit der Initiative 2001 verlangte Quotenregelung privilegiert die Frauen im Hinblick auf das in Art. 4 Abs. 2 Satz 2 BV enthaltene Egalisierungsgebot, weicht aber vom Diskriminierungsverbot nach Art. 4 Abs. 2 Satz 1 BV ab. Dieses bildet eine relative Schranke des Egalisierungsgebotes und schliesst unverhältnismässige Ungleichbehandlungen der Geschlechter aus. Ob eine positive Massnahme zur Verwirklichung der tatsächlichen Gleichstellung der Geschlechter mit Art. 4 Abs. 2 BV vereinbar ist, muss im konkreten Fall aufgrund einer Interessenabwägung beurteilt werden. Die hier in Frage stehende Massnahme, mit der verbindlich und ohne Qualifikationsbezug eine dem Bevölkerungsanteil entsprechende Vertretung der Frauen in Parlament, Regierung und Gerichten verlangt wird, geht weit über das Ziel der in Art. 4 Abs. 2 Satz 2 BV garantierten Chancengleichheit hinaus, indem sie Ergebnisgleichheit herbeiführen will. Die Quotenregelung stellt daher einen unverhältnismässigen Eingriff in das Diskriminierungsverbot nach Art. 4 Abs. 2 Satz 1 BV dar. Soweit die Regelung vom Volk gewählte Behörden betrifft, verletzt sie das durch das Verfassungsrecht des Bundes gewährleistete allgemeine und gleiche Recht, zu wählen und gewählt zu werden, da die Anknüpfung an das menschliche Geschlecht grundsätzlich ein unzulässiges Kriterium darstellt. Die Initiative 2001 verstösst offensichtlich gegen Bundesrecht. Sie lässt keinen Spielraum für verfassungskonforme Auslegung offen.» (Seite 352)
Italienischer Verfassungsgerichtshof, Rom, erklärt die ausufernde Praxis der Wiederholung von Gesetzes-Verordnungen für verfassungswidrig
Die Corte Costituzionale sieht die Verfassung in mehrfacher Weise verletzt. In dem Urteil heißt es: «Unter einem allgemeineren Gesichtspunkt ist festzustellen, daß sich die Wiederholungspraxis vor allem dann, wenn sie – wie nach den jüngeren Erfahrungen – umfangreich ist und immer wieder vorkommt, auf das Gleichgewicht der Gewalten auswirkt (…), denn sie verändert sogar die Merkmale der Regierungsform und die normale Gesetzgebungszuständigkeit des Parlaments (Art. 70 Verf.).
Wenn diese Praxis umfangreich ist und immer wieder vorkommt, erschüttert sie darüber hinaus letztendlich auch die Rechtssicherheit des Einzelnen in seinen Verhältnissen, denn man kann weder die Geltungsdauer der wiederholten Bestimmungen noch das Endergebnis des Umwandlungsprozesses vorhersehen.» (Seite 360)
Zu diesem Urteil s.a. Luigi Malferrari, Gewaltenteilung, Gesetzgebung und Rechtssicherheit in der jüngsten italienischen Verfassungsrechtsprechung, S. 303.
Verfassungsgerichtshof (VfGH), Wien, erklärt Schlechterstellung österreichischer Staatsangehöriger gegenüber anderen EWR-Bürgern in verfassungskonformer Auslegung des Fremdengesetzes für verfassungswidrig
«§ 29 FrG ist jedenfalls dahin auszulegen, daß die Aufenthaltsbewilligung von Drittstaatsangehörigen sämtlicher EWR-Bürger [EWR: Europäischer Wirtschaftsraum], also auch die Aufenthaltsbewilligung von Drittstaatsangehörigen österreichischer Staatsbürger, einheitlichen (begünstigenden) Regelungen unterworfen ist. Allein dies entspricht auch dem aus Art. 8 iVm. Art. 14 EMRK erfließenden Gebot, die in der EMRK festgelegten Rechte und Freiheiten ohne Benachteiligung zu gewährleisten.» (Seite 362)
Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, ändert seine Rechtsprechung zum fortwirkenden effektiven Rechtsschutz gegenüber einer richterlichen Durchsuchungsanordnung trotz prozessualer Überholung
«Eröffnet das Prozeßrecht eine weitere Instanz, so gewährleistet Artikel 19 Absatz 4 GG in diesem Rahmen die Effektivität des Rechtsschutzes im Sinne eines Anspruchs auf eine wirksame gerichtliche Kontrolle.
Dieses Erfordernis eines effektiven Rechtsschutzes (Artikel 19 Absatz 4 GG) gibt dem Betroffenen das Recht, in Fällen tiefgreifender, tatsächlich jedoch nicht mehr fortwirkender Grundrechtseingriffe auch dann die Berechtigung des Eingriffs gerichtlich klären zu lassen, wenn die direkte Belastung durch den angegriffenen Hoheitsakt sich nach dem typischen Verfahrensablauf auf eine Zeitspanne beschränkt, in welcher der Betroffene die gerichtliche Entscheidung in der von der Prozeßordnung gegebenen Instanz kaum erlangen kann.
