EuGRZ 1999 |
30. Juli 1999
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26. Jg. Heft 13-14
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Informatorische Zusammenfassung
Volker Schlette, Göttingen, kommentiert den Anspruch auf Rechtsschutz innerhalb angemessener Frist als ein neues Prozeßgrundrecht auf EG-Ebene
In seinem Anmerkungs-Aufsatz zum Baustahlgewebe-Urteil des EuGH (EuGRZ 1999, 38) zeichnet der Autor den bisherigen Stand der EuGH-Rechtsprechung zu den prozessualen Garantien nach, arbeitet die zentralen Aussagen des Urteils heraus und kommt zu folgendem Schluß:
«Für das neue gemeinschaftsrechtliche Gebot zeitnahen Rechtsschutzes hat dies zur Konsequenz, daß es Wirkung nicht nur auf der unmittelbaren EG-Ebene entfaltet, sondern auch für die nationalen Instanzen maßgeblich ist, nämlich immer dann, wenn diese im Einzugsbereich des Gemeinschaftsrechts tätig werden. Das gemeinschaftsrechtliche Gebot tritt in solchen Fällen neben eine ggf. vorhandene nationale Gewährleistung (z. B. Art. 19 Abs. 4 GG); u. U. bleibt auch das konventionsrechtliche Gebot des Art. 6 Abs. 1 EMRK einschlägig – womit sich ein dreifacher Grundrechtsschutz ergibt. Dabei ist die zusätzliche gemeinschaftsrechtliche Gewährleistung schon deshalb nicht als redundant anzusehen, weil sie (Anwendungs-)Vorrang vor dem innerstaatlichen Recht genießt. Sie vermag sich daher auch gegenüber dem verfassungsändernden Gesetzgeber durchzusetzen und besitzt zugleich stärkere Geltungskraft als die EMRK, die in zahlreichen Vertragsstaaten und auch in Deutschland lediglich im Range eines einfachen innerstaatlichen Gesetzes gilt. (…)
Die enge inhaltliche Anlehnung [des EuGH] an die bewährte Rechtsprechung des EGMR vermeidet Friktionen zwischen den beiden europäischen Grundrechtsordnungen, wie sie in anderen Bereichen bisweilen zutage getreten sind. Allerdings bedarf der Anspruch, was den sachlichen Anwendungsbereich, die Grundrechtsadressaten und die Rechtsfolgen eines Verstoßes angeht, noch weiterer, speziell gemeinschaftsrechtlicher Konkretisierung in der künftigen Rechtsprechung des EuGH.» (Seite 369)
Italienischer Verfassungsgerichtshof, Rom, erklärt die gesetzliche Wehrpflicht auch für Staatenlose mit ständigem Wohnsitz in Italien für verfassungskonform
«Um die Entscheidung des Gesetzgebers, die Wehrpflicht auf die in Italien wohnhaften Staatenlosen auszudehnen, als nicht unverhältnismäßig würdigen zu können, ist andererseits der Umstand hervorzuheben, daß die Staatenlosen auf allen Gebieten außer dem der politischen Partizipation einen weitreichenden Schutz genießen, den die zitierte Konvention von New York vom 28. September 1954 vorschreibt und den zahlreiche einschlägige Zivil- und Sozialgesetze in gleichem Umfange wie den italienischen Staatsbürgern gewähren. Diese Gesetzgebung, die in der Positivierung des Prinzips der vollständigen Gleichbehandlung und der vollen Rechtsgleichheit zwischen Staatenlosen und italienischen Staatsbürgern (Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1-5 der Gesetzesverordnung vom 25. Juli 1998, Nr. 286) ihren Höhepunkt gefunden hat, zeichnet sie als Teilnehmer einer Gemeinschaft der Rechte aus, deren Mitgliedschaft die Unterstellung unter die zu ihrer Verteidigung dienenden Grundpflichten durchaus zu rechtfertigen vermag. (…)
Zu dieser Konsequenz hinsichtlich der Verteidigungspflicht kann man auch deshalb gelangen, weil die Verfassung (Art. 11 und Art. 52 Abs. 1) eine Konzeption der militärischen Apparate Italiens und damit des Militärdienstes gebietet, die nicht mehr auf die Idee der Mächtigkeit des Staates (potenza dello Stato) oder, wie man im Hinblick auf die Vergangenheit gesagt hat, auf den Machtstaat (Stato di potenza) ausgerichtet ist, sondern auf die Idee einer Garantie der Freiheit der Völker und der Integrität der nationalen Ordnung.» (Seite 373)
Italienischer Verfassungsgerichtshof, Rom, sieht in den durch Regionalgesetz eingeführten Sperrklauseln in den Wahlkreisen Trient und Bozen eine Verletzung des Rechts der ladinischen Sprachminderheit auf eine eigene politische Vertretung
«Art. 25 des Spezialstatuts für das Trentino-Alto Adige (Südtirol) verlangt die Einführung der Verhältniswahl für die Wahlen zum Regionalrat im allgemeinen Kontext einer Anerkennung spezifischer Sprachgruppen, die mit ihren jeweiligen ethnischen und kulturellen Besonderheiten gemeinsam die gesamte regionale Gemeinschaft, auch in ihren provinziellen Gliedern, prägen.
