EuGRZ 2008 |
10. Dezember 2008
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35. Jg. Heft 19-21
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Informatorische Zusammenfassung
Wolfgang Hoffmann-Riem, Hamburg, zieht die Summe seiner verfassungsrichterlichen Erfahrungen und Erwartungen: „Das Bundesverfassungsgericht als Garant der Rechtsstaatlichkeit“
«Verfassungsrecht ist trotz vieler bindender Vorgaben per se politisches Recht und in den Konfliktfällen sind meist noch nicht vorentschiedene Fragen zu beantworten, die in ein Netzwerk von unterschiedlichen Interessen eingewoben sind, das zu entwirren einem Kollegium von acht Richtern anvertraut ist. (…) Die Pluralität der Zusammensetzung ist gepaart mit dem Auftrag an diese acht – meist eigenwilligen und in der Fähigkeit zur Durchsetzung geschulten – Persönlichkeiten, eine Lösung praktischer Konkordanz zu finden und das möglichst im Konsens und unter Berücksichtigung möglicher Folgen.»
Der Einblick in den «strategischen Umgang der Prominenten mit der Öffentlichkeit bei der selektiven Vermarktung ihrer Prominenz» habe dem BVerfG auch «die Chance gegeben, aus Anlass der Caroline II-Entscheidung von Anfang 2008 zu verdeutlichen, dass das – in seiner Argumentationskraft durchaus defizitäre – Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu der Caroline-Entscheidung aus dem Jahre 1999 – also vor meiner Zeit – entgegen dem Aufschrei eines Teils der Presse und Wissenschaft kein dramatisches, für neutrale Dritte nachvollziehbares Konfliktpotenzial für die Zukunft enthält und erst recht nicht das Ende der Pressefreiheit bedeutet».
Im Zusammenhang mit Strukturentscheidungen im Medienbereich kritisiert der Beitrag das «Missverständnis der Kommission der EU, Medien in erster Linie als Wirtschaftsfaktoren zu behandeln und ihre kulturelle Dimension zum Appendix verkümmern zu lassen».
Zum Konfliktfeld Sicherheit und Freiheit betont Hoffmann-Riem: «Wollen Regierung und Parlament die Freiheit der Bürger im Interesse ihrer Sicherheit einschränken, haben sie eine Bringschuld, dass der Eingriff in die Freiheit durch einen hinreichenden Gewinn an Sicherheit aufgewogen wird, und zwar nicht nur einen Gewinn an irgendeiner Sicherheit, sondern an einer, die Voraussetzungen dafür schafft, dass die Menschen in Freiheit leben können. Ich sehe nicht, dass die Politik zurzeit bereit ist, dieser Bringschuld hinreichend in einer für eine rationalitätsorientierte Diskussion tauglichen Weise nachzukommen.» (Seite 557)
Hans-Joachim Cremer, Mannheim, kommentiert ein komplexes Urteil des EGMR: «Freiheitsentzug und Zwangsbehandlung in einer Privatklinik, Rechtskraftdurchbrechung und (mittelbare) Drittwirkung der EMRK»
Den facettenreichen Fall Waltraut Storck gegen Deutschland (s.u. S. 582) schlüsselt der Autor in einer kritischen Schritt-für-Schritt-Analyse auf und kommt u.a. zu folgendem Schluss:
«Mit Blick auf das Verfahrensrecht des EGMR vermag die Wiedereröffnung des Verfahrens einer durch endgültige Entscheidung eines Dreier-Ausschusses für unzulässig erklärten Beschwerde nicht zu überzeugen; menschlich ist sie verständlich und für die Bf. ein Glücksfall.
