EuGRZ 1998
17. August 1998
25. Jg. Heft 15-16

Informatorische Zusammenfassung

Thomas Roeser, Frankfurt (Oder), analysiert die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Grundrecht auf Asyl und zum Ausländerrecht in den Jahren 1996 und 1997
«Inhaltlicher Schwerpunkt der Verfassungsbeschwerden war im materiellen Asylrecht der Begriff der politischen Verfolgung, hier insbesondere die Glaubwürdigkeitsbeurteilung durch die Fachgerichte. Im Asylverfahrensrecht stand die Regelung des § 81 AsylVfG (fiktive Klagerücknahme wegen Nichtbetreibens des Verfahrens) im Vordergrund der Verfahren, wobei hier die Verfassungsbeschwerden ganz überwiegend wegen fehlender Erschöpfung des Rechtswegs (§ 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG) nicht zur Entscheidung angenommen wurden; allerdings war zu beobachten, daß die Verwaltungsgerichte den Anwendungsbereich dieser Vorschrift zunehmend in einer Weise ausdehnen, die nur noch schwerlich mit ihrem Regelungszweck in Einklang zu bringen ist.
Je mehr das Grundrecht auf Asyl, Art. 16a Abs. 1 GG, in seinem personellen Geltungsbereich eingeschränkt und im Falle der Verbringung des Flüchtlings in einen sicheren Drittstaat selbst eine Berufung auf die Vorschriften in § 51, §§ 53 ff. AuslG über die Gewährung von Abschiebungsschutz abgeschnitten wird, desto größere Bedeutung erlangen die allgemeinen aufenthaltsrechtlichen Bestimmungen des Ausländerrechts. Dies zeigt sich nicht zuletzt auch in der 1997 deutlich gestiegenen Zahl von Verfassungsbeschwerden aus diesem Bereich. (…) Gegenstand der Verfahren sind dabei vor allem Fälle von Ausweisungen (zumeist wegen Straffälligkeit) sowie die Auswirkungen von Art. 6 Abs. 1 GG bei Entscheidungen zum Aufenthaltsrecht (Umgangsrecht mit leiblichen Kindern; Verstoß gegen Visumsbestimmungen bei Familiennachzug).
Abschließend setzt sich der Autor auch mit den asyl- und ausländerrechtlichen Perspektiven des vorgeschlagenen „freien Annahmeverfahrens“ auseinander.  (Seite 429)
Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH), Luxemburg, verurteilt Deutschland wegen Diskriminierung von EU-Bürgern bei Verstößen gegen Ausweispflicht
In dem Verfahren Kommission/Deutschland stellt der EuGH fest, die Bundesrepublik hat ihre Vertragspflichten dadurch verletzt, «daß sie Staatsangehörige der anderen Mitgliedstaaten, die sich im deutschen Hoheitsgebiet aufhalten, bei vergleichbaren Verstößen gegen die Ausweispflicht hinsichtlich des Verschuldensmaßstabs und des Bußgeldrahmens in unverhältnismäßiger Weise anders behandelt als deutsche Staatsangehörige.»  (Seite 443)
EuGH bestätigt freien Zugang zu Umwelt-Informationen auch bei Stellungnahme der Landschaftspflegebehörde im Planfeststellungsverfahren zum Bau einer Umgehungsstraße Im Mecklenburg-Urteil heißt es hierzu: «Von einer „Information über die Umwelt im Sinne der Richtlinie“ kann daher bereits dann gesprochen werden, wenn eine Stellungnahme der Verwaltung der im Ausgangsverfahren streitigen Art eine Handlung darstellt, die den Zustand eines der von der Richtlinie erfaßten Umweltbereiche beeinträchtigen oder schützen kann. Dies ist dann der Fall, wenn, wie das vorlegende Gericht ausführt, diese Stellungnahme die Entscheidung über die Planfeststellung hinsichtlich der Belange des Umweltschutzes beeinflussen kann.»