Das gesamte Spezialstatut umreißt ein System besonderer Schutzgarantien zugunsten der Sprachminderheiten, um den historischen und sozialen Besonderheiten der Region, den vom Staat eingegangenen internationalen Verpflichtungen und dem nationalen Interesse entsprechend ihre Identität zu wahren und ihre Repräsentation in den regionalen Institutionen zu gewährleisten. Damit hat der Minderheitenschutz, der zugleich allgemein als Grundprinzip in Art. 6 der Verfassung aufgestellt wird (zuletzt Urteil Nr. 213/1998), einen besonders prägnanten Gehalt im Spezialstatut für das Trentino-Alto Adige.» (Seite 375)
Schweizerisches Bundesgericht (BGer), Lausanne, heisst Revisionsgesuch wegen einer vom EGMR festgestellten Verletzung des Rechts auf freie Meinungsäußerung (Fall Hertel / Mikrowellenherde) teilweise gut
«Eine gesamthafte Aufhebung der gegenüber dem Gesuchsteller ausgesprochenen Verbote ist deshalb weder erforderlich noch angezeigt. Klarzustellen ist hingegen, dass dem Gesuchsteller lediglich an weitere Bevölkerungskreise gerichtete Verlautbarungen verboten sind, in welchen gesundheitsschädigende Wirkungen von im Mikrowellenherd zubereiteten Speisen ohne Hinweis auf den herrschenden Meinungsstreit als wissenschaftlich gesichert hingestellt werden. Das Verbot, in Publikationen oder öffentlichen Vorträgen über Mikrowellenherde die Abbildung eines Sensemannes oder eines ähnlichen Todessymboles zu verwenden, ist unverändert aufrechtzuerhalten, wobei zur Begründung im Einzelnen auf das Urteil [des BGer] vom 25. Februar 1994 verwiesen werden kann. Festzuhalten ist schliesslich, dass der Unterlassungsanspruch des Gesuchsgegners seine Grundlage nicht in einer geschehenen Verletzung, sondern in der Gefahr drohender Verletzungen findet (Art. 9 Abs. 1 lit. a UWG). Dass diese Gefahr besteht und ernst zu nehmen ist, unterliegt angesichts des Verhaltens und der Erklärungen des Gesuchstellers keinem Zweifel.» (Seite 376)
BGer spricht sich grundsätzlich für eine vorzeitige Herausgabe von Vermögenswerten des verstorbenen philippinischen Diktators Marcos zur Einziehung oder Rückerstattung an die Republik der Philippinen aus, fordert jedoch Garantien für die Einhaltung der Menschenrechte bei den entsprechenden innerstaatlichen Gerichtsverfahren
In dem Urteil wird festgestellt, «dass es im Interesse der Schweiz liegt, die grundsätzlich bewilligte Herausgabe der Marcos-Gelder möglichst bald vollziehen zu können. Diesem Ziel dient die vorzeitige Rückführung der Vermögenswerte. Es ist daher nicht zu beanstanden, dieses Interesse als Grund für einen Verzicht auf einen rechtskräftigen Entscheid des ersuchenden Staates in Betracht zu ziehen.
Die illegale Herkunft der beschlagnahmten Gelder kann nach heutigem Wissensstand nicht ernsthaft in Zweifel gezogen werden. Allerdings lassen sich nach der Aktenlage die einzelnen Vermögenswerte nicht konkreten Delikten zuordnen und es ist daher möglich, dass auch legale Geldmittel der Familie Marcos in die Stiftungen flossen. Dabei könnte es sich aber – wie der Beschwerdeführer zutreffend dargelegt hat – im Vergleich zur Höhe der beschlagnahmten Vermögenswerte nur um geringfügige Summen handeln. In bezug auf den überwiegenden Teil der beschlagnahmten Vermögenswerte besteht ausreichende Gewissheit, um von offensichtlicher deliktischer Herkunft sprechen zu können. Unter diesen Umständen ist eine vorzeitige Herausgabe der Vermögenswerte nicht von vornherein ausgeschlossen, wenn sichergestellt ist, dass der Einziehungs- bzw. Rückerstattungsentscheid in einem rechtsstaatlichen Verfahren ergeht. Die Auseinandersetzung über die Einziehung beziehungsweise Rückerstattung der beschlagnahmten Gelder hat in den Philippinen, wo die Straftaten begangen wurden, zu erfolgen.»
