EuGRZ 2004 |
6. Oktober 2004
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31. Jg. Heft 19
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Informatorische Zusammenfassung
30 Jahre EuGRZ – am 4. Oktober 1974 erschien, nach einer Null-Nummer im August, die erste Ausgabe dieser Zeitschrift. Sie dient dem Schutz der Grund- und Menschenrechte, indem sie auf einem Forum drei Ebenen zusammenführt: nationale Verfassungen, völkerrechtliche Verträge wie EMRK und UNO-Pakte und die Europäische Union. Dieses Konzept hat sich behauptet. Den Autoren sei für Mühe, Ausdauer, weiterführenden Dialog und ständige Hilfsbereitschaft herzlich gedankt. Sie ermöglichen das Erscheinen der Zeitschrift. Den Abonnenten sei für ihre Treue gedankt, weil sie den Fortbestand der EuGRZ sichern. Schriftleitung und Herausgeber
Vom Vertrag zur EU-Verfassung? – Mit dieser Ausgangsfrage wurde der Konventsentwurf auf einem Kolloquium am 13. und 14. Mai 2004 im Goethe-Nationalmuseum Weimar analysiert
Neben der demokratischen Dimension standen die rechtsstaatliche Dimension (Grundrechte, Gerichtsbarkeit) der künftigen EU auf der Tagesordnung sowie deren neue außenpolitische Rolle und die Kompetenzordnung.
Veranstalter waren die Friedrich-Schiller-Universität Jena und die Georg-August-Universität Göttingen, C. Calliess und M. Ruffert federführend, in Zusammenarbeit mit der Europäischen Grundrechte-Zeitschrift. (Seite 541)
Christian Calliess, Göttingen, und Matthias Ruffert, Jena, untersuchen in ihrer perspektivischen Einführung zur Weimarer Tagung Risiken, Chancen und Eckwerte des Verfassungsentwurfs
«Rechtsstaatliche Grenzüberschreitungen drohen insbesondere dann, wenn die EU durch mitgliedstaatliche Vollzugsdefizite bei der Umsetzung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts ihrer Basis als Rechtsgemeinschaft, die durch einheitliche und gleiche Geltung sowie effektive Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts definiert ist, beraubt wird.»
Als Chance begreifen die Autoren, dass die EU sich als Staaten- und Verfassungsverbund realisieren kann: «Ohne Verfassung bleibt der Staatenverbund eine völkerrechtlich zwar zutreffende, jedoch inhaltslose Beschreibung der EU. Der Staatenverbund ist für sich betrachtet ein Torso, erst durch die Verfassung wird er mit Inhalt gefüllt.»
Im Gemeinwohlverbund – zwischen Solidarität und Subsidiarität – sehen Calliess/Ruffert ein weiteres notwendiges Element: «Anders als mitunter im Schrifttum angenommen, erhebt das Europarecht, vermittelt über Vorrang und Sperrwirkung, im europäischen Verfassungsverbund dabei den Anspruch, das europäische Gemeinwohl verbindlich für alle Mitgliedstaaten in ihrer Gesamtheit zu formulieren und zu verwirklichen. Im Konfliktfall ist dementsprechend der EuGH als „Verfassungsgericht“ der EU aufgefordert, die Kongruenz von nationalem und europäischem Gemeinwohl zu bewirken und durchzusetzen.»
Dass der Rat als Gesetzgebungsorgan nach dem Konventsentwurf öffentlich tagt, wird ausdrücklich hervorgehoben: «Denn nur wenn das Beratungs- und Abstimmungsverhalten der Ratsvertreter öffentlich wird, können die mitgliedstaatlichen Parlamente ihre legitimierende Kontrollfunktion gegenüber den Ratsmitgliedern wahrnehmen.» (Seite 542)
Jean-Paul Jacqué, Brüssel, plädiert u.a. mit Hinweisen auf die amerikanische Verfassungsgeschichte für eine „Trennung der Begriffe von Föderation und Staat”
«Die Union vereint Staaten und Bürger. Darin liegt ihre Originalität im Verhältnis zu internationalen Organisationen. (…) Das direkte Verhältnis, das zwischen den Institutionen der Union und den Bürgern entsteht, ist das Charakteristikum einer Einheit, in der die Mediatisierung durch den Staat endet. Dies kennzeichnet den grundlegenden Bruch mit dem Völkerrecht.