Beim Begriff des „Vorverfahrens“ als Ausnahmetatbestand für die behördliche Informationspflicht kommt der EuGH im Gegensatz zum Landkreis Pinneberg zu dem Ergebnis: «Es zeigt sich somit, wie der Generalanwalt in Nummer 23 seiner Schlußanträge ausführt, daß diese Ausnahmebestimmung ausschließlich Verfahren mit gerichtlichem oder quasigerichtlichem Charakter oder jedenfalls Verfahren betrifft, die im Fall der Feststellung einer verwaltungs- oder strafrechtlich relevanten Zuwiderhandlung zwingend zur Verhängung einer Sanktion führen.»  (Seite 445)
Schweizerisches Bundesgericht (BGer), Lausanne, wertet zwangsweise polizeiliche Vorführung einer hochbetagten Person zur Begutachtung in einer psychiatrischen Klinik als unverhältnismässig
«Die Garantie der persönlichen Freiheit ist ein ungeschriebenes Grundrecht der Bundesverfassung, das nicht nur die Bewegungsfreiheit sowie die körperliche und psychische Integrität, sondern darüber hinaus die Würde des Menschen und alle Freiheiten schützt, die elementare Erscheinungen der Persönlichkeitsentfaltung darstellen. (…)
Es liegt auf der Hand, dass die von den kantonalen Behörden angeordnete Vorgehensweise für eine 89jährige gebrechliche und pflegebedürftige Frau einschneidendere Belastungen nach sich zöge als die von ihr selbst vorgeschlagene Begutachtung an ihrem aktuellen Wohnort (Alters- und Pflegeheim Derendingen-Luterbach). Das verfassungsmässige Gebot der Verhältnismässigkeit verlangt grundsätzlich den Einsatz der am wenigsten einschneidenden (tauglichen und angemessenen) Mittel, die zur Realisierung des gesetzlichen Zweckes zur Verfügung stehen. Die ambulante psychiatrische Begutachtung einer hochbetagten, gebrechlichen und pflegebedürftigen Person hat daher, soweit möglich, in ihrer gewohnten Umgebung bzw. am Pflegeort stattzufinden, sofern dies – insbesondere aus ärztlicher Sicht – sachlich vertretbar erscheint. Ausserdem sind zusätzliche psychische und physische Erschwernisse wie etwa ein aufsehenerregendes Abholen durch Polizeibeamte, beschwerliche Transporte und eine Zwangseinweisung in die ungewohnten (und gerade auf ältere Menschen verständlicherweise zusätzlich verunsichernd wirkenden) Räumlichkeiten einer psychiatrischen Klinik möglichst zu vermeiden. Hochbetagte gebrechliche Menschen sind von den Behörden eines Rechtsstaates besonders schonend, rücksichtsvoll und in einer Art und Weise zu behandeln, die ihre Würde nicht antastet.»  (Seite 447)
BGer bestätigt zwangsweise Blutentnahme nach Verweigerung einer Speichelprobe für eine DNA-Analyse zur Aufklärung schwerer Sexualverbrechen bei Ähnlichkeit des Betroffenen mit einem Robotbild
«Unwesentlich ist in diesem Zusammenhang, ob der Beschwerdeführer für eine der Tatzeiten ein Alibi nennen kann; mehrere Jahre nach den Taten dürfte ein solches auch kaum mehr überprüfbar sein. Hingegen muss sich der Beschwerdeführer über seine Ähnlichkeit mit einem der Robotbilder hinaus entgegenhalten lassen, dass er sich geweigert hatte, eine Speichelprobe abzugeben, womit er die Blutentnahme hätte vermeiden können. Die Rüge des Beschwerdeführers, für den umstrittenen Eingriff in die persönliche Freiheit fehle es an einer rechtsgenügenden gesetzlichen Grundlage, ist somit unbegründet. (…)
Sollte sich im vorliegenden Fall ergeben, dass der Beschwerdeführer als Täter ausgeschlossen werden kann, so haben die kantonalen Strafverfolgungsbehörden die Blutprobe (oder gegebenenfalls die Speichelprobe) und die Ergebnisse der DNA-Analyse zu vernichten.»   (Seite 450)
Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, weist in einer 4:4-Entscheidung Organklage gegen abschließende Feststellungen des GO-Ausschusses des Bundestages über den Vorwurf der Stasi-Tätigkeit des PDS-Abgeordneten Gysi als unbegründet zurück
Einstimmig stellt der Zweite Senat fest: «Der Rechtsgedanke der Parlamentsautonomie, der für Beschlüsse parlamentarischer Untersuchungsausschüsse in Art. 44 Abs. 4 GG einen besonderen Ausdruck gefunden hat, schließt zwar eine verfassungsgerichtliche Kontrolle des Prüfungsberichts nach §44b AbgG nicht aus, begrenzt sie aber. Grundsätzlich hat das Bundesverfassungsgericht das Ergebnis einer in parlamentarischer Eigenverantwortung durchgeführten Personalenquete zu respektieren. Es kann nicht seine Überlegungen und seine Überzeugung, ob der Abgeordnete mit dem Staatssicherheitsdienst zusammengearbeitet hat, an die Stelle derjenigen des Parlaments oder des 1. Ausschusses setzen. Die Feststellung, Würdigung und Beurteilung der Tatsachen durch das Parlament unterliegen nicht verfassungsgerichtlicher Kontrolle.
