EuGRZ 2006 |
28. Dezmeber 2006
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33. Jg. Heft 22-23
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Informatorische Zusammenfassung
«Kriterien der Einschränkung von Grundrechten in der Praxis der Verfassungsgerichtsbarkeit» lautete das Thema der XIII. Konferenz der Europäischen Verfassungsgerichte in Nikosia (15.-19. Mai 2005). Um eine rechtsvergleichende Betrachtungsweise zu erleichtern, orientieren sich die Berichte an einem vorab übermittelten Fragebogen.
Brun-Otto Bryde und Hans-Joachim Jentsch, Karlsruhe – Landesbericht Deutschland
«Zusammengefasst lassen sich in der beschriebenen Schrankensystematik drei wesentliche Gründe finden, aus denen Grundrechte eingeschränkt werden können. Diese sind der Schutz der Rechte anderer, die Sicherung des Bestands und der Funktionsfähigkeit des Staates und die Erfordernisse des Gemeinwohls im Übrigen.»
Der Bericht nimmt auch zu der Verwirkung bestimmter, abschließend aufgezählter, Grundrechte (Art. 18 GG) sowie zum Parteiverbotsverfahren (Art. 21 Abs. 2 GG) Stellung und legt die Vielzahl prozeduraler Sicherungen gegen Missbrauch dar. Außerdem: «Mit dem Parteiverbot ist ein Verbot von Meinungen oder Ideen, oder auch nur ein Verbot, sie zu äußern, nicht verbunden. Das Parteiverbot ist nicht Gedanken-, sondern Organisationsverbot; es will nur verhindern, bestimmte Ziele – nämlich die Beseitigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder die Gefährdung des Bestands der Bundesrepublik Deutschland – in organisierter Form – als Partei – zu verfolgen und sie durch die Wahl von Vertretern solcher Ziele in staatliche Ämter und politische Entscheidungsorgane hineinzutragen.»
Bei den bisher fünf Parteiverbotsanträgen hat das BVerfG in zwei Fällen ein Parteiverbot ausgesprochen: Sozialistische Reichspartei (SRP) 1952 als wesensverwandte Nachfolgeorganisation der NSDAP (BVerfGE 2, 1) und Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) 1956 wegen der angestrebten „Diktatur des Proletariats“ (BVerfGE 5, 85). Das Verfahren gegen die Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) wurde 2003 eingestellt (BVerfGE 107, 339 = EuGRZ 2003, 291). Die Beobachtung der Partei durch V-Leute staatlicher Behörden, die als Mitglieder des Bundesvorstands oder eines Landesvorstands fungierten, sah das BVerfG als nicht behebbares Verfahrenshindernis an.
Im Hinblick auf den EGMR wird hervorgehoben, dass die Nichtberücksichtigung einschlägiger Entscheidungen des EGMR durch die Fachgerichte mit der Verfassungsbeschwerde angegriffen werden kann. (Seite 617)
Gerold Steinmann, Lausanne – Landesbericht Schweiz
«Die [in der EMRK] verbürgten Grundrechte sind ihrer Natur nach verfassungsrechtlichen Inhalts. Daraus hat das Bundesgericht schon in seinem ersten, wenige Monate nach Inkrafttreten der EMRK für die Schweiz ergangenen Urteil [EuGRZ 1975, 351] geschlossen, dass deren Garantien in verfahrensrechtlicher Hinsicht den verfassungsmässigen Rechten gleichzusetzen sind. Das bedeutet, dass sich der Einzelne direkt auf die EMRK berufen und deren Verletzung in der gleichen prozeduralen Weise rügen kann. Dies erlaubt es dem Bundesgericht insbesondere, im Rahmen der staatsrechtlichen Beschwerde kantonale Entscheide und Erlasse auf ihre Vereinbarkeit mit der EMRK zu überprüfen. (…)
Die materiellen Kriterien für die Zulässigkeit von Grundrechtsbeschränkungen sind in Art. 36 BV generell und umfassend beschrieben. Einschränkungen von Freiheitsrechten müssen durch ein öffentliches Interesse oder den Schutz von Grundrechten Dritter gerechtfertigt und verhältnismässig sein; der Kerngehalt der Grundrechte ist unantastbar. (…) Das Fehlen der Voraussetzungen führt nicht zu einer Aufhebung, sondern zur Nichtanwendung der entsprechenden Norm; einzig im Verfahren der abstrakten Normenkontrolle kann das Bundesgericht auf staatsrechtliche Beschwerde hin kantonale Erlasse aufheben. (…)