Materiellrechtlich veranschaulicht das Urteil zunächst drei Formen der Verantwortlichkeit der Vertragsstaaten für Konventionsverletzungen: die unmittelbare Beteiligung an Freiheitsverletzungen, den Verstoß gegen Schutzpflichten und das Versäumnis der konventionskonformen Auslegung innerstaatlichen Rechts. Das Gebot zur EMRK-konformen Handhabung nationaler Normen erweist sich im Bereich des Privatrechts als Ausfluss der Anerkennung von „positive obligations“; Drittwirkung und Schutzpflichten sind miteinander verwoben. (…)
Der beklagenswerte Fall von Frau Storck mag als extrem und außergewöhnlich erscheinen. Die Ausführungen, welche das Urteil des Gerichtshofs in ihrem Fall zur Auslegung von Art. 5 und Art. 8 EMRK macht, tragen aber weit. Denn der Anteil der alters- und krankheitsbedingt pflegebedürftigen Menschen an unserer Bevölkerung wächst stetig. Das Problem des Wegbrechens der Willens- oder Einwilligungsfähigkeit von Patienten, die auf eigenen Wunsch untergebracht sind, so zu lösen, wie Art. 5 und Art. 8 es erfordern, ist nicht nur eine Frage der Menschenrechtskonformität unserer Rechtsordnung, sondern eine immer dringendere Frage der Menschlichkeit unserer Gesellschaft.» (Seite 562)
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Straßburg, nimmt im Wege der Selbstkorrektur ein Verfahren trotz einer früheren Unzulässigkeitsentscheidung wieder auf / Storck gegen Deutschland
In der Sache stellt der Gerichtshof bei einer zwangsweisen Unterbringung der Bf. auf Betreiben ihres Vaters in einer psychiatrischen Klinik von Juli 1977 bis April 1979 in Bremen Verletzung von Art. 5 Abs. 1 und Art. 8 EMRK fest.
Zwischen der Bf. und ihren Eltern hatten schwere Konflikte bestanden, aufgrund deren ihr Vater annahm, sie leide an einer Psychose; die Mutter der Bf. litt an einer paranoid-halluzinatorischen Psychose. Insgesamt verbrachte die Bf. von ihrem 15. Lebensjahr an 20 Jahre ihres Lebens in verschiedenen psychiatrischen Einrichtungen oder anderen Kliniken. Sie ist zu 100 % schwerbehindert und bezieht eine Erwerbsunfähigkeitsrente.
Zur Wiederaufnahme wiederholt der EGMR die Argumentation aus einer früheren Entscheidung: «Der Gerichtshof räumt ein, dass weder die Konvention noch die Verfahrensordnung des Gerichtshofs eine Wiederaufnahme des Verfahrens vor dem Gerichtshof vorsehen (…). Dennoch hat der Gerichtshof unter außergewöhnlichen Umständen, wenn ein offenkundiger Tatsachenirrtum oder Fehler bei der Bewertung der einschlägigen Zulässigkeitsvoraussetzungen vorliegt, im Interesse der Rechtspflege die Befugnis, einen für unzulässig erklärten Fallwieder aufzunehmen und die Irrtümer richtigzustellen (…). Der Einwand der Regierung ist daher zurückzuweisen.»
Zur Begründetheit spricht der EGMR aus, dass für den Zeitraum Juli 1977 bis April 1979 die Rechte der Bf. aus Art. 5 Abs. 1 und Art. 8 verletzt wurden. Zu Art. 5 EMRK stellt der EGMR fest, «dass es zwischen den Parteien nicht strittig ist, dass die Unterbringung der Bf. in einer privaten Klinik in Bremen weder durch gerichtlichen Beschluss noch durch Beschluss einer anderen staatlichen Stelle genehmigt worden ist. Ebenso bestand zumindest zur entscheidungserheblichen Zeit kein Mechanismus zur behördlichen Kontrolle der Rechtmäßigkeit und Bedingungen der Unterbringung von in der genannten Klinik behandelten Personen». Daraus ergibt sich unter diesen besonderen Umständen die «positive Pflicht» des Staates, die Bürger auch vor Eingriffen in ihre Freiheit durch Private zu schützen.
Zum Recht auf Achtung des Privatlebens führt der EGMR aus, «dass auch eine leichte Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit einer Person als Eingriff in das Recht auf Achtung des Privatlebens nach Art. 8 anzusehen ist, wenn er gegen den Willen der betreffenden Person erfolgt». Gegenüber der Annahme des OLG in Bremen, die damals inzwischen volljährige Bf. habe in die gerügte Klinikunterbringung eingewilligt, stellt der EGMR fest, dass die Bf. nach mehreren Fluchtversuchen gefesselt wurde und nach einem gelungenen Fluchtversuch von der Polizei zwangsweise zurückgebracht wurde. Eine richterliche Prüfung der Freiheitsentziehung oder auch nur eine behördliche Überprüfung der Verhältnisse hatte nicht stattgefunden. (Seite 582)
Zum vorstehenden Urteil cf. den Aufsatz von Hans-Joachim Cremer, EuGRZ 2008, 562-581 (in diesem Heft).
