EuGRZ 2001 |
2. Oktober 2001
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28. Jg. Heft 14-16
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Informatorische Zusammenfassung
Siegbert Alber, Luxemburg, würdigt die Selbstbindung der europäischen Organe an die Europäische Charta der Grundrechte und skizziert Möglichkeiten auf dem Weg zu deren Verbindlichkeit
Da der Selbstbindung der Organe durch den Vorrang des Primärrechts – d. h. der Verträge einschließlich der als allgemeine Rechtsgrundsätze geschützten Grundrechte – Grenzen gesetzt sind, befürwortet der Autor, bereits jetzt auf die Charta als zusätzliche Rechtsquelle Bezug zu nehmen. Ausführlich dokumentiert er Schlussanträge von bislang fünf Generalanwälten (Antonio Tizzano, Jean Mischo, Christine Stix-Hackl, Francis Jacobs und Alber selbst), die in dieser Richtung als Vorreiter gehandelt haben. Der EuGH ist dieser Linie bisher noch nicht gefolgt.
«Eine ständige, wenn auch nur mittelbare Bezugnahme auf die Charta der Grundrechte – nicht nur durch die Rechtsprechung – dürfte den Prozess ihrer nötigen Verbindlicherklärung beschleunigen. Eine auf Dauer unverbindlich bleibende Charta dagegen wäre bloße Makulatur und würde die Frustrationen und Vorbehalte der Bürger gegenüber Europa nur noch verstärken. Das Europäische Parlament als Teilhaber an der Gesetzgebung sieht dies ebenso.» (Seite 349)
Michael Wollenschläger, Würzburg, gibt einen Überblick über den gegenwärtigen Stand des Asyl- und Einwanderungsrechts der EU
Eine knappe Darstellung der Rechtslage vor dem am 1.5.1999 in Kraft getretenen Vertrag von Amsterdam umfasst insbesondere die Regelungen des Schengener Durchführungsübereinkommens, der Dubliner Asylkonvention und des Art. K EU-Vertrag (jetzt Art. 29 ff. EU). Sodann werden die im Amsterdamer Vertrag getroffenen Bestimmungen, ihre Auswirkungen auf Deutschland und die neuesten Entwicklungen erläutert.
«Im Amsterdamer Vertrag wird unter dem Schlagwort „schrittweiser Aufbau eines Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ als Ziel festgeschrieben, die Bewegungsfreiheit des Menschen innerhalb der Union zu vergrößern und sie vor Beschränkungen ihrer persönlichen Sicherheit zu schützen. Im einzelnen werden das Asylrecht, die Visapolitik, Außengrenzenkontrollen, Einwanderungs- und Aufenthaltsbedingungen für Drittstaatsangehörige sowie die justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen von der dritten Säule [des Unionsvertrags] in den EG-Vertrag überführt.(…) Die bisherigen Kernaspekte der Überlegungen auf Gemeinschaftsebene sind Aktivitäten gegen den auf die Gemeinschaft einwirkenden Migrationsdruck, generelle Kontrolle der Einwanderung sowie Bekämpfung der illegalen Einwanderung einerseits, eine stärkere Rechtsposition für legale Einwanderer andererseits.(…)
Strukturen auf dem Weg zu einem einheitlichen Asyl- und Einwanderungsrecht in der EU lassen sich deutlich erkennen. Allerdings werden ein materielles Asyl- und Einwanderungsrecht die Gemeinschaft, auch im Hinblick auf die anstehende Osterweiterung, noch vor schwierige Aufgaben stellen.» (Seite 354)
Philipp Mittelberger, Straßburg, kommentiert die Rechtsprechung des ständigen Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zum Eigentumsschutz
Als Grundlage für eine Bilanz der ersten beiden Jahre nach der am 1. November 1998 erfolgten Fusion der beiden Teilzeit-Spruchkörper Kommission und Gerichtshof zu dem „neuen“ ständigen EGMR gibt der Autor einen historischen Überblick und arbeitet die wesentlichen Entscheidungen zum Eigentumsschutz von den Anfangsjahren der einschlägigen Rechtsprechung des „alten“ Gerichtshofs über die Drei-Normen-Regel und die Kontrolle staatlicher Eingriffe am Erfordernis des öffentlichen bzw. Allgemeininteresses, dem Gesetzmäßigkeitsprinzip und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz heraus. (Seite 364)
Rainer Hofmann, Kiel, und Dietmar O. Reich, Brüssel, sehen in der geplanten Einführung einer Verdachtsanzeigepflicht für Steuerberater in der Novelle der Geldwäsche-Richtlinie eine Kompetenzüberschreitung der Gemeinschaft
«Zwar stellt vor allem die vorgesehene und nachfolgend erörterte Verdachtsanzeigepflicht für Steuerberater zugleich auch einen Eingriff in das Gemeinschaftsgrundrecht der Berufsfreiheit und die gleichermaßen gemeinschaftsrechtlich geschützte Vertraulichkeit des Verhältnisses zwischen Steuerberater und Mandant dar, doch dürften diese Beschränkungen im Hinblick auf das verfolgte Ziel der Bekämpfung der Geldwäsche und unter Berücksichtigung der bisher eher zurückhaltenden einschlägigen Rechsprechung des EuGH letztlich noch als verhältnismäßig und daher gerechtfertigt anzusehen sein.»