Darüber hinaus beachtet das Bundesgericht die Schrankenbestimmungen zu den im UNO-Pakt II gewährleisteten Garantien. Schließlich stützt sich das Bundesgericht in seiner Rechtsprechung zum Abkommen zwischen der Schweiz einerseits und der Europäischen Gemeinschaft andererseits über die Freizügigkeit (Freizügigkeitsabkommen) auf die Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) zum Europäischen Gemeinschaftsrecht.» (Seite629)
Hilmar Hoch, Vaduz – Landesbericht Liechtenstein
«Die EMRK-Garantien sind (…) prozessual den innerstaatlichen Grundrechten gleichgestellt. Der Staatsgerichtshof spricht deshalb auch vom „faktischen“ Verfassungsrang der EMRK-Rechte. (…)
Nicht zuletzt unter dem Einfluss der im Jahre 1982 für Liechtenstein in Kraft getretenen EMRK und der bei zahlreichen EMRK-Grundrechten ausdrücklich vorgesehenen materiellen Eingriffskriterien verschärfte auch der Staatsgerichtshof generell die Anforderungen für Grundrechtseingriffe. Die vom Staatsgerichtshof in seiner neueren Rechtsprechung angewandten materiellen Prüfungskriterien für Grundrechtseingriffe entsprechen der schon seit Jahrzehnten in der Schweiz (und ähnlich in Deutschland) etablierten Eingriffsdogmatik. Demnach muss sich ein Grundrechtseingriff zunächst auf eine gesetzliche Grundlage stützen lassen, wobei schwere Grundrechtseingriffe eine klare gesetzliche Grundlage erfordern. Eine Ausnahme bildet nur die polizeiliche Generalklausel, welche dann eine gesetzliche Grundlage ersetzt, wenn eine schwere und unmittelbare Gefahr für Polizeigüter abgewendet werden muss. Zum anderen muss der Eingriff verhältnismässig und im überwiegenden öffentlichen Interesse sein und darf den Kerngehalt des Grundrechts nicht verletzen. Diese Kriterien prüft der Staatsgerichtshof inzwischen bei sämtlichen Grundrechtseingriffen.» (Seite 640)
Herbert Haller, Wien – Landesbericht Österreich
«Zur Einschränkung von Grundrechten verfolgte der Verfassungsgerichtshof ursprünglich eine sehr zurückhaltende Linie im Sinne eines „judicial self restraint“. Nur selten wurden gesetzliche Bestimmungen mit der Begründung aufgehoben, dass sie ein Grundrecht verletzt hätten. Vor etwa 30 Jahren verließ der Gerichtshof den Standpunkt, dass die Gesetzesvorbehalte weitgehende Freiheit zur Beschränkung der Grundrechte einräumen. Er übernahm Auslegungsmethoden, die schon vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte angewendet wurden und die zu einer stärkeren inhaltlichen Kontrolle führten. An die Stelle einer weitreichenden Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers trat der strenge Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Prüfungsmaßstab bei der Beurteilung, ob ein Grundrechtseingriff durch ein Gesetz zulässig sei oder nicht. (…)
Ob Akte der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Grundrechte eingreifen, unterliegt der Kontrolle des Obersten Gerichtshofes, die Kontrolle über Bescheide ist dem Verfassungsgerichtshof übertragen.» (Seite 644)
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Straßburg, sieht ungewöhnlich lange U-Haft von fünfeinhalb Jahren durch außergewöhnliche Umstände gerechtfertigt / Chraidi gegen Deutschland
Wegen Mordes in drei und versuchten Mordes in 104 Fällen hatte das Landgericht Berlin den Beschwerdeführer am 13.11.2001 zu einer Freiheitsstrafe von 14 Jahren verurteilt. Bei der Straffestsetzung hatte es die lange Dauer der Untersuchungshaft berücksichtigt und nach einem bestimmten Schlüssel auf die Strafhaft angerechnet.
