EuGRZ 2003 |
24. September 2003
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30. Jg. Heft 14-16
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Informatorische Zusammenfassung
Marten Breuer, Potsdam, kommentiert „Völkerrechtliche Implikationen des Falles Öcalan“ und dogmatische Widrigkeiten des EGMR-Urteils vom 12.3.2003 (EuGRZ 2003, 472)
«Der EGMR prüft neben anderen behaupteten Verstößen schwerpunktmäßig die Umstände, unter denen Abdullah Öcalan von Kenia in die Türkei verbracht wurde. Dabei fällt vor allem auf, welche Mühen dem Gerichtshof offenbar die Bejahung der Anwendbarkeit der EMRK ratione loci bereitet. Denn da sich die Entführungshandlung außerhalb türkischen Hoheitsgebiets, ja außerhalb der Europaratsstaaten schlechthin ereignete, war die Frage der Anwendbarkeit der Konvention auf sog. grenzüberschreitende bzw. extraterritoriale Sachverhalte aufgeworfen. Hier hat die Rechtsprechung des EGMR in den letzten Jahren eine bedauerliche Wendung genommen, deren Probleme und Fehlentwicklungen im Fall Öcalan offenbar wurden. (…)
Wenn der EGMR gleichwohl meint, die Anwendbarkeit der EMRK ratione loci mit dem Argument bejahen zu können, der PKK-Führer sei von türkischen Beamten physisch zur Rückkehr in die Türkei gezwungen worden, so belegt dies letztlich nichts anderes, als dass das in Bankovic|' [EuGRZ 2002, 133] aufgestellte Kriterium der Territorialität verfehlt ist und durch das Kriterium der Zurechenbarkeit (im Sinne der früheren EGMR-Rechtsprechung) ersetzt werden sollte.»
Obwohl das gegen Öcalan verhängte Todesurteil nach der erfolgten Abschaffung der Todesstrafe in eine lebenslange Freiheitsstrafe umgewandelt worden ist, hat der EGMR die Verhängung dieser Strafe nach einem z.T. gegen die in Art. 6 Abs. 1 enthaltenen Grundsätze des fairen Verfahrens verstoßenden Strafverfahren als Verletzung von Art. 3 EMRK angesehen.
«Das Neue an diesem Ansatz besteht darin, dass der Gerichtshof aus der Unfairness eines Verfahrens, an dessen Ende ein Todesurteil steht, ohne weiteres auf das Vorliegen unmenschlicher Behandlung schließt, ohne darauf einzugehen, ob durch die Verfahrensverstöße die Furcht vor der Hin rich tung – die als solche ja als von Art. 2 Abs. 1 S. 2 EMRK gedeckt anzusehen ist – gesteigert worden ist oder nicht.
Mit dieser Vorgehensweise setzt sich der EGMR insoweit in Widerspruch zu seiner eigenen Rechtsprechung, als er in anderen Fällen für die Feststellung einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung die Notwendigkeit einer Gesamtwürdigung aller Umstände des Einzelfalls betont. (…) Er hätte näher darauf eingehen müssen, inwieweit in den Verfahrensverstößen eine besonders menschenverachtende Grundhaltung zum Ausdruck kommt.»
Der Autor möchte seine Kritik als «Zwischenruf» im Hinblick auf Korrekturen verstanden wissen, zu der die Große Kammer sich veranlasst sehen könnte, wenn sie demnächst das hier besprochene Urteil der Ersten Sektion überprüft. (Seite 449)
Martin Scheyli, Bern, hinterfragt die mangelnde Kontrolldichte im Demuth-Urteil (Car TV) des EGMR (EuGRZ 2003, 488) und dessen „Abgrenzung zwischen ideellen und kommerziellen Informationsgehalten als Bemessungsgrundlage der margin of appreciation im Rahmen von Art. 10 EMRK“
Im Ausgangsfall geht es um die Versagung einer Sendekonzession für ein privates Fernsehprojekt „Car TV“ durch den schweizerischen Bundesrat.
Der Autor kommt zu dem Ergebnis, dass der EGMR die in seiner bisherigen Rechtsprechung entwickelten Unterscheidungskriterien zwischen ideellen, d. h. politisch relevanten und kommerziellen Informationsgehalten hier nicht anwendet, dies nicht begründet und auch sonst «keinen Ansatz zu einer systematischen Kriterienbildung erkennen lässt.“ Zudem frage der EGMR in Abweichung zu seinem früheren Vorgehen nicht mehr nach den Zielen der geplanten Programminhalte, sondern nach dem wirtschaftlichen Zweck des verantwortlichen Unternehmens.
