EuGRZ 2006 |
30. November 2006
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33. Jg. Heft 19-21
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Informatorische Zusammenfassung
Peter Häberle, Bayreuth, setzt sich mit neuen Horizonten und Herausforderungen des Konstitutionalismus auseinander
«Generelles Anliegen des Konstitutionalismus ist die Legitimation, Bändigung und Kontrolle von staatlicher, z.T. auch gesellschaftlicher Macht (z.B. Drittwirkung der Grundrechte) auf der Basis eines Grundkonsenses. Die hoheitliche Gewalt soll durch eine verfassende, mehr oder weniger dichte Rahmenordnung, die geschriebene oder ungeschriebene Verfassung, gebunden werden. (…) Prinzipien, Rechte, Grundwerte, Regeln, Ziele bilden ein differenziertes Amalgam.»
Als konkrete Elemente des Konstitutionalismus nennt der Autor beispielhaft Menschenwürde als kulturanthropologische Prämisse des Verfassungsstaates, pluralistische Demokratie als deren organisatorische Konsequenz, Menschenrechte, Gewaltenteilung, Unabhängigkeit der Gerichte, Rule of Law – Rechtsstaat, das Organisationsrecht konstitutioneller Ordnungen. Die kulturellen Entstehungs- und Entwicklungsbedingungen des Konstitutionalismus «müssen mit Hilfe eines angemessenen Theorierahmens aufgeschlüsselt werden».
Zu den Elementen des konstitutionellen Völkerrechts stellt Häberle fest: «Hier ist noch vieles im Werden, mehr Herausforderung als gesichertes Gemeinschaftsrecht. Das Völkerrecht wurde seit langem als typisch „werdendes“ Recht qualifiziert (D. Schindler), die Konstitutionalisierung ist auch ein Stück „Prinzip Hoffnung“ (E. Bloch) in Verbindung mit dem „Prinzip Verantwortung“ (H. Jonas). Da nicht alle Staaten (nicht einmal eine Mehrheit) „Verfassungsstaaten“ sind, ist vieles offen und prekär, umstritten, sogar angefeindet. Doch so wie der Verfassungsstaat nach wie vor ein Utopiequantum braucht (…), so lebt das Völkerrecht von einem konstitutionellen Utopiequantum.» (Seite 533)
Daniel Thym, Berlin, untersucht die Rechtsprechung des EGMR zum Schutz des Privat- und Familienlebens nach Art. 8 EMRK und deren Verhältnis zum nationalen Ausländerrecht
Ob der EGMR ein «Menschenrecht auf Legalisierung des Aufenthalts» entwickelt, lautet die sich in der Quintessenz ergebende und Zweifel begründende Frage.
Beschwerden aus der russophonen Minderheit in Lettland bilden (neben den Fällen Aristimun|~o Mendizabal gegen Frankreich sowie Rodrigues da Silva und Hoogkamer gegen die Niederlande) den Schwerpunkt der besprochenen Urteile (Slivenko, Sisojeva, Kaftailova).
Der Beitrag zeichnet den Wandel des Familienbegriffs in der Rechtsprechung des EGMR nach sowie die wachsende Bedeutung des Rechts auf Privatleben. Er fächert die grundrechtlichen Gewährleistungen des individuellen Aufenthaltsrechts auf (Schutz vor Ausweisung, vor Abschiebung, Familiennachzug) und grenzt das Verhältnis der Konvention zum nationalen Ausländerrecht kritisch ein. (Seite 541)
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Straßburg, wertet Verweigerung eines gesicherten Aufenthaltsrechts für Angehörige der russischsprachigen Minderheit in Lettland als Verletzung des Rechts auf Privatleben aus Art. 8 EMRK / Sisojeva u.a. gegen Lettland
Der 1968 im Alter von 22 Jahren nach Lettland verlegte und im Wendejahr 1989 demobilisierte Soldat der ehemaligen Sowjetarmee Arkady Sisojev ist der Bf. zu 2. Seine Frau und eine Tochter sind die Bf. zu 1. und 3. Als ehemaligen sowjetischen Staatsangehörigen und derzeit Staatenlosen wurde den Bf. 1993 ein unbefristetes Aufenthaltsrecht durch Gerichtsurteil zuerkannt. Nachdem die Bf. sich zum Zweck des Erwerbs der russischen Staatsangehörigkeit mittels alter sowjetischer Pässe in der russischen Stadt Izhevsk mit Zweitwohnsitz hatten registrieren lassen und nachdem dies den lettischen Behörden 1995 bekannt geworden war, widerriefen diese den unbefristeten Aufenthaltstitel und verpflichteten die Bf. nach einem entsprechenden Urteil des Obersten Gerichtshofs im Jahr 2000 zur Ausreise. Der Bf. zu 2. und seine Tochter sind seit 1996 russische Staatsangehörige und verfügen über Reisepässe der Russischen Föderation, seine Ehefrau ist staatenlos.