Zu Verfahren vor US-amerikanischen Gerichten, die darauf abzielen, die Herausgabe der Vermögenswerte an die Republik der Philippinen zu verhindern und damit die von den schweizerischen Behörden angeordnete Rechtshilfehandlung zu vereiteln, bemerkt das BGer: «Würde das Bundesgericht im vorliegenden Fall auf die – bereits 1990 grundsätzlich bewilligte – Rechtshilfe verzichten, würde es einzelnen Gläubigern die Möglichkeit einräumen, durch die Anrufung amerikanischer Gerichte Rechtshilfemassnahmen der Schweiz zu verhindern, obgleich sich die Vermögenswerte auf schweizerischem Hoheitsgebiet befinden und die Rechtshilfe IRSG- und völkerrechtskonform ist.» (Seite 379)
Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, erklärt Abhörgesetz (G 10) für teilweise verfassungswidrig
Das Urteil fordert, einen verstärkten Schutz personenbezogener Daten aus der verdachtslosenRasterfahndung des Bundesnachrichtendienstes in der satelittengestützten Telefon- und Fax-Kommunikation bis zum 30. Juni 2001 gesetzgeberisch sicherzustellen. Die Grundsätze des Urteils werden in den Leitsätzen u.a. folgendermaßen zusammengefaßt:
«Ermächtigt der Gesetzgeber den Bundesnachrichtendienst zu Eingriffen in das Fernmeldegeheimnis, so verpflichtet ihn Art. 10 GG, Vorsorge gegen diejenigen Gefahren zu treffen, die sich aus der Erhebung und Verwertung personenbezogener Daten ergeben. Dazu gehört insbesondere die Bindung der Verwendung erlangter Kenntnisse an den Zweck, der die Erfassung rechtfertigt. (…)
Die Übermittlung personenbezogener Daten, die der Bundesnachrichtendienst für seine Zwecke aus der Telekommunikationsüberwachung erlangt hat, an andere Behörden ist mit Art. 10 GG vereinbar, setzt jedoch voraus, daß sie für deren Zwecke erforderlich sind, die Anforderungen an Zweckänderungen (…) beachtet werden und die gesetzlichen Übermittlungsschwellen dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügen.» (Seite 389)
BVerfG erklärt &Par; 13 Abs. 1 S. 2 des rheinland-pfälzischen Denkmalschutzgesetzes wegen Verletzung der Eigentumsgarantie durch unverhältnismäßige Belastung des Gebäudeeigentümers für verfassungswidrig
«Die Regelung, die eine Berücksichtigung von Eigentümerbelangen – anders als andere Landesdenkmalschutzgesetze – nicht vorsieht, schränkt die Rechte der von ihr betroffenen Eigentümer in bestimmten Fallgestaltungen unverhältnismäßig stark ein. (…)
Wenn selbst ein dem Denkmalschutz aufgeschlossener Eigentümer von einem Baudenkmal keinen vernünftigen Gebrauch machen und es praktisch auch nicht veräußern kann, wird dessen Privatnützigkeit nahezu vollständig beseitigt. Nimmt man die gesetzliche Erhaltungspflicht hinzu, so wird aus dem Recht eine Last, die der Eigentümer allein im öffentlichen Interesse zu tragen hat, ohne dafür die Vorteile einer privaten Nutzung genießen zu können. Die Rechtsposition des Betroffenen nähert sich damit einer Lage, in der sie den Namen „Eigentum“ nicht mehr verdient. Die Versagung einer Beseitigungsgenehmigung ist dann nicht mehr zumutbar. (…)
Die Verfassungswidrigkeit von &Par; 13 Abs. 1 Satz 2 DSchPflG folgt bereits daraus, daß die Norm unverhältnismäßige Belastungen des Eigentümers nicht ausschließt und keinerlei Vorkehrungen zur Vermeidung derartiger Eigentumsbeschränkungen enthält.» (Seite 415)
BVerfG sieht die Bestimmungen der HennenhaltungsVO in bezug auf Käfiggröße und -beschaffenheit nicht durch die Ermächtigungsgrundlage im Tierschutzgesetz gedeckt – zu der daraus folgenden teilweisen Nichtigkeit kommt die Nichtigkeit der VO insgesamt wegen Mißachtung des Zitiergebots
«Generell gilt, daß niemand einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen darf (&Par; 1 Satz 2 TierSchG). Hieraus sowie aus dem in &Par; 1 Satz 1 TierSchG niedergelegten Grundsatz des ethisch begründeten Tierschutzes folgt, daß nicht jede Erwägung der Wirtschaftlichkeit der Tierhaltung aus sich heraus ein „vernünftiger Grund“ im Sinne des &Par; 1 Satz 2 TierSchG sein kann. Notwendig ist vielmehr auch insoweit ein Ausgleich zwischen den rechtlich geschützten Interessen der Tierhalter einerseits und den Belangen des Tierschutzes andererseits.