EGMR billigt, dass ehemalige KZ-Gefangene zur Entschädigung für die in privaten Firmen geleistete Zwangsarbeit auf die Zahlungen aus dem durch Stiftungsgesetz errichteten Fonds „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ verwiesen werden / Poznanski u.a. gegen Deutschland
Der Gerichtshof hatte sich zunächst mit der Aktivlegitimation in Bezug auf einen der vier Bf. zu befassen und führte dazu aus:
«Im Hinblick auf die mit „David Handwohl“ unterschriebene Vollmacht vom 15. August 2005, die am 1. September 2005 beim Gerichtshof eingereicht wurde, stellt der Gerichtshof fest, dass Herr Handwohl verstarb, bevor diese Vollmacht unterschrieben wurde. Der Gerichtshof kommt zu dem Ergebnis, dass diese Vollmacht eine Fälschung sein muss.» (…) «Obwohl unklar ist, wer die Unterschrift gefälscht hat, (…) wurde der Gerichtshof durch diese Vollmacht dennoch getäuscht. (…) Der Gerichtshof stellt daher fest, dass dieses Verhalten auch einen Missbrauch des Beschwerderechts i.S.v. Art. 35 Abs. 3 der Konvention darstellt.» Diese Beschwerde wurde folglich als unzulässig zurückgewiesen.
Materiellrechtlich war zu prüfen, ob die Abweisung der Schadensersatzklagen der drei anderen Bf. durch die deutschen Gerichte eine Verletzung des Rechts auf Eigentum gem. Art. 1 des 1. ZP-EMRK darstellte.
Die Regierung bestätigt, dass es vor Inkrafttreten des Stiftungsgesetzes im Jahr 2002 kein Entschädigungsprogramm für Zwangsarbeit an sich gegeben hat. Zwar gab es frühere Zahlungen an die Bf., diese waren jedoch nicht in Bezug auf die Zwangsarbeit geleistet worden, sondern allein wegen der Inhaftierung in einem Konzentrationslager und wegen der daraus resultierenden Gesundheitsschäden. Einzige Ausnahme sei der sog. Wollheim-Vergleich gewesen, nach dem die I.G. Farben 30 Mio. DM an ehemalige Zwangsarbeiter gezahlt und sich auch deshalb nicht an der mit 10 Mrd. DM (5,11 Mrd. Euro) ausgestatteten Stiftung beteiligt habe.
Der EGMR gelangt zu dem Ergebnis: «Verglichen mit ihren jeweiligen Klagen vor Gericht, die sie verloren, konnten die Bf. an dem Entschädigungsprogramm, das aufgrund des Stiftungsgesetzes für ehemalige Zwangsarbeiter eingerichtet worden war, teilnehmen. Diese Teilnahme führte dazu, dass jeder Bf. den im Rahmen des Programms zur Verfügung stehenden Höchstbetrag, nämlich 7.669,– Euro, erhielt. Es ist zutreffend, dass, wie die Bf. betonen, die zivilrechtlichen Ansprüche gegen die I.G. Farben erheblich höher waren als dieser Betrag, nämlich zwischen 20.452,– und 35.790,– Euro. Wie jedoch bereits oben ausgeführt wurde, erhoben die Bf. ihre Ansprüche vor dem Hintergrund einer gefestigten Rechtsprechung, nach der die Ansprüche verjährt waren; überdies muss davon ausgegangen werden, dass der Wert der Ansprüche erheblich geringer war als die geltend gemachten Beträge. Darüber hinaus wurden die Entschädigungszahlungen aus dem Fonds mit einem Minimum an Formalitäten und verhältnismäßig zügig geleistet, wohingegen strittige zivilrechtliche Klagen hätten langwierig sein können und daher mit den üblichen Risiken von Zivilrechtsstreitigkeiten belastet gewesen wären.»
Der EGMR wertet das als „gerechten Ausgleich“ zwischen dem Schutz des Eigentums und den Erfordernissen des Allgemeininteresses i.S.v. Art. 1 Abs. 2 des 1. ZP-EMRK und weist die Beschwerden als unzulässig, weil offensichtlich unbegründet, zurück. (Seite 599)
Zur Zwangsarbeit von KZ-Gefangenen bzw. konkret zum Fall Poznanski u.a. vor dem BVerfG s.a. Hoffmann-Riem in diesem Heft S. 557 (558 f., III).
Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH), Luxemburg, sieht in einem konkreten Fall möglicher Altersdiskriminierung keinen gemeinschaftsrechtlichen Bezug / Rs. Bartsch
Im Ausgangsverfahren geht es um die Regelung einer betrieblichen Altersversorgung der Fa. Bosch und Siemens Hausgeräte (BSH) Altersfürsorge G.m.b.H., derzufolge Leistungen ausgeschlossen sind, wenn die Witwe / der Witwer über fünfzehn Jahre jünger als der ehemalige Mitarbeiter ist.
Auf die Vorlage des Bundesarbeitsgerichts antwortet der EuGH: «Ein (…) gemeinschaftsrechtlicher Bezug wird weder durch Art. 13 EG hergestellt noch – unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens – durch die Richtlinie 2000/78/EG vor Ablauf der dem betreffenden Mitgliedstaat für die Umsetzung dieser Richtlinie gesetzten Frist.» (Seite 605)
EuGH präzisiert Begriffe „Aufenthalt“ und „Wohnsitz“ im Zusammenhang mit Ablehnungsgründen bei der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls / Rs. Kozłowski
Konkret geht es um die Vollstreckung eines polnischen Europäischen Haftbefehls gegen einen polnischen Staatsbürger, der in Deutschland eine Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verbüßt, zu der er im Juli 2006 und Januar 2007 wegen Betruges in 61 Fällen vom Amtsgericht Stuttgart verurteilt wurde.
Auf Vorlage des OLG Stuttgart stellt der EuGH fest, «dass eine Person wie der im Ausgangsverfahren Betroffene im Hinblick auf mehrere der Kriterien, die das vorlegende Gericht für die Kennzeichnung der Situation dieser Person anführt, insbesondere die Dauer, die Art und die Bedingungen ihres Verweilens sowie fehlende familiäre und sehr schwache wirtschaftliche Bindungen zum Vollstreckungsmitgliedstaat, nicht als unter den Begriff „sich aufhält“ im Sinne des Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses fallend angesehen werden kann». (Seite 607)
EuGH bestätigt Aufenthaltsrecht von Drittstaatsangehörigen mit EU-ausländischen Ehefrauen (Unionsbürgerinnen) in Irland / Rs. Metock u.a.
Anspruchsgrundlage ist die Richtlinie 2004/38/EG: «Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 ist dahin gehend auszulegen, dass sich ein Drittstaatsangehöriger, der der Ehegatte eines Unionsbürgers, der sich in einem Mitgliedstaat aufhält, dessen Staatsangehörigkeit er nicht besitzt, ist und diesen Unionsbürger begleitet oder ihm nachzieht, auf die Bestimmungen dieser Richtlinie unabhängig davon berufen kann, wann oder wo ihre Ehe geschlossen wurde oder wie der betreffende Drittstaatsangehörige in den Aufnahmemitgliedstaat eingereist ist».In der Begründung des Urteils erinnert der EuGH daran, dass alle Mitgliedstaaten der EU auch Vertragsparteien der EMRK sind, in deren Art. 8 das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verankert ist. (Seite 612)
Schweizerisches Bundesgericht (BGer), Luzern, unterstreicht die Begrenzung der Kostenübernahme durch die Invalidenversicherung für behinderungsgerechte Anpassungen an zweiter Wohnung als nichtdiskriminierend
Das bei der Mutter wohnende paraplegische Kind hat Anspruch darauf, dass die Invalidenversicherung sich auch an den Kosten der Anpassung am Wohnhaus des getrennt lebenden Vaters beteiligt, wenn ohne behinderungsgerechten Umbau der grundrechtlich geschützte Aufenthalt beim Vater völlig verunmöglicht würde. Da es sich um die zweite vom Versicherten benutzte Wohnung handelt, besteht nur Anspruch auf Anpassung in einfachster Ausführung, welche unter Berücksichtigung der dem Vater zumutbaren Hilfestellungen den Aufenthalt im Haus gerade noch ermöglicht. (Seite 618)
Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, beanstandet erneut überlange Untersuchungshaft
Die 2. Kammer des Zweiten Senats führt ihre Rechtsprechung zur Zügigkeit des Strafverfahrens und zum Beschleunigungsgebot in Haftsachen fort. Der Bf. war am 4. September 2007 vom Amtsgericht Würzburg wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in zwei tateinheitlichen Fällen zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und vier Monaten verurteilt worden und befand sich bei Einlegung der Verfassungsbeschwerde über 16 Monate in U-Haft.