Der EGMR (1. Sektion) prüft den Fall im Urteil vom 16.6.2005 nicht unter dem Aspekt des Familien-, sondern des Privatlebens: «In Anerkennung des Rechts eines jeden Staates, wirksame Maßnahmen zur Durchsetzung seiner Einwanderungsgesetzgebung zu ergreifen, kommt der Gerichtshof gleichwohl zu dem Schluss, dass Maßnahmen wie diejenigen gegen die Bf. nur durch besonders gefährliche Verhaltensweisen seitens der betroffenen Personen gerechtfertigt werden können. (…)
Angesichts der Gesamtheit der Umstände und insbesondere in Anbetracht der langen Periode der Unsicherheit und der rechtlichen Ungewissheit, mit der die Bf. auf lettischem Staatsgebiet lebten, kommt der Gerichtshof zu dem Schluss, dass die lettischen Behörden den ihnen zustehenden Beurteilungsspielraum überschritten haben, der den Vertragsstaaten in diesem Bereich zukommt, und dass sie keinen angemessenen Ausgleich zwischen dem legitimen Ziel der Aufrechterhaltung der Ordnung und dem Schutz der Rechte der Bf. nach Art. 8 gefunden haben. Es ist daher festzustellen, dass der streitgegenständliche Eingriff nicht „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ war.»
In dem Verhör der Bf. zu 1. durch die lettische Sicherheitspolizei nach einem Interview mit einem russischen Fernsehsender „ORT“ 2002, in dem die Bf. u.a. Korruptionsvorwürfe gegen lettische Beamte erhoben hatte, sieht der EGMR – im Unterschied zu der strikten Rechtsprechung insbesondere in türkischen und russischen Fällen – keine Behinderung des in Art. 34 EMRK garantierten Beschwerderechts. Dies, obwohl die Bf. nach ihren Angaben auch gefragt worden war, woher sie über die Möglichkeit einer Menschenrechtsbeschwerde erfahren und den notwendigen Beistand erhalten habe.
Der Fall ist vor der Großen Kammer anhängig. (Seite 554)
EGMR (Große Kammer, GK) beurteilt die Ausweisung der Familie eines ehemaligen sowjetischen bzw. russischen Armeeangehörigen als Verletzung von Art. 8 EMRK / Slivenko gegen Lettland
Bf. ist nicht der 1994 aus der russischen Armee ausgeschiedene Herr Slivenko, sondern sind seine Frau und seine Tochter. Nach wiederholten Abschiebungsandrohungen, einer vorläufigen Festnahme und nach Erlass eines erneuten Haftbefehls verließ die Familie Slivenko 1999 Lettland und lebt seitdem in Russland. Das Urteil der GK vom 9.10.2003 stellt eine Verletzung des Rechts auf Achtung des Privatlebens und der Wohnung fest. Die 2. Sektion hatte den Fall gem. Art. 30 EMRK an die GK abgegeben. (Seite 560)
EGMR sieht in der Verweigerung des Aufenthaltsrechts für die brasilianische Mutter eines in den Niederlanden geborenen Kindes eine Verletzung des Rechts auf Familienleben / Rodrigues da Silva und Hoogkamer gegen Niederlande
Die Bf. zu 1. kam 1994 im Alter von 24 Jahren in die Niederlande. Aus einer nichtehelichen Verbindung mit einem Niederländer ging 1996 eine Tochter (Bf. 2.) hervor. Diese hat die niederländische Staatsbürgerschaft, da der Vater die Vaterschaft anerkannt hatte. Ein Jahr nach der Geburt zerbrach die Verbindung, doch kümmerten sich sowohl die Eltern des Vaters als auch der Vater selbst und die Mutter, die einer illegalen Arbeit nachging und behördliche Aufforderungen zum Verlassen des Landes ignorierte, gemeinsam um die Tochter.
Nachdem die Bf. zu 1. ihre beiden Söhne aus einer früheren Verbindung in Brasilien hatte nachkommen lassen, ging sie eine weitere nichteheliche Verbindung mit einem Niederländer ein.