Allerdings: «Die grundsätzliche Differenzierung zwischen Rechtsanwälten und Steuerberatern im RL-Entwurf gem. Art. 2 a Nr. 5 und Art. 6 RL-Entwurf einschließlich der Privilegierung juristischer Berufe, insbesondere von Rechtsanwälten, verletzt den Gleichheitssatz im Gemeinschaftsrecht zulasten von Steuerberatern, da die vom Gemeinschaftsgesetzgeber angeführten Gründe für die Regelungen im RL-Entwurf die Ungleichbehandlung nicht objektiv tragen und somit als willkürlich zu bewerten sind.» (Seite 371)
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Straßburg, sieht in der Vollstreckung einer Gefängnisstrafe an einem über 90jährigen Straftäter keine prinzipielle Verletzung von Art. 3 EMRK / Papon gegen Frankreich
Maurice Papon ist der erste hohe Beamte des Vichy-Regimes (Etat fran¢ais mit Marschall Pétain an der Spitze), der wegen seiner Mitwirkung an der Verschleppung französischer Juden in Konzentrationslager Nazi-Deutschlands belangt wurde. Der ehemalige Generalsekretär der Präfektur in Bordeaux (1942-1944) wurde am 2. April 1998 wegen Mittäterschaft an Verbrechen gegen die Menschlichkeit von einem Schwurgericht zu zehn Jahren Freiheitsentzug verurteilt. Die Strafe verbüßt er gegenwärtig im Prominentenflügel des Santé-Gefängnisses (Paris). Seine Menschenrechtsbeschwerde stützt der Bf. – unter Hinweis auf sein hohes Alter und seinen Gesundheitszustand – auf das in Art. 3 EMRK enthaltene Verbot unmenschlicher und erniedrigender Behandlung.
Der EGMR weist die Beschwerde als unzulässig, weil offensichtlich unbegründet ab: «Der Gerichtshof gelangt nach einer Gesamtwürdigung der Tatsachen zu der Schlussfolgerung, dass die Situation des Bf. im gegenwärtigen Zustand nicht den hinreichenden Schweregrad erreicht, um in den Anwendungsbereich des Art. 3 EMRK zu fallen.» (Seite 382)
S.a. den Überblick über den historischen Zusammenhang des Verfahrens, Papons Karriere nach dem zweiten Weltkrieg als Polizeipräfekt von Paris, Abgeordneter der Nationalversammlung und Minister, das Verfahren vor dem Conseil d'Etat zur Frage der Staatshaftung und das Urteil des Tribunal de Grande Instance de Melun vom 4.9.2001 zur Rückgängigmachung einer betrügerischen Vermögensverschiebung, damit der Verurteilte Papon den als Nebenkläger auftretenden Opfer-Organisationen die Verfahrenskosten ersetzen kann. (Seite 382)
EGMR erkennt in der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe gegen betagten Straftäter (hier: über 85 Jahre alt) in der Form des Hausarrests keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung / Priebke gegen Italien
Als Polizeichef in dem – nach dem Seitenwechsel Italiens im zweiten Weltkrieg – von deutschen Truppen besetzten Rom hatte der 1913 geborene Erich Priebke am 23. März 1944 ein Erschießungskommando geleitet, bei dem über 335 Zivilisten zur Vergeltung für einen Partisanenüberfall getötet wurden, bei dem 33 deutsche Soldaten ums Leben kamen.