Indem die Gründungscharta der Union auf dem Willen beruht, gemeinsame Werte zu teilen, indem sie die Unionsorgane und ihre wechselseitigen Beziehungen definiert, indem sie mit rechtlicher Autonomie ausgestattet ist, indem sie sich zugleich auf die Staaten wie den Unionsbürger stützt, ist sie verfassungsrechtlicher Natur. Genau damit stehen wir vor der herkömmlichen Frage nach der Rechtsnatur der Union oder, um es anders auszudrücken, vor der Frage, ob es eine Verfassung ohne Staat geben kann. Die Löslösung der Verfassung vom Staat erlaubt es, einige Fragen zu beantworten, die sonst offen blieben. (…)
Die amerikanischen Gründerväter (…) wollten keinen Staat gründen, weil sie genau wussten, dass sie dadurch die Souveränität der Bundesstaaten in Gefahr bringen würden. Sie setzten eine Zentralregierung ein, die nur bestimmte Einzelkompetenzen ausüben sollte, um auf diese Weise die Rechte der Bundesstaaten zu garantieren. Diese Organisationsform bildet eine Föderation, und sie darf nicht, wie man dies häufig tut, mit dem Staat vermengt werden, wenn man glaubt, dass es keine andere föderale Organisationsform als den Staat geben könne. Die amerikanische Erfahrung widerspricht diesem Gemeinplatz. Die Vereinigten Staaten sind nicht als Staat erdacht worden, sondern als Föderation, in der die Souveränität geteilt ist. (…)
Das Geheimnis der Föderation liegt in diesem Gleichgewicht zwischen den Kompetenzen des Ganzen und denen seiner Bestandteile – Kompetenzen, die sämtlich demokratisch legitimiert sind. Lässt man gelten, dass die Union in eine föderale Form gekleidet ist, folgt daraus zwingend, dass ihr Grundsatzdokument eine Verfassung ist.» (Seite 551)
Johannes Christian Wichard, Genf, erkennt eine „supranationale Verfassung zwischen Staats- und Völkerrecht”
«Die Mitgliedstaaten übertragen der EU Kompetenzen, nicht Souveränität, und sie entscheiden darüber, wie intensiv sie diese Kompetenzen übertragen, indem sie sich, vor allem über den Rat und den Europäischen Rat, Einflussmöglichkeiten vorbehalten, die in den verschiedenen Sachbereichen unterschiedlich stark ausgeprägt sind. Eine negative Konsequenz dieser unvollständigen Kompetenzzuweisung ist die Vermischung, oder vielmehr Verwischung, der politischen und rechtlichen Verantwortlichkeiten von Mitgliedstaaten und EU. (…)
Sollte der Vertrag über eine Verfassung für Europa also in Kraft treten, so bewirkt er keinen verfassungsrechtlichen Urknall, der die EU-Verfassung gewissermaßen aus dem Nichts hervorbringt. Er begründet und formt keine originäre Herrschaftsmacht im Sinne staatsrechtlicher Verfassungsbegriffe, sondern treibt die Konstitutionalisierung der von den Mitgliedstaaten abgeleiteten unmittelbaren Herrschaftsmacht voran. Ob man das so verfasste Gebilde „Föderation”, „Bund”, „Staatenverbund”, „supranationalen Föderalismus“ oder „supranationale Union“ nennen soll, möchte ich offen lassen. Um der EU gerecht zu werden, ist es jedenfalls wichtig, beide Elemente (und ihre Auswirkungen) im Blick zu behalten, das der Verfassung und das des Vertrags.» (Seite 556)
Joachim Wuermeling, Straßburg/Brüssel, erwartet „Mehr Kraft zum Konflikt“ und erläutert das in „Sieben Anmerkungen zur Zukunft des EP nach dem Verfassungsvertrag”
«Die Basiskonstruktion der europäischen Institutionen mit Rat, Kommission und Europäischem Parlament als entscheidende Akteure wird durch den Verfassungsvertrag nicht in Frage gestellt. (…) Andererseits wurden die Rechte des Europäischen Parlaments insbesondere im Haushalt und in der Gesetzgebung substantiell ausgeweitet. [Es] zieht gleich mit dem Ministerrat. (…) Keine Entscheidungsbefugnis erhält das Europäische Parlament im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik. Das entspricht der Praxis in den meisten Staaten, nach der das externe Handeln der Exekutive vorbehalten ist. Völkerrechtliche Verträge unterliegen jedoch in der Regel der Ratifizierung durch das EP.»
Der Autor rechnet damit, dass die politischen Entscheidungen inhaltlich bürgernäher werden, u.a. deshalb weil die Ministerratssitzungen öffentlich werden und weil die nationalen Parlamente sich mit jedem europäischen Gesetzesvorschlag zu befassen haben, um zu entscheiden, ob sie einen Subsidiaritätseinspruch einlegen wollen oder nicht.