Der EGMR (2. Sektion) stellte zunächst fest, dass «Personen, welche die Behörden der Vertragsstaaten mit ihrem Aufenthalt in dem Land als fait accompli konfrontieren, regelmäßig keinerlei Anspruch haben, dass ihnen ein Aufenthaltsrecht zuerkannt werde». Dennoch hielt der EGMR den niederländischen Behörden «übertriebenen Formalismus» vor, da die Bf. während der Verbindung mit dem Vater ihrer Tochter das Aufenthaltsrecht hätte legal erlangen können, und stellte eine Verletzung von Art. 8 EMRK fest. (Seite 560)
Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH), Luxemburg, beanstandet Barrieren im Zulassungsverfahren für EU-ausl. Rechtsanwälte in Luxemburg / Rs. Wilson
Der Kläger des Ausgangsverfahrens ist britischer Staatsangehöriger, Barrister und Mitglied der Honourable Society of Gray's Inn sowie der Anwaltschaft von England und Wales seit 1975. In Luxemburg übt er den Anwaltsberuf seit 1994 aus. Er möchte von der Niederlassungsfreiheit Gebrauch machen, die ihm die Richtlinie 98/5/EG bietet, und beantragte, in die Liste IV der luxemburgischen Anwaltschaft eingetragen zu werden.
Er bestand darauf, die geforderte vorherige Sprachprüfung vor luxemburgischen Anwälten in Anwesenheit eines Anwalts seines Vertrauens abzulegen, was ihm verweigert wurde. Dagegen klagte er vergeblich vor den Standesgerichten und rief die staatlichen Gerichte mit dem Argument an, dass die Standesgerichte nicht unparteiisch seien, da sie in der ersten Instanz ausschließlich und in der zweiten Instanz mehrheitlich mit Rechtsanwälten besetzt seien, die in ihm einen unliebsamen Konkurrenten sehenkönnten, den sie aus eigennützigen Gründen fernhalten möchten.
Auf Vorlage des zweitinstanzlichen Verwaltungsgerichts (Cour administrative) erklärt der EuGH, die streitgegenständlichen Verfahren stünden im Widerspruch zu Art. 9 und 3 RL 98/5/EG. (Seite 565)
EuGH gibt Vertragsverletzungsverfahren wegen Verstoßes gegen RL zur Ausübung des Rechtsanwaltsberufs in einem anderen Mitgliedstaat statt / Kommission gegen Luxemburg
Gegen die RL 98/5/EG verstoßen: (1) Die vorherige Sprachprüfung als Bedingung für die Eintragung in die nationale Anwaltsliste für EU-ausländische Rechtsanwälte, die unter ihrer ursprünglichen Berufsbezeichnung in Luxemburg praktizieren möchten, (2) das Verbot, die Domizilierung von Gesellschaften vorzunehmen, und (3) die Verpflichtung, jährlich wiederkehrend eine Bescheinigung über die fortbestehende Eintragung bei der zuständigen Stelle ihres Herkunftsstaates vorzulegen. (Seite 569)
EuGH präzisiert Bedeutung eines Freispruchs aus Mangel an Beweisen für die Reichweite des Grundsatzes ne bis in idem und die damit verbundenen Kriterien für „dieselbe Tat“ und „abgeurteilte Tat“ i.S.v. Art. 54 SDÜ / Rs. Van Straaten
Art. 54 SDÜ (Schengener Durchführungsübereinkommen) ist dahin auszulegen, «dass für seine Anwendung das Kriterium der Identität der materiellen Tat, verstanden als das Vorhandensein eines Komplexes unlösbar miteinander verbundener Tatsachen, unabhängig von der rechtlichen Qualifizierung dieser Tatsachen oder von dem geschützten rechtlichen Interesse maßgeblich ist».
Bei Drogendelikten ist die Ausfuhr aus einem Staat und die Einfuhr in einen anderen Staat derselben Drogen grundsätzlich als „dieselbe Tat“ zu qualifizieren. Art. 54 SDÜ ist auch bei einem rechtskräftigen Freispruch aus Mangel an Beweisen anzuwenden. (Seite 572)
EuGH bezieht Freispruch wegen Verjährung in den Anwendungsbereich des Art. 54 SDÜ (ne bis in idem) ein / Rs. Gasparini u.a.