In der Entscheidung heißt es: «Bei der Anordnung und Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft ist das Spannungsverhältnis zwischen dem in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleisteten Recht des Einzelnen auf persönliche Freiheit und den unabweisbaren Bedürfnissen einer wirksamen Strafverfolgung zu beachten. Grundsätzlich darf im Rechtsstaat nur einem rechtskräftig Verurteilten vollständig die Freiheit entzogen werden. Der Freiheitsentzug eines der Straftat lediglich Verdächtigen ist wegen der Unschuldsvermutung, die ihre Wurzel im Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG hat und auch in Art. 6 Abs. 2 EMRK ausdrücklich hervorgehoben ist (…), nur ausnahmsweise zulässig.» (Seite 621)
BVerfG billigt Untersagung der Nebentätigkeit für eine private Buch-Veröffentlichung über dienstlich ergebnislos geführte staatsanwaltliche Ermittlungen im Fall Barschel
Als Buchautor wollte der zuständige Leitende Oberstaatsanwalt zum Tod des ehemaligen schleswig-holsteinischen Ministerpräsidenten Uwe Barschel eine Mord-These vertreten. In der Presseerklärung zu der am 2. Juni 1998 erfolgten Einstellung des Ermittlungsverfahrens hatte der Bf. nicht nur Anhaltspunkte für ein Kapitalverbrechen, sondern auch die Möglichkeit eines Selbstmordes genannt. In dieser Diskrepanz zwischen dem amtlichen Ermittlungsergebnis und der privaten Meinungsäußerung des Beamten sah der Generalstaatsanwalt die Gefahr einer „erheblichen Beeinträchtigung des Vertrauens der Öffentlichkeit in die Justiz“.
Das Buch sollte zum 20jährigen Todestag Barschels am 11. Oktober 2007 erscheinen. Die vom Generalstaatsanwalt angebotene Veröffentlichung als Dokumentation in der Schriftenreihe der Behörde hatte der Bf. abgelehnt.
Das BVerfG führt aus: «Das Grundrecht der freien Meinungsäußerung ist bei Beamten nur insoweit gewährleistet, als es nicht unvereinbar ist mit dem in Art. 33 Abs. 5 GG verankerten und für die Erhaltung eines funktionsfähigen Berufsbeamtentums unerlässlichen Pflichtenkreis.» (Seite 625)
BVerfG betont striktes Analogieverbot im Strafrecht / hier: PKW ist keine „Waffe“ i.S.v. § 113 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 StGB
Das BVerfG stellt fest: «Insbesondere das Argument, dass die Gefährlichkeit der Tatausführung beim Einsatz von Waffen im „nichttechnischen Sinn“ und speziell von Kraftfahrzeugen derjenigen beim Einsatz von Waffen im engeren Sinne gleichstehe (…), geht fehl. Es ist gerade der Sinn des Analogieverbots, über die Verfassungsgrundsätze der Demokratie, der Gewaltenteilung und der richterlichen Gesetzesbindung hinaus (…) einer teleologischen Argumentation zur Füllung empfundener Strafbarkeitslücken entgegenzuwirken.»
Der Bf. hatte sich einer Verkehrskontrolle durch Flucht entziehen wollen und dabei einen der kontrollierenden Beamten zweimal mit seinem Fahrzeug mehrere Meter mitgeschleift. (Seite 627)
BVerfG verneint Verletzung des Rückwirkungsverbots und des Gleichheitsgrundsatzes bei Verurteilung trotz einer kurzzeitigen Ahndungslücke
Es geht um die Verurteilung zu einer Geldbuße von 210,– Euro wegen Überschreitens der LKW-Tageslenkzeiten, die vor einer dreimonatigen (April bis Juli 2007) bestehenden Ahndungslücke begangen wurde, und mittelbar um die Verfassungsmäßigkeit von § 8 Abs. 3 Fahrpersonalgesetz (FPersG), der die Ahndungslücke schließt.
In der Begründung heißt es u.a.: «Ausweislich der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung zum Gesetzentwurf soll mit § 8 Abs. 3 FPersG eine ungerechtfertigte Straflosigkeit vermieden werden (vgl. BTDrucks 16/5238, S. 8), mithin ein gesetzgeberisch nicht gewollter Zustand beseitigt werden. Dies stellt eine ausreichende sachliche Erwägung dar, so dass das Willkürverbot durch den Gesetzgeber nicht verletzt worden ist.» (Seite 631)
BVerfG bekräftigt die Pflicht eines letztinstanzlichen Fachgerichts zur Vorlage an den EuGH bei unklarer Rechtslage
Die 3. Kammer des Zweiten Senats erinnert an den folgenden Grundsatz: «Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften ist gesetzlicher Richter im Sinne des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG (…). Diesem gesetzlichen Richter kann ein Beteiligter dadurch entzogen werden, dass das mit der Sache befasste Gericht der Pflicht zur Vorlage gemäß Art. 234 Abs. 3 EG nicht nachkommt.»