Die Beschwerde gegen eine richterliche Durchsuchungsanordnung darf somit nicht allein deswegen, weil sie vollzogen ist und die Maßnahme sich deshalb erledigt hat, unter dem Gesichtspunkt prozessualer Überholung als unzulässig verworfen werden.» (Seite 364)
BVerfG begrenzt die Gültigkeitsdauer richterlicher Durchsuchungsanordnungen in strafrechtlichen Ermittlungsverfahren auf höchstens sechs Monate
«Der Richter darf eine Durchsuchung nur anordnen, wenn er sich aufgrund eigenverantwortlicher Prüfung der Ermittlungen überzeugt hat, daß die Maßnahme verhältnismäßig ist. Seine Anordnung hat die Grundlage der konkreten Maßnahme zu schaffen und muß Rahmen, Grenzen und Ziel der Durchsuchung definieren.
Der Zweck des Richtervorbehalts hat Auswirkungen auch auf den Zeitraum, innerhalb dessen die richterliche Durchsuchungsanordnung vollzogen werden darf. Spätestens nach Ablauf eines halben Jahres verliert ein Durchsuchungsbeschluß seine rechtfertigende Kraft.»
Im vorliegenden Fall hatte die Staatsanwaltschaft mehr als zwei Jahre nach Erlaß der richterlichen Durchsuchungsanordnung die Praxisräume des beschwerdeführenden Arztes durchsucht. Der Verdacht des Abrechungsbetrugs bewahrheitete sich nicht und das Verfahren wurde eingestellt. (Seite 369)
BVerfG betont effektiven Rechtsschutz gegenüber präventiver richterlicher Durchsuchungsanordnung auch nach deren Vollzug
Die 2. Kammer des Zweiten Senats gibt der Verfassungsbeschwerde eines deutschen Staatsangehörigen marokkanischer Herkunft statt, der die Rechtswidrigkeit eines 1991 anläßlich des Golfkrieges formularmäßig erlassenen Durchsuchungsbeschlusses des Amtsgerichts Bad Homburg v.d. Höhe "wegen Abwehr einer Gefahr gegen die öffentliche Sicherheit" festgestellt haben wollte. Obwohl bei der Durchsuchung verdächtige Gegenstände nicht aufgefunden wurden, lehnten die Fachgerichte die Anträge des Bf. mit dem Argument ab, infolge der tatsächlichen Erledigung des angefochtenen Beschlusses sei die Beschwerde verfahrensrechtlich überholt und deshalb unzulässig. (Seite 372)
BVerfG dringt auf effektiven Rechtsschutz auch bei beendetem polizeilichem Unterbringungsgewahrsam
Die 2. Kammer des Zweiten Senats faßt ihre Erwägungen folgendermaßen zusammen: «Bei Würdigung all dieser Gesichtspunkte kann es nicht zweifelhaft sein, daß auch der vorbeugende, richterlich bestätigte Polizeigewahrsam einer Fallgruppe zuzuordnen ist, in der sich nach dem typischen Verfahrensablauf die direkte Belastung durch den angegriffenen Hoheitsakt auf eine Zeitspanne beschränkt, in der der in Gewahrsam Genommene die Entscheidung des Beschwerdegerichts kaum erlangen kann.» (Seite 374)
BVerfG billigt in zwei Fällen die Rücknahme der RA-Zulassung gegenüber ehemaligen DDR-Strafrichtern wegen politisch motivierter Urteile
Die beiden Vb. werden nicht zur Entscheidung angenommen, weil nach Feststellung der Vorinstanzen beide Beschwerdeführer durch die verhängten Strafen in eklatanter Weise gegen Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit und Menschlichkeit verstoßen haben. (Seite 376, 378)
BVerfG bestätigt Rücknahme der Rechtsanwaltszulassung eines ehemaligen DDR-Strafrichters, hier wegen exzessiver Strafzumessung für ausreisewillige DDR-Bürger
Die 2. Kammer des Ersten Senats nimmt die Vb. nicht zur Entscheidung an. Nach den Feststellungen im Ausgangsverfahren war der Bf. u.a. in fünf Fällen an der Verhängung von Haftstrafen von einem Jahr und zwei bzw. drei Monaten gegen Angeklagte beteiligt, die unter Vorlage ihres DDR-Personalausweises an DDR-Grenzkontrollstellen ihre Ausreise nach West-Berlin gefordert hatten. (Seite 378)
BVerfG bestätigt kommunales Wahlrecht für Unionsbürger und Zusammensetzung gemeindlicher Ausländerbeiräte in der Hessischen Gemeindeordnung als verfassungsgemäß