Jedoch kann ein Strafgericht eines Vertragsstaates eine Ware (hier: nach Spanien geschmuggeltes Olivenöl) nicht allein deshalb als im „freien Verkehr befindlich“ ansehen, weil das Strafgericht eines anderen Vertragsstaates in Bezug auf dieselbe Ware festgestellt hat, dass der Schmuggel verjährt sei. (Seite 576)
EuGH wertet Günstlingswirtschaft der ehem. EG-Kommissarin Édith Cresson (vorm. französische Premierministerin) als Pflichtwidrigkeit
Bei der von ihr betriebenen Einstellung und in Bezug auf die Beschäftigungsbedingungen eines befreundeten Zahnarztes als „wissenschaftlicher Besucher“ bei der ihr unterstellten Generaldirektion XII hat Frau Cresson ihre Amtspflichten i.S.v. Art. 213 Abs. 2 EG und Art. 126 Abs. 2 EA verletzt.
Allerdings sieht der EuGH bereits in der Feststellung der Pflichtverletzung eine «angemessene Sanktion». Generalanwalt Geelhoed hatte in seinen Schlussanträgen (EuGRZ 2006, 220-232) eine 50-prozentige Kürzung der Pensionsansprüche ex nunc vorgeschlagen. (Seite 579)
Gericht Erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften (EuG), Luxemburg, qualifiziert Durchsuchung von Wohnung und Büro eines Journalisten durch die belgische Justiz wegen Verdachts der Bestechung eines EU-Beamten als nicht der EU-Kommission zurechenbar / Rs. Tillack
Der klagende Journalist, Hans Martin Tillack, hatte am 28. Februar und 7. März 2002 im „Stern“ über Fälle von Unregelmäßigkeiten innerhalb europäischer Institutionen berichtet. Grundlage waren nichtöffentliche Dokumente der EU-Kommission bzw. des dieser zugeordneten Europäischen Amtes für Betrugsbekämpfung (OLAF). (Seite 585)
Schweizerisches Bundesgericht (BGer), Lausanne, festigt Schutz journalistischer Quellen im Strafprozess
«Das Interesse an der Aufklärung des hier in Fragestehenden Tötungsdelikts [Tod nach blutgruppeninkompatibler Herztransplantation] weist nicht das ausserordentliche Gewicht auf, das erlaubte, den Journalisten zur Offenlegung seiner Informationsquellen zu verpflichten.» (Seite 595)
Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, zum Schutz von Privatpersonen ohne hervorgehobene Prominenz
Der Schutz der Privatsphäre entfällt nach eigenem Schritt in die Öffentlichkeit / hier: Liebesbeziehung einer Imbissstand-Betreiberin mit dem Ehemann einer bekannten Schauspielerin. (Seite 599)
BVerfG billigt Verurteilung wegen fahrlässiger Körperverletzung wegen gesundheitsbeeinträchtigender Belästigung eines Nachbarn mit unbestellten Warenlieferungen. (Seite 603)
BVerfG beanstandet polizeiliche Durchsuchung einer Wohnung ohne richterliche Genehmigung in einem Ermittlungsverfahren nach einer Messerstecherei. (Seite 605)
BVerfG sieht Durchsuchung der Kanzlei in einem gegen einen Rechtsanwalt geführten Ordnungswidrigkeiten-Verfahren wegen wiederholten Falschparkens vor dem Gerichtsgebäude als Verletzung von Art. 13 Abs. 1 und 2 GG (Unverletzlichkeit der Wohnung). (Seite 606)
BVerfG stellt schwerwiegenden Eingriff in die räumlich geschützte Sphäre der Berufsausübung eines Rechtsanwalts fest
Nach einem Befangenheitsantrag gegen einen Richter wurde ein Ermittlungsverfahren wegen versuchter Nötigung eröffnet und die Kanzlei durchsucht. (Seite 608)
BVerfG: Abhören von Verteidigergesprächen mit inhaftiertem Mandanten und Durchsuchung der RA-Kanzlei verletzen Art. 12 und 13 GG. (Seite 610)
BVerfG erneut gegen Aufrechterhaltung überlanger Untersuchungshaft –- Fortführung der energischen Kammer-Rechtsprechung. (Seite 612)
EuGH-Präsident Vassilios Skouris für eine zweite Amtszeit wiedergewählt. (Seite 615)
Oberlandesgericht Naumburg – Anklage wegen Rechtsbeugung gegen drei Richter / Weiterungen des Konflikts zwischen BVerfG und OLG Naumburg bei der Umsetzung des Görgülü-Urteils des EGMR. (Seite 615)
EuGH-Schlussanträge – Staatenimmunität auch bei Schadensersatzklagen für Handlungen, die als Verbrechen gegen die Menschlichkeit angesehen werden können. (Seite 616)