Hingegen ist es Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts, im Organstreitverfahren die Einhaltung der Verfahrensstandards zu überprüfen, die zur Sicherung der Rechte aus Art. 38 Abs. 1 GG von Verfassungs wegen erforderlich sind. Das bedeutet, daß das Gericht die Feststellungen des 1. Ausschusses an Hand objektiver Kriterien im Hinblick auf eine Verletzung mandatsschützender Verfahrensvorschriften und eine Überschreitung seines Untersuchungsauftrags zu kontrollieren hat.»
Nach Auffassung der vier Richter [Graßhof, Kirchhof, Winter und Jentsch], die das Urteil tragen, sind nach diesem Maßstab die Rechte des Antragstellers aus Art. 38 Abs. 1 GG nicht verletzt worden:
«Damit ist die Aufgabe des Ausschusses nicht auf die bloße Beschreibung eines geschichtlichen Geschehens ausgerichtet, sondern auf die Bildung einer parlamentarisch verantworteten und begründeten Überzeugung von dem die Legitimität des Mandats in Frage stellenden Sachverhalt. Der Untersuchungsauftrag umfaßt demgemäß die Feststellung aller Tatsachen, welche die Grundlage dafür abgeben können, daß die Öffentlichkeit sich ein Urteil über die Verstrickung des Abgeordneten mit dem MfS und damit über seine politische Würdigkeit zur Wahrnehmung eines Bundestagsmandats bilden kann. Der Ausschuß trifft also die Feststellung der Verstrickung, auf die die Öffentlichkeit eine politische Bewertung des Verhaltens des Abgeordneten gründen mag; diese Bewertung selbst vorzunehmen, ist dem Ausschuß aber versagt.»
Die anderen vier Richter [Limbach, Kruis, Sommer und Hassemer], deren Auffassung das Urteil insoweit (zu C.II.3.) nicht trägt, sehen hingegen in den letzten vier Sätzen des Berichts (s.u.S. 453: Dr. Gysi hat…) eine Überschreitung des Prüfungsauftrags durch den Ausschuß:
«Die Aussage, der Antragsteller habe seine herausgehobene berufliche Stellung als einer der wenigen Rechtsanwälte in der DDR mißbraucht, um deren politische Ordnung vor seinen Mandanten zu schützen, beschreibt mehr als eine innere Tatsache (z.B. Vorsatz, Absicht). Dieser in einem Sinnzusammenhang mit den folgenden drei Sätzen stehende Satz ist vielmehr eine Zuschreibung von langfristigen Strategien. Die Schlußpassage enthält keine Feststellungen, sondern Mutmaßungen. (…) Dieses Verdikt wird weder vom innerparlamentarischen Zweck der Kollegialenquete gerechtfertigt, noch kann es angesichts der bewußten Beschränkung der Beweismittel rechtsstaatlich belegt werden.»  (Seite 452)
BVerfG erklärt Verbot einer Sozietät zwischen Anwaltsnotaren und Wirtschaftsprüfern mangels gesetzlicher Grundlage für verfassungswidrig
«Das Verbot einer Sozietät zwischen Anwaltsnotaren und Wirtschaftsprüfern verstößt gegen Art. 3 Abs. 1 GG, solange der Anwaltsnotar selbst Steuerberater sein darf und auch nicht gehindert ist, sich mit Nur-Steuerberatern zur gemeinsamen Berufsausübung zusammenzuschließen. (…) Solange der Gesetzgeber keine weitere Regelung zur Sicherung der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Notars getroffen hat, kann die Rechtsprechung ein Verbot der Sozietätsbildung von Anwaltsnotaren mit Wirtschaftsprüfern nicht aufrecht erhalten. Welche Wege der Gesetzgeber dabei einschlägt, ist ihm überlassen. Hält er Sozietätsverbote für das geeignete Mittel, so ist ihm deren Einführung grundsätzlich nicht verwehrt, wenn er die verschiedenen Berufsgruppen und Berufsqualifikationen gleichheitsgemäß behandelt.»  (Seite 460)
BVerfG sieht in der Abweisung eines Klageerzwingungsantrags gegen Polizeibeamten wegen Körperverletzung im Amt (hier: Magenoperation zur Sicherstellung geschmuggelter Kokain-Pillen) Verstoß gegen Anspruch auf rechtliches Gehör