Priebke wurde – nach seiner Auslieferung aus Argentinien, wohin er 1946 mit seiner Familie geflohen war – am 7.3.1998 von einem Militärgericht in Rom zu lebenslänglichem Freiheitsentzug verurteilt. Nach Rechtskraft des Urteils kam er für weniger als drei Monate in ein Gefängnis und erhielt anschließend aufgrund eines medizinischen Gutachtens die Hafterleichterung des Hausarrests mit der Möglichkeit zu notwendigen Krankenhausbesuchen sowie der Erlaubnis, Besuch von Familienangehörigen, Anwälten und maximal drei weiteren Personen pro Tag zu empfangen. (Seite 387)
EGMR stellt keine Verkürzung von Verteidigungsrechten in Strafverfahren wegen tätlichen Angriffs auf eine Bürgermeisterin fest / Le Pen gegen Frankreich
Der Präsident der rechtsextremen Partei „Front National“, Jean-Marie Le Pen, hatte 1997 im Wahlkreis, in dem seine Tochter für die Nationalversammlung kandidierte, auf eine Gegendemonstrantin eingeschlagen. Es war die, an ihrer Amtsschärpe erkennbare, Bürgermeisterin eines Nachbarortes (und spätere Wahlsiegerin). Le Pen wurde wegen Körperverletzung einer Amtsperson zu drei Monaten Gefängnis mit Bewährung, zu 5.000 FF Geldstrafe und zur Unwählbarkeit für die Dauer eines Jahres verurteilt. (Seite 390)
EGMR hält Untersuchungshaft von 5 Jahren und 11 Mon. selbst in komplexem Strafverfahren gegen mutmaßlichen Terroristen (hier: PKK) für zu lang / Erdem gegen Deutschland
Dagegen billigt der EGMR die richterliche Überwachung des schriftlichen Verkehrs des Untersuchungsgefangenen mit seinem Anwalt. (Seite 391)
EGMR grenzt Privateigentum eines konstitutionellen Monarchen von – lediglich zur Nutzung durch das Staatsoberhaupt überlassenem – staatlichem Grundbesitz ab / Ehemaliger König gegen Griechenland
Bei allen drei Anwesen, die der Staat (die Republik) dem ehemaligen König Konstantin II. entzogen hatte, folgt der EGMR der Argumentation des Bf., dass es sich um Privateigentum gehandelt habe. Über die Höhe der Entschädigung wird getrennt verhandelt. (Seite 397)
Zur Rechtsprechung des EGMR zum Eigentumsschutz cf. Philipp Mittelberger, EuGRZ 2001, 364-371 (in diesem Heft).
Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH), Luxemburg, gibt bei der Bestimmung des steuerrechtlichen Lebensmittelpunktes (gewöhnlicher Wohnsitz) bei zwei Wohnsitzen in verschiedenen EU-Staaten den persönlichen Bindungen Vorrang / Rs. Louloudakis
Der 1956 in Griechenland geborene Kläger des Ausgangsverfahrens war 1974 nach Italien umgezogen und betreibt zusammen mit seiner italienischen Frau eine Firma in Florenz und eine Nebenfirma auf Kreta. Wegen der Einfuhr von drei in Italien zugelassenen Kraftfahrzeugen waren gegen ihn sehr hohe Geldbußen festgesetzt worden, gegen die er sich vor dem Verwaltungsgericht wehrt. Der EuGH betont im Hinblick auf Abgaben, die bis zum Zehnfachen der eigentlich fälligen Abgaben gehen können, den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und die Beachtung des guten Glaubens, wenn die Anwendung des einschlägigen Gemeinschaftsrechts mit Schwierigkeiten verbunden war. (S. 404)
EuGH erkennt im EG-Personalstatut keine Gleichstellung einer eingetragenen gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaft (hier: nach schwedischem Recht) mit einer Ehe / D und Schweden gegen Rat
Ein Beamter des Rates, der mit einem anderen schwedischen Staatsangehörigen in eingetragener Lebenspartnerschaft zusammenlebt, hatte die im EG-Personalstatut für verheiratete Beamte vorgesehene Haushaltszulage beantragt. In dem Urteil führt der EuGH u. a. aus: «Es zeigt sich jedoch, dass sich diese Regelungen der Eintragung von bis dahin gesetzlich nicht anerkannten Paarbeziehungen neben ihrer großen Verschiedenartigkeit in den betreffenden Mitgliedstaaten von der Ehe unterscheiden.» (Seite 410)
EuGH sieht im Erfordernis der italienischen Staatsangehörigkeit für die Tätigkeit privater Sicherheitsdienste Verstoß gegen die Dienstleistungsfreiheit / Kommission gegen Italien