Die in &Par; 2 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 HHVO getroffene Regelung, wonach für jede Henne eine uneingeschränkt benutzbare Käfigbodenfläche von mindestens 450 qcm vorhanden sein muß, entspricht diesen Vorgaben in der gesetzlichen Ermächtigung nicht. Gleiches gilt für die Vorschrift des &Par; 2 Abs. 1 Nr. 7 Satz 1, 1. Halbsatz HHVO, wonach die uneingeschränkt nutzbare Länge des Futtertrogs für jede Henne mindestens 10 cm betragen muß. Mit beiden Bestimmungen werden die gemäß &Par; 2a Abs. 1 in Verbindung mit &Par; 2 Nr. 1 und &Par; 1 TierSchG in eine Rechtsverordnung einzustellenden Belange des ethisch begründeten Tierschutzes über die Grenze eines angemessenen Ausgleichs zurückgedrängt, wie ihn das Tierschutzgesetz dem Verordnunggeber aufgetragen hat.»
Zur Verletzung des Zitiergebots führt das BVerfG u. a. aus: «Nach Art. 80 Abs. 1 Satz 3 GG ist in einer bundesrechtlichen Verordnung deren Rechtsgrundlage anzugeben. (…) Will der Verordnunggeber nach seinem erkennbar geäußerten Willen von mehreren Ermächtigungsgrundlagen Gebrauch machen, so muß er diese vollständig in der Verordnung angeben.» Das war hier nicht geschehen.
Abschließend betont das BVerfG, sonstige verfassungsrechtliche Fragen wie die nach einer etwaigen verfassungsrechtlichen Qualität des ethisch begründeten Tierschutzes seien nicht mehr zu erörtern. (Seite 422)
BVerfG weist Befangenheitsantrag gegen Richter Kirchhof im Normenkontrollverfahren zum Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern zurück
«Dem Gutachtenauftrag des Landes Baden-Württemberg an den Richter Kirchhof im Jahre 1980 hatte sich die Prozeßvertretung für dieses Land vor dem Bundesverfassungsgericht im Jahre 1983 angeschlossen. Gutachtertätigkeit und Prozeßvertretung hatten dann mit dem Urteil des Zweiten Senats vom 24. Juni 1986 (BVerfGE 72, 330) ihren Abschluß gefunden. Eine Besorgnis der Befangenheit des Richters Kirchhof kann nicht daraus hergeleitet werden, daß seine damalige Tätigkeit als Gutachter und Prozeßbevollmächtigter für die Landesregierung Baden-Württemberg bis in die hier anhängigen Verfahren der abstrakten Normenkontrolle gleichsam fortwirke.» (Seite 434)
Georgien ratifiziert EMRK am 20. Mai 1999, also knapp einen Monat nach seiner Aufnahme in den Europarat. Zum Richter am EGMR wurde der bisherige Präsident des Obersten Gerichtshofs von Georgien, Mindia Ugrekhelidze, am 24. Juni von der Parl. Versammlung des Europarates gewählt. (Seite 436)
Vor dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH), Luxemburg, sind zwei Verfahren zum Militärdienst für Frauen anhängig
Es geht um die Weigerung des britischen Verteidigungsministers, die als Köchin bei einer aufgelösten Armee-Einheit bislang tätige und sonst arbeitslose Klägerin des Ausgangsverfahrens, Angela Maria Sirdar, Rs. C-273/97, künftig bei den Royal Marines zu beschäftigen.
Die Klägerin in dem vom Verwaltungsgericht Hannover vorgelegten Verfahren verfügt über eine Ausbildung auf dem Gebiet der Elektronik und bewarb sich 1996 für den freiwilligen Dienst in der Bundeswehr mit dem Verwendungswunsch: Instandsetzung (Elektronik). Ihr Antrag wurde mit der Begründung abgelehnt, es sei gesetzlich ausgeschlossen, daß Frauen Dienst mit der Waffe leisteten (Art. 12 Abs. 4 GG). Die Klägerin, Tanja Kreil, Rs. C-285/98, sieht darin eine gemeinschaftswidrige Diskriminierung. (Seite 436)