EuGRZ 2005 |
27. September 2005
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32. Jg. Heft 17-18
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Informatorische Zusammenfassung
Christian Tomuschat, Berlin, kritisiert „Ungereimtes“ mit Blick auf das Urteil des BVerfG zum Europäischen Haftbefehl
«Nirgendwo wird eine spezielle Grundrechtsbetroffenheit des Beschwerführers geprüft. (…) So gerät die Prüfung von vornherein in ein Fahrwasser, dessen primäre und weit überwiegende Markierungen die Staatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland und ihr spezielles Rechtsschutzsystem sind, anstatt die Öffnung wiederzuspiegeln, welche das deutsche Verfassungssystem im Jahr 1993 durch Art. 23 Abs. 1 GG [Mitwirkung an der Entwicklung der EU] erfahren hat.
Es ist selbstverständlich, dass hier nicht einer naiven Europa-Euphorie das Wort geredet werden soll. Nicht alles, was das Etikett „europäisch“ trägt, ist deswegen schon gut. Aber es macht einen gewichtigen Unterschied aus, ob ein Grundrecht für irgendwelche Zwecke eingegrenzt wird, die aus der Tagespolitik erwachsen, oder ob langfristige strukturelle Ziele verfolgt werden, denen der Verfassungsgesetzgeber selbst in Grundsatzform sein Plazet gegeben hat. Insofern muss man dem Urteil eine Argumentationslückeanlasten.» (…)
Deutliche Kritik richtet der Autor gleichermaßen an Regierungen und Parlamente: «Ganz offensichtlich haben aber in allen damals 15 Mitgliedstaaten die Parlamente versagt. Nur so lässt sich erklären, dass in den RbEuHb so vage und rechtsstaatlich wenig konturierte Straftaten aufgenommen worden sind wie Cyberkriminalität, Rassismus sowie Fremdenfeindlichkeit und Sabotage. Soweit ersichtlich hat niemand von den Tausenden von Parlamentariern in Europa, die sämtlich auf die eine oder andere Weise informiert worden waren, gegen dieses Horrorkabinett protestiert und seine Regierung aufgefordert, die Zustimmung zu verweigern. Versagt haben aber auch die Justizminister, die ihre Beamten haben gewähren lassen, ohne sich der heiklen Natur der Tatbestände bewusst zu werden, die der unterschiedlichsten Auslegung zugänglich sind und sich kaum auf den gemeinsamen europäischen Wertefundus zurückführen lassen. (…) Die Gefahr liegt eigentlich weniger in der Verweigerung demokratischer Entscheidungsmacht zu Lasten des demos als in einer Unübersichtlichkeit, die letzten Endes zur Verwischung aller Verantwortlichkeit führt.»
Tomuschat kommt zu dem Ergebnis, «dass der Fall sich nicht recht für eine Grundsatzentscheidung eignete» und dass der bessere Weg gewesen wäre, das Gesetz europarechtskonform auszulegen anstatt es für nichtig zu erklären – zumal «es sich eben bei jenen Inlandstaten, die auf Grund eines Europäischen Haftbefehls zur Auslieferung an das Ausland führen könnten, um eine eher theoretisch vorgestellte als tatsächlich vorstellbare Fallgruppe handelt». (Seite 453)
Das Urteil des BVerfG zum Europäischen Haftbefehl ist veröffentlicht in EuGRZ 2005, 387.
Christian Maierhöfer, Bonn, kommentiert die Entscheidung des House of Lords zur EMRK-Widrigkeit einer Sicherungshaft für nicht abschiebbare terrorismusverdächtige Ausländer
„… dem man nichts beweisen kann“: Terrorismus, präventiver Freiheitsentzug und die Rolle des Völkerrechts – unter dieser Überschrift stellt der Autor rechtsvergleichend fest: «Bei aller menschenrechtlichen Fragwürdigkeit, ein „britisches Guantanamo“ sah der Anti-Terrorism, Crime and Security Act von 2001 nicht vor. Was die Häftlinge von Guantanamo Bay sich erst mit dem Urteil des Supreme Court [EuGRZ 2004, 791 m. Anm. Maierhöfer, S. 797] erkämpfen mussten, hatte die britische Regierung den von ihr inhaftierten Terrorismusverdächtigen von vornherein eingeräumt: ein Recht auf gerichtliche Überprüfung ihres Falles. Und dennoch verwarfen die Lordrichter [EuGRZ 2005, 488] die Maßnahmen nicht nur mit größerer Einmütigkeit, sondern auch mit viel größerer Schärfe als ihre amerikanischen Kollegen: Stellen, in denen das Vorgehen der Regierung offen als nicht nur gesetzeswidrig, sondern als den Grundsätzen des Rechtsstaates evident zuwiderlaufend eingeschätzt, ja gar mit den Maßnahmen autoritärer Unterdrückungsregime verglichen wird, sucht man im Gegensatz zu den Voten der Lordrichter in den Entscheidungsgründen des Supreme Court vergeblich. (…)
Das Völkerrecht überlässt den Staaten die Mittel bei seiner Durchsetzung; anders als Völkerrechtsskeptiker – insbesondere in den USA – zu befürchten scheinen, bedroht es nicht die Eigenständigkeit des Nationalstaates und seine Rechtsordnung, sondern macht erst aus einer anarchischen Freiheit der Stärke eine rechtlich garantierte, aber auch gebundene Handlungsfreiheit gleichwertiger Mitglieder einer Völkerrechtsgemeinschaft; greift mithin die Souveränität nicht an, sondern schafft sie als Rechtsinstitut erst.»