Das Erfordernis der italienischen Staatsangehörigkeit für private Wachleute verletzt das Recht der Arbeitnehmerfreizügigkeit. (Seite 413)
Schweizerisches Bundesgericht (BGer), Lausanne, zieht Grenzen der Pressefreiheit gegenüber dem Verbot der Veröffentlichung amtlicher geheimer Verhandlungen
Eine Sonntagszeitung hatte am 26. Januar 1997 in reißerischer Aufmachung Passagen aus einem vertraulichen Strategiepapier des damaligen Schweizer Botschafters in den USA veröffentlicht. Das BGer (Kassationshof) bestätigt die Verurteilung des verantwortlichen Journalisten zu 800 Franken Busse. Eine Verletzung von Art. 10 EMRK liegt nicht vor, da das Geheimhaltungsinteresse der staatlichen Behörden gewichtiger war als das Informationsinteresse der Öffentlichkeit. (Seite 416)
BGer sieht Ansprüche von Nachbarn aus Bau- und Planungsrecht als „zivilrechtliche Ansprüche“ von Art. 6 Ziff. 1 EMRK erfasst
Konkret ging es bei dem Streit um die künftige Bebauung des Nachbargrundstücks der Bf. (Gebäudevolumen, Bauabstände, Lage der Einfahrt der zentralen Tiefgarage auf der Höhe des Wohnzimmers der Bf.). Das BGer bestätigt den Anspruch auf eine öffentliche Verhandlung vor dem zuständigen Verwaltungsgericht. (Seite 422)
Österreichischer Verfassungsgerichtshof (VfGH), Wien, zur verfassungskonformen Anwendung von § 5 AsylG 1997 im Hinblick auf Art. 3 Abs. 4 des Dubliner Übereinkommens
Im Ausgangsverfahren vor dem Bundesasylsenat ging es um die Ausweisung einer Jugoslawin und ihrer drei minderjährigen Kinder nach Italien und eines Chinesen und seiner minderjährigen Tochter nach Frankreich. (Seite 424)
In ihrer Anmerkung klärt Magdalena Pöschl die sich aus dem Erkenntnis ergebenden praktischen Folgen. (Seite 428)
Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, bestätigt erhöhte Spielautomatensteuer für Gewalt-Spielautomaten
Die 3. Kammer des Ersten Senats führt aus: «Das Lenkungsziel der erhöhten Besteuerung von „Gewaltspielautomaten“ besteht darüber hinaus darin, die Aufstellung von gewalt- und kriegsverherrlichenden Automaten einzudämmen. Hieran besteht angesichts des Gefahrenpotentials von „Gewaltspielautomaten“ ein gewichtiges Interesse der Allgemeinheit. Denn diese Geräte werden für eine zunehmende Brutalisierung der Gesellschaft mitverantwortlich gemacht. Sie werden trotz einer gewissen Verfremdung der Spielereignisse und des Gebrauchs von Phantasiegebilden für geeignet gehalten, Aggressionen aufzubauen, aggressives Verhalten zu fördern, Gewalt und Krieg zu verherrlichen und zu verharmlosen und insgesamt zur Verrohung beizutragen.» (Seite 429)
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte / Parlamentarische Versammlung des Europarats, Straßburg, debattiert finanzielle und personelle Sofortmaßnahmen
«Wenn kurz- und langfristige Maßnahmen nicht unverzüglich ergriffen werden und wenn dem Gerichtshof nicht sofort die Mittel zur Verfügung gestellt werden, die er braucht, werden der Gerichtshof und das System der Konvention vor einer Krisensituation stehen“, heißt es in der Beschlussvorlage des Rechtsausschusses für die Herbsttagung der Parlamentarischen Versammlung. (Seite 431)
BVerfG macht Verlegung eines Untersuchungsgefangenen in die ärztliche Abteilung (Dreibettzimmer) einer vom Gerichtsort entfernten Justizvollzugsanstalt zum Zweck der psychiatrischen (Zweit-)Begutachtung ohne Anhörung der Gegenseite rückgängig
Die 3. Kammer des Zweiten Senats stellt fest: «Unterbliebe die einstweilige Anordnung, hätte die Verfassungsbeschwerde später aber Erfolg, so käme es zu faktischen Beeinträchtigungen, die den Beschwerdeführer erheblich in seinen Verteidigungsmöglichkeiten einschränkten. Dies betrifft sowohl die Zusammenarbeit zwischen ihm und seinem Verteidiger als auch seine eigenen Vorbereitungsmöglichkeiten außerhalb von Verteidigergesprächen.» (Seite 431)