Wuermeling, selbst EP-Abgeordneter und vorm. stv. Mitglied des Verfassungskonvents, hält das EP für den eindeutigen Gewinner der institutionellen Reform: «Substantielle Forderungen nach mehr Rechten bestehen derzeit nicht.» (Seite 559)
Christoph Grabenwarter, Graz, sieht die EU zwar „auf dem Weg in die Grundrechtsgemeinschaft, aber noch nicht angekommen”
Der Beitrag widmet sich vor allem dem Anwendungsbereich der Grundrechte, dem Nebeneinander von Rechten und Prinzipien, dem Verhältnis verschiedener Grundrechtsschichten, der Parallelität im neuen Grundrechtsbestand sowie dem Beitritt der Union zur EMRK.
«Sowohl die Inkorporation der [Grundrechte]Charta als auch die mit dem Wort „Anstreben“ unterfütterte Ermächtigung zum Beitritt der Union zur EMRK in Art. I-7 Abs. 2 des Verfassungsentwurfs bilden einen Meilenstein in der Verfassungsentwicklung der Europäischen Union. Das jahrzehntelang festgestellte textliche Defizit der Europäischen Union im Bereich der Grundrechte ist endlich abgebaut.
Freilich bleiben Kritikpunkte. Zur Technik der Einfügung bleibt zu kritisieren, dass der Verfassungsentwurf mit der Inkorporation der Grundrechte-Charta dem Anspruch, richterrechtlich entwickelte Grundrechte abzulösen und im zweiten Teil abschließend zusammenzufügen, durch doppelte Normierung einzelner Garantien außerhalb des zweiten Teiles nicht gerecht wurde. (…) Schwerer wiegen da schon die Mängel im Rechtsschutz. Die Zurückhaltung bei der Einführung prozessualer Instrumente für den Grundrechtsschutz durch den EuGH muss als bedeutsames Manko festgehalten werden.» (Seite 563)
Thorsten Kingreen, Regensburg, behandelt Theorie und Dogmatik der Grundrechte im europäischen Verfassungsrecht
«Die nunmehr in den Verfassungsentwurf eingefügte Grundrechtecharta ist eine bedeutsame Eigenleistung der Europäischen Union; sie festigt den Übergang von einer Wirtschaftsgemeinschaft zu einem politischen Gemeinwesen. Europäische und mitgliedstaatliche Grundrechte bilden einen beeindruckenden Grundrechtsverbund, der durch Art. II-51 stabilisiert wird. Seine Stabilität wird allerdings davon abhängen, dass er nicht untergraben wird, indem eine zweite Grundrechtsschicht in Gestalt der Grundfreiheiten etabliert wird, die nicht den Bedingungen des Grundrechtsverbundes unterliegt. Der Verfassungsentwurf verfestigt diese problematische Rechtsprechung des EuGH, indem er die Grundfreiheiten in den Bestand des Grundrechtekapitels einbezieht. Was hier als eine Art doppelter Absicherung erscheint, ist eine nicht unproblematische Relativierung der Grundrechte und der Grundfreiheiten gleichermaßen.» (Seite 570)
Wolfram Cremer, Hamburg/Bochum, unterzieht den Rechtsschutz des Einzelnen gegen Sekundärrechtsakte der Union gem. Art. III-270 Abs. 4 Konventsentwurf einer kritischen Bewertung
«Die Analyse hat gezeigt, dass der Konventsentwurf gegenüber dem restriktiven Rechtsschutzkonzept des Art. 230 Abs. 4 EG nur im Bereich der untergesetzlichen Rechtsakte zu einer gewissen Verbesserung des Direktklagerechts führt. Der insoweit einschlägige Art. III-270 Abs. 4 3. Alt. wirft zudem schwierige Auslegungsprobleme auf. Insoweit wäre insbesondere zu empfehlen, das Tatbestandsmerkmal „Rechtsakte mit Verordnungscharakter“ durch „Rechtsakte ohne Gesetzescharakter“ zu ersetzen.