«Die angegriffene Entscheidung beruht auf dem Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG. Es ist nicht ausgeschlossen, daß das Oberlandesgericht bei Berücksichtigung des Vorbringens des Beschwerdeführers vor einer abschließenden Entscheidung entweder den vorzeitigen Abbruch der Ermittlungen beanstandet oder aber zumindest eigene Ermittlungen (§ 173 Abs. 3 StPO) angestellt hätte. Ferner ist es – insbesondere in Anbetracht der zu den Akten gelangten Krankenunterlagen, die keinerlei Anhaltspunkte für eine konkrete Lebensgefahr des Beschwerdeführers bieten – keineswegs ausgeschlossen, daß weitere Ermittlungen hinreichenden Anlaß zur Erhebung der öffentlichen Klage gegeben hätten.»  (Seite 466)
Kai Ambos, Freiburg i.Br., legt Gutachten über die Rechtslage für Opfer der argentinischen Militärdiktatur („Verschwindenlassen“) mit deutscher oder anderer Staatsangehörigkeit vor
Das Ergebnis der Untersuchung lautet im Kern: «Die Anwendung deutschen Strafrechts kann sich… aus §6 Nr. 1 StGB ergeben, wenn man den Schutzbereich des Genozidverbots aufgrund ius cogens auf politische Gruppen erstreckt und – in tatsächlicher Hinsicht – die Opfer einer politischen Gruppe angehörten, die die Täter zerstören wollten. Das deutsche Strafrecht ist jedenfalls aufgrund §7 Abs. 1 StGB anwendbar. Insbesondere stehen die in Argentinien erlassenen Straffreistellungsgesetze seiner Anwendung nicht entgegen.
Der Einstellung des Verfahrens aufgrund §153 c StPO steht das öffentliche Interesse an der weltweiten Verfolgung der in Rede stehenden schweren Straftaten entgegen. Schwere Nachteile für die Bundesrepublik stehen aufgrund der Aburteilung der Täter nicht zu befürchten.»
Ambos betont, Deutschland ist nach Italien, Spanien, Frankreich und Schweden der fünfte Staat der Europäischen Union, in dem solche Strafverfahren stattfinden.  (Seite 468)
Europäische Kommission für Menschenrechte billigt Ausschluß der arbeitsrechtlichen Klage vor nationalen Gerichten gegen internationale Organisationen
Der Fall Waite und Kennedy gegen Deutschland ist jetzt vor dem EGMR anhängig und betrifft die Europäische Weltraumorganisation.
«Was den Zweck völkerrechtlicher Immunitäten angeht, bemerkt die Kommission, daß die Gewährung von Vorrechten und Immunitäten für internationale Organisationen ein wesentliches Mittel des Schutzes dieser Organisationen vor einseitiger Einflußnahme von seiten einzelner Regierungen ist. In den Grundordnungen zwischenstaatlicher Organisationen ist ausführlich beschrieben, wie ihre Verfahren zur Entscheidungsfindung aussehen und insbesondere in welcher Art und in welchem Umfang jeder Staat auf die Organisation Einfluß nehmen darf. Es gilt deshalb als nicht hinnehmbar, daß einzelne Staaten – sei es durch ihre vollziehenden, gesetzgebenden oder rechtsprechenden Organe – von einer internationalen Organisation verlangen können, daß sie aufgrund von Weisungen, die an die Organisation selbst oder an einen ihrer Amtsträger gerichtet sind, bestimmte Handlungen vornimmt.»  (Seite 480)
BVerfG verlängert einstweilige Anordnung im Fall einer deutsch-französischen Kindes-Rückentführung durch den Vater
Bf. sind der Vater (1.) und seine beiden minderjährigen Kinder (2. und 3.), die nach der Scheidung der Eltern zunächst beim Vater lebten, dann aber von der Mutter nach Frankreich entführt wurden. Ca. neun Monate später ließ der Vater die Kinder durch Privatdetektive zurückentführen. Der Vater wehrt sich mit der Vb. gegen die vom OLG Celle ausgesprochene Verpflichtung, die Kinder an die Mutter herauszugeben.
Die 3. Kammer des Zweiten Senats hat die einstweilige Anordnung wegen besonderer Dringlichkeit ohne vorherige Gelegenheit zur Stellungnahme am 16. Juli erlassen und mit vorsorglichem Vollstreckungsverbot auch im Hinblick auf ein französisches Urteil am 31. Juli verlängert.  (Seite 488)