Generell betont Maierhöfer: «Gerade unter dem Aspekt der Bestimmtheit der materiellen Inhaftierungsvoraussetzungen ist es deshalb zu begrüßen, wenn sowohl nationale als auch internationale Gerichte immer wieder betont haben, die befürchtete generelle Bereitschaft einer Person, zukünftig Straftaten zu begehen, könne keinenFreiheitsentzug rechtfertigen. Nach Art. 5 Abs. 1 lit. c EMRK zulässige Präventivhaft muss sich vielmehr immer auf konkrete Straftaten beziehen.» (Seite 460)
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR, Große Kammer), Straßburg, verurteilt Türkei im Fall des kurdischen PKK-Anführers Öcalan trotz Verzichts auf Militärrichter und Nichtvollstreckung bzw. Abschaffung der Todesstrafe
Nach dem Kammer-Urteil vom 12. März 2003 [EuGRZ 2003, 472 mit Anm. Breuer, S. 449] war die Große Kammer fast zeitgleich zuerst von Öcalan und dann von der türkischen Regierung angerufen worden.
Die Festnahme des u.a. mit internationalem Haftbefehl von Interpol gesuchten Abdullah Öcalan an Bord eines in Griechenland registrierten Flugzeugs, nachdem er von kenianischen Beamten aus der griechischen Botschaft in Nairobi gelockt und am Flughafen türkischen Sicherheitsbeamten übergeben worden war, wird vom EGMR nicht beanstandet. Die Unabhängigkeit des Staatssicherheitsgerichts Ankara wird trotz frühzeitiger Ersetzung des Militärrichters durch einen Zivilrichter verneint. Die Verhängung der Todesstrafe nach einem, im Sinne der EMRK, nicht fairen Verfahren wird als Verletzung von Art. 3 (Verbot der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung) gewertet, obwohl klar war, dass die Todesstrafe aufgrund eines stabilen Moratoriums nicht vollstreckt würde, und obwohl sie im Hinblick auf das Öcalan-Verfahren durch Änderung der Verfassung und des Strafrechts abgeschafft und im konkreten Fall in eine lebenslange Freiheitsstrafe umgewandelt worden war.
Abgelehnt wurde dagegen der Antrag des Bf., eine Wiederaufnahme des innerstaatlichen Strafverfahrens anzuordnen. Einstimmig entscheidet der EGMR (Große Kammer), dass die Feststellung einer Verletzung der Art. 3, 5 und 6 EMRK als hinreichende gerechte Entschädigung für sämtlichen vom Bf. erlittenen Schaden darstellt. An Ersatz für Verfahrenskosten und Auslagen werden ihm 120.000,– Euro zugesprochen. (Seite 463)
Sondervoten: Richter Garlicki vertritt die Meinung, der EGMR hätte sich über den Wortlaut der Konvention hinwegsetzen und in der Verhängung der Todesstrafe per se eine Verletzung von Art. 3 (Folterverbot) sehen sollen (S. 468).