Der Bf. ist libanesischer Nationalität und war am Bombenanschlag auf die vorwiegend von amerikanischen Soldaten besuchte Diskothek „La Belle“ in West-Berlin am 5.4.1986 beteiligt. Der Sprengstoff war zuvor in der syrischen Botschaft in Ost-Berlin (DDR) zwischengelagert worden.
Der EGMR stellt fest, das LG Berlin habe das besonders komplexe Verfahren «mit der gebotenen besonderen Zügigkeit geführt». An den 281 Verhandlungsterminen (zwei pro Woche mit einer durchschnittlichen Dauer von fünf Stunden) nahmen regelmäßig die fünf Angeklagten, ihre 15 Rechtsanwälte, 106 Nebenkläger, deren 29 Rechtsanwälte sowie drei Dolmetscher teil. (Seite 648)
Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH), Luxemburg, wertet Erfordernis eines inländischen Wohnsitzes für Leistungsanträge ziviler Kriegsopfer als Verstoß gegen das Freizügigkeitsrecht von Unionsbürgern / Rs. Tas-Hagen
Die Kläger des Ausgangsverfahrens (Frau Tas-Hagen und Herr Tas) wurden im ehemaligen Niederländisch-Indien geboren, lebten seit 1954 bzw. 1947 in den Niederlanden, sind niederländische Staatsangehörige und haben bis zu ihrer Arbeitsunfähigkeit in den Niederlanden gearbeitet. Danach sind beide 1987 nach Spanien gezogen. (Seite 652)
Gericht erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften (EuG), Luxemburg, erklärt Beschluss 2005/930/EG des Rates, die klagende Organisation auf die Terroristen-Liste zu setzen und deren Gelder einzufrieren, für nichtig / Rs. Volksmudschaheddin des Iran
Das EuG besteht auf effektivem Rechtsschutz. Es akzeptiert, dass beim Erlass eines Ausgangsbeschlusses über das Einfrieren von Geldern zur Terrorismus-Bekämpfung ein gewisser Überraschungseffekt geboten ist. Dies gilt jedoch nicht für die Folgebeschlüsse nach der vorgeschriebenen halbjährlichen Überprüfung über die Verlängerung der Maßnahme. Zur Wahrung der Verteidigungsrechte müssen die spezifischen und konkreten Gründe mitgeteilt werden. (Seite 655)
Schweizerisches Bundesgericht (BGer), Lausanne, bestätigt dreimonatige Wegweisungs- und Fernhalteverfügungen zur Vermeidung von belästigenden „Saufgelagen“ im Innenbereich des Berner Hauptbahnhofs
«Über die unmittelbare Störung durch Abfall und Unrat sowie den großen Lärm hinaus können entsprechende Begebenheiten Verunsicherung oder Angstgefühle hervorrufen und die Passanten zu einem Ausweichen, einem Umweg oder gar zur Benützung eines anderen Bahnhofszugangs veranlassen. All dies wirkt sich unmittelbar auf die öffentliche Ordnung und Sicherheit aus.» (Seite 673)
BGer erkennt im Bundesamt für Justiz falschen Adressaten für Auskunftsersuchen über Vorliegen eines internationalen Haftbefehls gegen Asylantin
In der Entscheidung werden Hinweise zu einem zielführenden Vorgehen bei der allgemein zugänglichen Kontrollkommission für Interpol-Dateien gegeben. (Seite 679)
BGer betont die Bindung des Richters an die vom Bundesstrafrecht vorgesehene Strafbarkeit des Cannabiskonsums
Die verhängte Jugendstrafe (Verweis) verletzt weder das Recht auf Achtung des Privatlebens noch das Diskriminierungsverbot (Art. 8 und 14 EMRK). (Seite 682)
Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, unterstreicht Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes und Pflicht der Fachgerichte zur Berücksichtigung der Entscheidungen internationaler Gerichte wie EGMR und IGH
Konkret geht es um die unterlassene Belehrung ausländischer Beschuldigter über das Recht auf konsularische Unterstützung (Art. 36 WÜK). Die deutschen Gerichte hätten die Belehrungspflicht erst recht beachten müssen, nachdem der Internationale Gerichtshof (IGH, Den Haag) in den Fällen LaGrand (Deutschland gegen USA) und Avena (Mexiko gegen USA) den subjektiv-rechtlichen Charakter der Belehrungspflicht hervorgehoben hat.