Ein kritischer Ausblick setzt das Demuth-Urteil in Beziehung zu der von EGMR-Präsident Wildhaber (EuGRZ 2002, 569 ff.) unter dem Stichwort „Verfassungsrechtliche Zukunft für den EGMR?“ entwickelten Idee, die Prüfungspflichten des Gerichtshofs angesichts seiner Überlastung einzuschränken. Scheyli gibt zu bedenken: Ob es sich im Demuth-Urteil um einen Fall gehandelt haben könnte, „auf den nicht zuviel Zeit verschwendet werden sollte … Oder müsste die Sache vielmehr als solche von konstitutioneller Relevanz betrachtet werden, da es sich um den seltenen Fall einer Abgrenzung zwischen ideellen und kommerziellen Informationsgehalten im Rahmen der Garantien von Art. 10 EMRK handelt und sich dem Gerichtshof insofern die rare Gelegenheit eröffnet, die diesbezügliche Praxis weiter zu konkretisieren?»
Allgemein sei mit Blick auf die größeren Zusammenhänge der gesamteuropäischen Menschenrechtspraxis offen, «bis zu welchem Grad sich die Zurückhaltung des Gerichtshofs bei der Ausübung seiner Kontrollfunktion (und insofern auch seiner „Verfassungsaufgabe“) als bloße Symptomatik der von Präsident Wildhaber angesprochenen institutionellen Probleme erklären lässt.» (Seite 455)
Heinrich Amadeus Wolff, München, qualifiziert den Vergleichsvorschlag des Bundesverfassungsgerichts in den Verfahren um das Brandenburgische Schulgesetz (Stichwort: LER) als „Verfahrensfortbildung contra legem“
Inhaltlich ging es den evangelischen und katholischen Verfassungsbeschwerdeführern sowie der CDU/CSU-Bundestagsfraktion darum, den Religionsunterricht an öffentlichen Schulen nicht durch das Ersatzfach „Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde (LER)“ verdrängen zu lassen. Die drei einschlägigen Beschlüsse des BVerfG sind abgedruckt in EuGRZ 2003, 524, 525 und 526 (in diesem Heft).
Wolff erinnert grundsätzlich an die «Vorbildfunktion des BVerfG, die sich nicht nur auf das Verfassungsrecht, sondern auf das Recht selbst bezieht», und an die Reichweite der sich daraus ergebenden Konsequenzen.
Nach einer ausführlichen Erörterung der relevanten Einzelfragen und rechtsvergleichender Aspekte kommt der Autor zu folgendem Gesamtergebnis: «Das BVerfG hat mit dem Vergleichsvorschlag in den LER-Verfahren seine verfahrensrechtlichen Befugnisse überschritten. Der Gesetzgeber wäre aber angesichts der verfassungsprozessualen Realität gut beraten, das BVerfGG um eine Regelung zu ergänzen, die dem Gericht das Hinwirken auf eine gütliche Einigung der formell und materiell Beteiligten ermöglicht.» (Seite 463)
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Straßburg, wertet Verhängung einer später nicht vollstreckten Todesstrafe nach einem unfairen Verfahren als unmenschliche Behandlung i.S.v. Art. 3 EMRK / Öcalan gegen Türkei
«Die durch ein Todesurteil hervorgerufene Furcht und Ungewissheit hinsichtlich der Zukunft muss, wo immer eine reale Möglichkeit besteht, dass das Urteil vollstreckt werden wird, in erheblichem Maße zu menschlichen Qualen führen. Diese Qualen können nicht von der Unfairness des dem Urteil zugrunde liegenden Verfahrens getrennt werden mit der Folge, dass das Urteil – da menschliches Leben auf dem Spiel steht – nach den Maßstäben der Konvention unrechtmäßig ist. Angesichts der Ablehnung der Vertragsparteien gegenüber der Todesstrafe, der kein legitimer Platz in einer demokratischen Gesellschaft mehr zugebilligt wird, muss die Verhängung eines Todesurteils unter solchen Umständen per se als eine Form von unmenschlicher Behandlung angesehen werden.» (Seite 472)
Cf. Marten Breuer, in diesem Heft S. 449 ff.
EGMR sieht in der Verweigerung einer Sendekonzession für ein privates Auto-bezogenes Fernsehprogramm (Car TV) keine Verletzung von Art. 10 EMRK / Demuth gegen Schweiz
«… kann nicht gesagt werden, dass die Entscheidung des Bundesrates – die vom Grundsatz geleitet war, dass Fernsehprogramme in gewissem Maß auch dem öffentlichen Interesse dienen sollen – über den Beurteilungsspielraum hinaus ging, der den nationalen Behörden in derartigen Belangen zusteht.» (Seite 488)
Cf. Martin Scheyli, in diesem Heft S. 455 ff.
Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH), Luxemburg, siehtkeine Haftung Österreichs gegenüber LKW-Spediteuren wegen Brenner-Blockade durch Umweltschutz-Demonstration / Rs. Schmidberger
«Schließlich ist … angesichts des weiten Ermessens, über das die Mitgliedstaaten verfügen, davon auszugehen, dass die nationalen Stellen unter solchen Umständen wie denen des Ausgangsrechtsstreits annehmen durften, dass ein schlichtes Verbot der Versammlung einen nicht hinnehmbaren Eingriff in Grundrechte der Demonstranten, sich zu versammeln und ihre Meinung friedlich öffentlich zu äußern, dargestellt hätte.» (Seite 492)
Corte costituzionale, Rom, bestätigt Verfassungsmäßigkeit der italienischen Rundfunkgebühr
«Das Ende des staatlichen Fernsehmonopols … hat nicht die Existenz und die verfassungsrechtliche Rechtfertigung des „öffentlichen Rundfunks“ aufgehoben.» (Seite 499)
Corte costituzionale, Rom, erklärt die unbefristete Duldung der verfassungswidrigen Konzentration im italienischen Privatfernsehen für verfassungswidrig
Der Verfassungsgerichtshof hatte bereits in einer früheren Entscheidung [Urteil Nr. 420/1994] klargestellt, «dass die Übergangsphase keinen „definitiven Charakter“ annehmen dürfe“. (Seite 501)
Jörg Luther, Alessandria, stellt in seiner Anmerkung fest: «Die Gretchenfrage der italienischen Medienverfassung (und Demokratie) lautet einmal mehr: do we take constitutional court decisions seriously?“ (Seite 502)
Schweizerisches Bundesgericht (BGer), Lausanne, erklärt Volksinitiative für ungültig, die darauf abzielt, Einbürgerungsgesuche der Volksabstimmung an der Urne zu unterstellen
«Einbürgerungsgesuche unterliegen der Begründungspflicht gemäss Art. 29 Abs. 2 BV i.V.m. Art. 8 Abs. 2 BV. Eine Begründung ist jedoch bei Volksabstimmungen, die an der Urne erfolgen, systembedingt nicht möglich. (Seite 503)
BGer stellt bei Urnenabstimmung über Einbürgerungsgesuche eine Verletzung des Diskriminierungsverbots fest
Sämtliche Gesuche von acht Italienern waren gutgeheißen, sämtliche Gesuche von 38 Personen aus dem ehemaligen Jugoslawien waren abgewiesen worden. (Seite 509)
Court of Appeal, London, billigt bei der Entschädigung für im zweiten Weltkrieg von Japan internierte britische Zivilpersonen die Beschränkung auf Briten, die selbst oder deren Vater oder Mutter im Mutterland geboren sind. (Seite 514)
Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, sieht in religiös bedingtem Kopftuchtragen einer moslemischen Verkäuferin keinen Kündigungsgrund
Die 2. Kammer des Ersten Senats bestätigt eine Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts, das seine Abwägung zwischen Religionsfreiheit und Unternehmerfreiheit maßgeblich darauf gestützt hat, dass vom Arbeitgeber „betriebliche Störungen oder wirtschaftliche Nachteile nicht hinreichend plausibel dargelegt“ worden seien. (Seite 515)
BVerfG billigt Auslieferung eines in Indien wegen Betrugs in Millionenhöhe angeklagten vanuatuischen bzw. vormals indischen Staatsangehörigen. (Seite 518)
S.a. die abw. Meinung Sommer/Lübbe-Wolf. (Seite 522)
BVerfG führt den Streit um das neue Lehrfach Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde (LER) neben dem kirchlichen Religionsunterricht in Brandenburg einer gütlichen Einigung zu und stellt die Verfahren auch derjenigen Verfassungsbeschwerdeführer wegen Wegfalls der Beschwer ein, die dem Vergleich nicht zustimmen. (Seiten 524, 525, 526)
Cf. Heinrich Amadeus Wolff, in diesem Heft S. 463.
Giscard d'Estaing erläutert den EU-Verfassungsentwurf (EuGRZ 2003, 357-442) vor dem EP. (Seite 528)
BVerfG gewährt Rechtsschutz gegen Zustellung einer überzogenen US-amerikanischen Sammelklage gegen Bertelsmann in Höhe von 17 Mrd. US-Dollar. (Seite 528)