Die 3. Kammer des Zweiten Senats nimmt eine gegen die Hessische Gemeindeordnung gerichtete Vb. nicht zur Entscheidung an: «Wie das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden hat (…), gewährt auch Art. 38 GG kein subjektives Recht, sich bei der Ausübung des aktiven oder passiven kommunalen Wahlrechts durch eine wahlrechtliche "Konkurrentenklage" gegen nichtdeutsche Wahlbewerber oder Wahlberechtigte wehren zu können. Ein subjektives Recht auf Ausschließung anderer von der Wahl kann auch nicht darauf gestützt werden, daß diese – im Unterschied zum Beschwerdeführer – Mitglieder des Ausländerbeirats werden oder diese Mitglieder wählen können. Es erscheint ausgeschlossen, daß dadurch das Recht des Beschwerdeführers, durch Wahlen und Abstimmungen an der demokratischen Legitimierung der in den Gemeinden ausgeübten Staatsgewalt mitzuwirken, beeinträchtigt wird.» (Seite 379)
BVerfG bestätigt kommunales Wahlrecht für Unionsbürger in Baden-Württemberg als verfassungsgemäß
Die 3. Kammer des Zweiten Senats nimmt eine gegen Art. 72 Abs. 1 der Verfassung des Landes Baden-Württemberg gerichtete Vb. nicht zur Entscheidung an. Begründungserwägungen entsprechen denen des vorstehenden Beschlusses zur Hessischen Gemeindeordnung. (Seite 380)
Europäisches Parlament (EP), Straßburg, unterstützt Reformbemühungen der ägyptischen Regierung zur Beseitigung der Praxis der Geschlechtsverstümmelung an Frauen
Außerdem nimmt das EP zur Lage in der Türkei und im Nordirak Stellung, wobei es die Schutzpflicht des Staates gegenüber terroristischen Angriffen betont. Ferner begrüßt das EP die Wahlen in Albanien sowie die Erklärung des EU-Rates, wirtschaftliche Hilfe von der Achtung demokratischer Grundsätze und der Menschenrechte und von soliden Wirtschaftspraktiken abhänging zu machen. (Seiten 382, 383, 384)
EuGH-Generalanwalt C.O. Lenz plädiert auf Verurteilung Frankreichs wegen Plünderung von Transportfahrzeugen mit spanischem Obst und Gemüse durch französische Bauern
Er argumentiert in den Schlußanträgen zum Verfahren Kommission gegen Frankreich: «Die Plünderung und Zerstörung von Waren aus anderen Mitgliedstaaten ist eine der schwerwiegendsten Formen von Einfuhrbeschränkungen, die sich denken läßt. Sie stellt geradezu die Negation der Freiheit des Warenverkehrs dar. Ohne Bedeutung ist in diesem Zusammenhang, ob diese Waren während des Transports zerstört werden oder erst dann, wenn sie bereits den Handel in Frankreich erreicht haben. Nicht weniger bedenklich erscheinen die übrigen Handlungen, welche die betroffenen Personen nach den von der Kommission vorgetragenen und von der Beklagten nicht bestrittenen Angaben begangen haben. Die Bedrohung von Lastkraftfahrern, welche die Transporte durchführen, beeinträchtigt unmittelbar die Freiheit des Warenverkehrs. Wer damit rechnen muß, daß sein Lastwagen Angriffen ausgesetzt sein wird, weil er bestimmteWaren transportiert, wird geneigt sein, von solchen Transporten Abstand zu nehmen. Entsprechendes gilt für die Bedrohung von Händlern in Frankreich, die Waren aus anderen Mitgliedstaaten anbieten. Wenn das Feilhalten von Waren aus anderen Mitgliedstaaten die Gefahr von gewaltsamen Übergriffen mit sich bringt, wird ein Händler sorgfältig überlegen, ob er diese Waren weiter anbieten möchte. Die Kommission macht weiterhin zu Recht geltend, daß auch das durch diese gewalttätigen Ausschreitungen erzeugte Klima der Unsicherheit und Ungewißheit ein Hindernis für den freien Warenverkehr darstellt.»
GA Lenz schlägt dem EuGH deshalb vor, festzustellen, «daß die Französische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus den gemeinsamen Marktorganisationen für Agrarprodukte und aus Artikel 30 in Verbindung mit Artikel 5 EG-Vertrag verstoßen hat, daß sie nicht alle erforderlichen und angemessenen Maßnahmen ergriffen hat, damit der freie Warenverkehr mit Obst und Gemüse nicht durch Ausschreitungen von Privatpersonen behindert wird».
Das Verfahren hat, mit anderen Worten, die Frage zu klären, wo der europäische ordre public endet und wo ein staatlich geduldeter désordre public hinzunehmen wäre. (Seite 385)