Im Übrigen kann angesichts einer ausgebliebenen Verbesserung des Klagerechts gegenüber Gesetzgebungsakten die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, wirksame dezentrale Rechtsschutzinstrumente zur Überprüfung von Legislativakten der Union zur Verfügung zu stellen, gar nicht deutlich genug hervorgehoben werden. Diese Verpflichtung folgt aus dem Unionsgrundrecht auf effektiven Rechtsschutz, wie es nunmehr in Art. II-47 niedergelegt ist. Zudem heißt es in Art. I-28 Abs. 2 UAbs. 1: „Die Mitgliedstaaten schaffen die erforderlichen Rechtsbehelfe, damit ein wirksamer Rechtsschutz auf dem Gebiet des Unionsrechts gewährleistet ist.”» (Seite 577)
Daniel Vernet, Paris, skizziert die Union als außenpolitischen Akteur
Der Autor ruft zunächst Etappen der „Ur-Zeit“ und Geschichte der europäischen Außenpolitik in Erinnerung. Dass es keine wirkliche gemeinsame oder gar einheitliche europäische Außenpolitik gibt, sei im Grunde eine Manifestation außenpolitischer Kultur, «die in der Union sehr unterschiedlich war und immer noch ist: zwischen den Franzosen und Briten, die eine koloniale Vergangenheit haben, auf der einen Seite, den Deutschen, die die Lehren aus ihrer Geschichte gezogen haben, auf der anderen und in der Mitte die sogenannten Allianz-nichtgebundenen Staaten, die ehemaligen Neutralen, die den Gewaltverzicht zum höchsten Mittel der Politik erhoben haben – von den neuen Mitgliedstaaten ganz zu schweigen, die nur der amerikanischen Militärmacht vertrauen.»
Zum Ausbau der Institutionen in den Verträgen von Maastricht (1992) über Amsterdam (1997) und Nizza (2000) bis zum Verfassungsentwurf (2003) bemerkt Vernet: «Wenn man wie so oft in der Europäischen Union glaubt, dass eine Institution die gemeinsame Politik nach sich zieht, stellt die Errichtung eines Außenministers einen großen Schritt nach vorn dar. (…) Institutionell gesehen ist die Lage trotzdem ein bisschen komplizierter, und zwar deshalb, weil im Außenbereich der Union eine weitere neue Figur auftaucht: Der Präsident des Europäischen Rates. (…) Mit vielen Beschränkungen und Hindernissen schafft der Verfassungsentwurf die Möglichkeit zu einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, zumindest verschließt er einer solchen Entwicklung nicht die Tür.» (Seite 584)
Hans-Joachim Cremer, Mannheim, betrachtet die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) aus einer rechtspolitischen Perspektive
«Durch die bloße Existenz einer Mehrheitsregel, so hofft man, übe die Furcht, überstimmt zu werden, auf eigenbrötlerische Mitgliedstaaten einen gewissen Druck aus, sich mit den anderen zu einigen. Fragen wir gar nicht, wie hoch dieser Druck ist, wenn – wie in der Irakkrise – zwei große und wichtige Staaten wie Deutschland und Frankreich Positionen definieren, die von den übrigen teils nicht mit gleicher Überzeugung und Rigorosität, teils überhaupt nicht geteilt werden. – Nehmen wir einfach an, Entscheidungen würden wirklich mit (qualifizierter) Mehrheit gefasst und ins Werk gesetzt: Dann belasten solche Mehrheitsentscheidungen diejenigen, die mit Nein gestimmt haben. Denn sie sind rechtlich verpflichtet, etwas mitzutragen, mitzufinanzieren und mit auszuführen, von dessen politischer Richtigkeit sie nicht überzeugt sind. Dies erzeugt innerhalb der Union eine Spannung, die im Einzelfall und im Kleinen hinzunehmen sein mag. Auf Dauer und im Großen aber dürfte die Gefahr bestehen, dass die Haarrisse, die entlang solcher Mehrheitsbeschlüsse entstehen, sich zu Bruchlinien verbinden. (…)
Realistisches Denken muss bescheidener ansetzen: Konsens ist der Kitt der GASP – Konsens der Mitgliedstaaten, der alten wie der neu Hinzugekommenen. Konsens entsteht aber nicht aus der Einsicht in das jeweils Vernünftige. Angerührt wird der Konsenskitt durch Vertrauen.» (Seite 587)
Sebastian Krebber, Luxembourg, untersucht die Koordinierung als Kompetenzkategorie aus dogmatischer Sicht
«Aus einer staatstheoretischen Perspektive betrachtet geht es um nichts anderes als die Aufgabe der sauberen Trennung von Zuständigkeiten. Es gibt kein klares entweder/oder mehr, sondern nur noch eine ausschließliche oder konkurrierende Zuständigkeit der Union auf der einen Seite und eine der Mitgliedstaaten auf der anderen, die aber von einer Zuständigkeit zur Koordinierung der Union flankiert wird (sog. ergänzende Kompetenzen). Genau dieses ist das Bild des Art. I-1 Abs. 1. Bedenkt man, dass einer der Kernpunkte des Mandats an den Konvent war, eine genauere Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen Europäischer Union und den Mitgliedstaaten herbeizuführen, ist dies schon ein bemerkenswertes Ergebnis. Freilich kann es durchaus sein, dass diese Kompetenzverwischung schon seit längerem der Praxis entspricht, die Koordinierung als Kompetenzkategorie daher nur aus staatstheoretischer Sicht etwas Neues ist.» (Seite 592)