Der Bf. ist türkischer Staatsangehöriger und wurde vom AG Mönchengladbach u.a. wegen gewerbsmäßigen Drogenhandels zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten verurteilt. Die Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis wurde ihm daraufhin von der Bürgermeisterin der Stadt Viersen versagt, die dem Bf. die Abschiebung androhte und ihn auswies. Vor dem VG Düsseldorf und dem OVG für Nordrhein-Westfalen berief er sich erfolglos unter Hinweis auf die Unionsbürger-RL 2004/38/EG darauf, er könne als „assoziations-freizügigkeitsberechtigter türkischer Staatsbürger“ nicht ausgewiesen werden.
Hierzu erklärt das BVerfG: «Die Frage, wie der Begriff der öffentlichen Sicherheit in Art. 28 Abs. 3 der Unionsbürgerrichtlinie auszulegen ist, insbesondere, ob damit – wie in dem Antrag auf Zulassung der Berufung vorgetragen – unter Ausschluss gemeinkrimineller Akte allein die Sicherheit des Staates gemeint ist, war (und ist) ungeklärt.» (Seite 633)
BVerfG bestätigt die grundsätzliche Verfassungsmäßigkeit der nachträglichen Anordnung der Sicherungsverwahrung gem. § 66b Abs. 1 Satz 2 StGB, beanstandet jedoch die Art der Anwendung im konkreten Einzelfall
Grundsätzlich heißt es: «Durch den Aspekt ihrer Gegenwärtigkeit hebt sich die zu prognostizierende Gefährlichkeit von einer allgemeinen Rückfallwahrscheinlichkeit ab (…); erst recht würde es dem hohen Wert des Freiheitsgrundrechts widersprechen, wenn die Gerichte die nachträgliche Sicherungsverwahrung bereits dann anordnen könnten, wenn lediglich die Ungefährlichkeit des Betroffenen nicht positiv feststeht.»
Der Bf. war wegen Vergewaltigung und sexuellen Missbrauchs eines Kindes 1993 verurteilt worden. Das Urteil, mit dem das LG Leipzig 2008 die nachträgliche Sicherungsverwahrung angeordnet hatte, wurde nochvor der Karlsruher Entscheidung wegen der unzureichenden Gefährlichkeitsprognose vom Leipziger Strafsenat des BGH aufgehoben. (Seite 636)
BVerfG verhängt Missbrauchsgebühr über 500,– Euro gegen Rechtsanwalt, der die erfolglose Ablehnung einer Amtsrichterin wegen angeblicher Befangenheit rügte, weil diese seinen wiederholten Wünschen nach immer neuen Terminsverlegungen in eigener Sache nicht mehr nachkam. (Seite 641)
Europäisches Parlament, Straßburg, verankert die Verwendung der Symbole der EU in seiner Geschäftsordnung – Flagge, Hymne, Leitspruch „in Vielfalt geeint“. (Seite 642)
Vorratsdatenspeicherung / EuGH-Generalanwalt Yves Bot plädiert für die Abweisung der irischen Nichtigkeitsklage gegen die RL 2006/24/EG zur Vorratsdatenspeicherung. Er sieht die geeignete Rechtsgrundlage in der Gemeinschaftssäule der EU (Art. 95 EG-V, Binnenmarkt) und nicht wie Irland in der dritten Säule des Unionsvertrags (Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen, Titel VI EU-V). (Seite 644)
Vorratsdatenspeicherung / BVerfG – Zweiter Senat lehnt Anträge auf einstweilige Anordnung gegen das Gesetz zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung ab; mit dem Gesetz soll – auch – die RL 2006/24/EG, umgesetzt werden, die im Mittelpunkt des vorstehend genannten EuGH-Verfahrens steht. (Seite 656)
Vorratsdatenspeicherung / BVerfG – Erster Senat erweitert seine einstweilige Anordnung zur Telekommunikationsüberwachung (EuGRZ 2008, 257 ff.) im Hinblick auf Änderungen im Landesrecht von Bayern und Thüringen. (Seite 663)