Wörtlich: «(…) muss der Auslegung eines völkerrechtlichen Vertrags durch den Internationalen Gerichtshof über den entschiedenen Einzelfall hinaus eine normative Leitfunktion beigemessen werden». (Seite 684)
BVerfG kritisiert vorschnelle Anordnung empfindlicher steuerstrafrechtlicher Zwangsmaßnahmen auf unzureichender Verdachtsgrundlage
Der Betriebsprüfer des Finanzamtes hatte es unterlassen, die wahrheitsgemäße Auskunft eines Einzelkaufmanns über die Herkunft bestimmter Geldbeträge (Darlehen seines Schwiegervaters, der zwei Häuser verkauft hatte) auf dem schonenden, aber etwas mühevolleren Weg über die Einsicht in Grundbuchakten, Bankauskünfte, Zeugenvernehmungen usw. zu überprüfen. Vielmehr erwirkte er beim Amtsgericht einen Durchsuchungsbefehl für die Wohnung des Bf., außerdem Durchsuchungsbefehle für die Geschäftsräume von Steuerberatern des Bf. und ließ Unterlagen bei mehreren Banken des Bf. beschlagnahmen. (Seite 693)
BVerfG stärkt Datenschutz im privaten Versicherungsrecht, insbesondere informationellen Selbstschutz gegen Vertragsklausel mit genereller Schweigepflichtentbindung von Ärzten, Krankenhäusern, Pflegepersonal
Im Hinblick auf die streitige Berufsunfähigkeits-Zusatzversicherung stellt das BVerfG fest: «Eine (…) einseitige Bestimmungsmacht eines Vertragspartners kann sich auch daraus ergeben, dass die von dem überlegenen Vertragspartner angebotene Leistung für den anderen Partner zur Sicherung seiner persönlichen Lebensverhältnisse von so erheblicher Bedeutung ist, dass die denkbare Alternative, zur Vermeidung einer zu weitgehenden Preisgabe persönlicher Informationen von einem Vertragsschluss ganz abzusehen, für ihn unzumutbar ist.» (Seite 695)
BVerfG beanstandet unverhältnismäßigen Haftbefehl bei nicht absehbarer Hauptverhandlung
Das Verfahren wegen des Vorwurfs der uneidlichen Falschaussage endete für die angeklagte Mutter einer 14jährigen Tochter nach 10 Tagen U-Haft mit Freispruch. (Seite 700)
Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Leipzig, sieht in der Beschränkung der allgemeinen Wehrpflicht auf Männer nach Art. 12a GG keine Verletzung des Diskriminierungsverbots in Art. 14 EMRK. (Seite702)
EGMR wählt den französischen Richter Jean-Paul Costa zu seinem neuen Präsidenten. Er ist Nachfolger des am 18. Januar 2007 wegen Erreichens der Altersgrenze von 70 Jahren ausscheidenden Luzius Wildhaber. (Seite 704)
Staatsduma, Moskau, blockiert organisatorische Entlastung des EGMR. Ratifizierung des Änderungsprotokolls Nr. 14 zur EMRK wurde am 22.12.2006 vom russischen Parlament (450 Abgeordnete) mit 138 zu 27 Stimmen abgelehnt. (Seite 704)
Bundesministerium der Justiz, Berlin, berichtet über EGMR-Verfahren gegen Deutschland im Jahr 2005. (Seite 705)
EuGH-Generalanwalt Ruiz-Jarabo Colomer widerspricht den formellen wie materiellen Zweifeln des belgischen Verfassungsgerichts (Arbitragehof) an der Vertragskonformität des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl. (Seite 711)
EuGH-Generalanwältin Kokott erachtet Klage der PKK gegen Nennung auf Liste terroristischer Vereinigungen für zulässig. (Seite 726)