Die Richter Wildhaber, Costa, Caflisch, Türmen, Garlicki und Borrego Borrego sind der Ansicht, dass die anfängliche Mitwirkung eines Militärrichters, der in einem frühen Verfahrensstadium durch einen Zivilrichter ersetzt wurde, nicht zu beanstanden ist: «Der Bf. wird hier [in Ziff. 116] als Zivilist qualifiziert (oder einem Zivilisten angenähert). Er war indes der Anstiftung zu schweren terroristischen Verbrechen angeklagt, die zu Tausenden Toten geführt haben und von denen er zumindest einen Teil zugegeben hat. Man könnte ihn genauso gut als einen Kriegsherren qualifizieren, und dies relativiert sehr stark die Tatsache, dass er zu Beginn seines Prozesses vor einem Gericht erschienen ist, bei dem einer der drei Mitglieder selbst ein Militär war» (S. 470). Die Richter Costa, Caflisch, Türmen und Borrego Borrego wenden sich dagegen, dass Art. 3 EMRK als verletzt angesehen wird (S. 470).
Marten Breuer, Potsdam, vergleicht in seiner Anmerkung das Öcalan-Urteil der Großen Kammer (17 Richter) mit dem Kammer-Urteil (7 Richter) und kommt zu dem Ergebnis, dass vom Urteilstenor her betrachtet das Kammer-Urteil vollumfänglich bestätigt wurde. Er kritisiert die wenig konsistente territorialbezogene Bankovic|'-Rechtsprechung zum Geltungsbereich der Konvention (s.a. EuGRZ 2003, 449 ff.) und befürwortet die Möglichkeit der Wiederaufnahme von innerstaatlichen Verfahren als effektivsten Weg der Wiedergutmachung. (Seite 471)
EGMR beanstandet die überlange Dauer eines rechtmäßigen Polizeigewahrsams wegen verzögerter richterliche Überprüfung und Freilassung / Epple gegen Deutschland
Zur Durchsetzung eines Verbots von „Chaostagen“ und, um den störungsfreien Verlauf eines Trachtenfests mit erwarteten 3.000 Besuchern, das vom Bayerischen Rundfunk übertragen wurde, auf der Bodensee-Insel Lindau zu sichern, war der mit Punkfrisur geschmückte und notorisch Chaostag erfahrene Bf. von der Polizei mehrfach vergeblich aufgefordert worden, die Insel zu verlassen (Platzverweisung). Er wurde deshalb am 20. Juli 1997 um 18.45 h neben 38 weiteren Personen in Polizeigewahrsam genommen und am folgenden Tag erst um 13.45 h freigelassen, weil das Amtsgericht Lindau für die offensichtlich kritischen Tage keinen Bereitschaftsdienst vorgesehen hatte und der zuständige Richter statt um 10 h erst um 11.30 h zum Dienst erschienen war. (Seite 474)
Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH), Luxemburg, verurteilt Frankreich wegen Missachtung eines früheren Urteils (von 1991) und fortgesetzter permissiver Vernachlässigung der Kontrollpflichten der Fischereibehörden zur Zahlung von Zwangsgeld / Kommission gegen Frankreich
Der EuGH gelangt zu dem Schluss, «dass mangels eines wirksamen Eingreifens der zuständigen nationalen Behörden eine Praxis des Verkaufs untermaßiger Fische fortbestand, die so dauerhaft und verbreitet war, dass sie aufgrund ihrer kumulativen Wirkung die mit der Gemeinschaftsregelung verfolgten Ziele der Erhaltung und Bewirtschaftung der Fischresourcen ernsthaft zu beeinträchtigen vermochte.»
Die Höhe des Zwangsgeldes wird nach drei Kriterien bemessen: Der einheitliche Grundbetrag von 500 Euro wird erstens für die Zahlungsfähigkeit mit einem Koeffizienten von 21,1 multipliziert, der sich aus dem Bruttoinlandsprodukt und der Anzahl der Stimmen im Rat ergibt, zweitens für die Schwere des Verstoßes mit einem Koeffizienten von 10 (auf einer Skala bis 20) und drittens für die Dauer mit einem Koeffizienten von 3 (auf einer Skala bis 3). Das ergibt 316.500,– Euro pro Tag bzw. knapp 57.8 Mio. pro Halbjahr für die Zukunft. Für die Vergangenheit wird ein Pauschalbetrag von 20 Mio. festgesetzt. (Seite 479)
House of Lords, London, qualifiziert präventiven Freiheitsentzug für nicht abschiebbare terrorismusverdächtige Ausländer ohne richterliche Entscheidung als Verletzung von Art. 5 und 14 EMRK / 8:1-Entscheidung der Lords of Appeal
Das Besondere der britischen Regelung nach dem (inzwischen modifizierten) Anti-Terrorism, Crime and Security Act 2001 besteht im Unterschied zur amerikanischen Regelung darin, dass es sich um ein „Gefängnis mit nur drei Wänden“ handelt. Die terrorismusverdächtigen Personen können jederzeit selbst ausreisen, wenn sie ein Land finden, das sie aufnimmt. Sie bleiben inhaftiert, wenn sie im Hinblick auf die EGMR-Rechtsprechung zu Art. 3 EMRK nicht abgeschoben werden, weil ihnen in ihrem Herkunftsland Folter droht.
Von den neun Revisionsführern saßen zum Zeitpunkt der Entscheidung noch fünf in Haft (Belmarsh-Hochsicherheitsgefängnis). Zwei waren ausgereist, ein dritter in die Psychiatrie überstellt und ein vierter freigelassen. (Seite 488)
Der Revision stattgegeben haben Lord Bingham of Cornhill (S. 490), Lord Nicholls of Birkenhead (S. 501), Lord Hoffmann (S. 501), Lord Hope of Craighead (S. 502), Lord Scott of Foscote (S. 504), Lord Rodger of Earlsferry (S. 505), Baroness Hale of Richmond (S. 507), Lord Carswell (S. 508); dagegen votiert hat Lord Walker of Gestingthorpe (S. 506).
Cf. den Aufsatz von Christian Maierhöfer, EuGRZ 2005, 460 (in diesem Heft). Voller Wortlaut der Entscheidung des House of Lords in Human Rights Law Journal (HRLJ) 2004, 428-468.
Schweizerisches Bundesgericht (BGer), Lausanne, erklärt Entzug der Nothilfe wegen ausländerrechtlicher Pflichtwidrigkeiten für verfassungswidrig (Art. 12 BV)
«Mit seinem illegalen Aufenthalt in der Schweiz und der gleichzeitigen Weigerung, auf Beendigung dieses Zustandes hinzuwirken, verhält sich der Beschwerdeführer freilich zweifellos rechtswidrig. Sein Verhalten mag auch provokativ erscheinen und geeignet sein, Anstoss zu erregen. Das erlaubt jedoch nicht, ihn einer Bettelexistenz bzw. dem physischen Verderben auszusetzen.» (Seite 508)
BGer ordnet Anpassung eines nach dem Geschlecht veränderlichen polnischen Familiennamens im Zivilstandsregister an
Ein in der Schweiz geborener Junge muss sich nicht damit abfinden, im Zivilstandsregister mit der weiblichen Namensform seiner unverheirateten Mutter (…lewska) statt mit der männlichen Namensform (…lewski) eingetragen zu sein. Ausschlaggebend ist das Prinzip der Gleichberechtigung von Mann und Frau. (Seite 514)
Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, bestätigt die Entscheidung des Bundespräsidenten als verfassungsgemäß, den Bundestag aufzulösen und vorgezogene Neuwahlen anzusetzen
«Die auflösungsgerichtete Vertrauensfrage [des Bundeskanzlers] ist nur dann gerechtfertigt, wenn die Handlungsfähigkeit einer parlamentarisch verankerten Bundesregierung verloren gegangen ist. Handlungsfähigkeit bedeutet, dass der Bundeskanzler mit politischem Gestaltungswillen die Richtung der Politik bestimmt und hierfür auch eine Mehrheit der Abgeordneten hinter sich weiß. Von Verfassungs wegen ist der Bundeskanzler in einer Situation der zweifelhaften Mehrheit im Bundestag weder zum Rücktritt verpfllichtet noch zu Maßnahmen, mit denen der politische Dissens in der die Regierung tragenden Mehrheit im Parlament offenbar würde. (…)
Eine Erosion und der nicht offen gezeigte Entzug des Vertrauens lassen sich ihrer Natur nach nicht ohne weiteres in einem Gerichtsverfahren darstellen und feststellen. Was im politischen Prozess in legitimer Weise nicht offen ausgetragen wird, muss unter den Bedingungen des politischen Wettbewerbs auch gegenüber anderen Verfassungsorganen nicht vollständig offenbart werden.» (Seite 517)
BVerfG weist Organklage von im Bundestag nicht vertretenen Splitterparteien gegen vorgezogene Neuwahlen als unzulässig ab. (Seite 539)
Parlamentarische Versammlung des Europarats, Straßburg, kritisiert Russland, weil es eine Reihe von Verpflichtungen als Bedingungen für den Beitritt zum Europarat 1996 akzeptiert, aber nicht eingehalten hat. (Seite 543)
BVerfG verfügt im Wege der Einstweiligen Anordnung unverzügliche Freilassung aus der Untersuchungshaft, da ein erloschener Haftbefehl nicht wieder aufleben kann. (Seite 546)